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Andreas Zumach: Friedenskultur entwickeln - die zentrale Herausforderung für uns alle

Rede von Andreas Zumach beim Internationalen Bodensee-Friedensweg am 17.04.2017 in Friedrichshafen

Von Andreas Zumach

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer am 9. Bodensee-Friedensweg,

ich habe zum ersten Mal im Jahre 1973 an einem Ostermarsch teilgenommen. Es war das Jahr, in dem ich in meiner Geburtsstadt Köln meinen Kriegsdienst mit Waffen der Bundesrepublik Deutschland verweigerte. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Zeit vor und um Ostern in den vergangenen 44 Jahren derart bestimmt war von der Kriegslogik wie in diesem Jahr 2017- und immerhin war das Jahr 1973 der Höhepunkt des Kalten Krieges in Europa, der dann sechs Jahre später 1979 im sogenannten Nachrüstungs-Doppelbeschluss der NATO eskalierte, der wiederum der Auslöser für die bis heute größte, breiteste, nachhaltigste und wirkungsmächtigste Friedensbewegung Europas war. Das war in den 1980er Jahren, doch die Logik des Krieges, der Kriegspropaganda und der Kriegsvorbereitung findet heute nicht nur wie damals vor allem bei uns in Europa statt, sondern fast weltweit. Wir zählen im Moment 132 heiße Kriege oder sogenannte bewaffnete Auseinandersetzungen; die schlimmsten sind von den VorrednerInnen schon genannt worden, ich wiederhole die Konflikte in Syrien, im Irak, in Jemen, Israel, Palästina, Afghanistan, der Ukraine, um Nordkorea sowie der seit September 2001 inzwischen gegen Ziele und Menschen in über zehn Ländern geführte "Krieg gegen den Terrorismus". In diesem Krieg haben die USA vor wenigen Tagen die größte und vernichtungsstärkste konventionelle Bombe eingesetzt, die "Mutter aller Bomben", wie sie in verharmlosender und zugleich zutiefst obszöner Bezeichnung von zahlreichen Medien affirmativ und kritiklos genannt wurde. Diese obszöne Sprache erinnert mich an die Bezeichnung der Atombombe, die am 6. August 1945 auf die japanische Stadt Hiroshima abgeworfen wurde und damals den "Kosenamen" Little Boy erhielt.

Zeitgleich mit dem Einsatz der stärksten konventionellen Waffe gegen ein angebliches unterirdisches Tunnelsystem des "Islamischen Staates" in Afghanistan haben die USA übrigens in der Wüste von Neumexico die neue Version der B 61-Atombombe getestet, zunächst noch ohne Sprengkopf. Das ist die neue Atombombe, die ab 2018 im US-Atomwaffenstützpunkt Büchel in der Eifel stationiert werden soll und die zielgenauer, schneller und zerstörungssicherer als die bisherige Version ist - flexibler einsetzbar, sowohl auf sogenannten taktischen Kampfflugzeugen wie auf strategischen Bombern. Dieses verharmlosende, als Modernisierung bezeichnete Vorhaben stammt noch von der Obama-Administration und wird von der Bundesrepublik Deutschland, von Bundeskanzlerin Merkel und ihrem Außenminister Gabriel unterstützt. Falls dieses Aufrüstungsvorhaben tatsächlich umgesetzt werden sollte, wird das mit Sicherheit zu einem neuen atomaren Rüstungswettlauf mit Russland führen, möglicherweise zu einer sehr ähnlichen Situation wie 1979 mit dem sogenannten Doppelbeschluss. Auch Russland ist dabei, seine Atomwaffen zu "modernisieren".

Diese Kriegslogik herrscht fast weltweit, obwohl ja doch alle 193 UNO-Mitgliedstaaten in der Generalversammlung von 1998 den Aufruf der UNO-Organisation für Erziehung Kultur und Wissenschaft Unesco für eine Dekade der Kultur des Friedens unterschrieben haben - eine Dekade, die dann von 2001 bis 2010 stattgefunden hat. In diesem Beschluss der UNO-Generalversammlung wird eine Kultur des Friedens definiert als ein Satz oder ein Kanon von "Werten, Einstellungen und Verhaltensweisen, die soziales Miteinander und das Prinzip des Teilens wiederspiegeln und inspirieren sowie auf Gewaltfreiheit und soziale Gerechtigkeit aufbauen". Damals wurden acht Kernprinzipien für eine Kultur des Friedens definiert, die da heißen:

  • erstens Gewaltfreiheit, internationaler Frieden und Sicherheit;
  • zweitens Achtung aller seit 1948 im internationalen Konsens vereinbarten Menschenrechtsnormen;
  • drittens Verständnis, Toleranz und Solidarität;
  • viertens Gleichheit zwischen Frauen und Männern;
  • fünftens wirtschaftliche und soziale nachhaltige Entwicklung;
  • sechstens Demokratie und demokratische Partizipation;
  • siebtens freier Informations- und Wissensfluss und partizipative Kommunikation und - achtens, ganz wichtig, Erziehung zum Frieden.

Ich will im Folgenden fünf Dinge benennen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, die meiner Meinung nach wichtig sind, und wovon wir mehr brauchen, wenn wir in den nächsten Jahren eine Kultur des Friedens entwickeln oder stärken wollen:

Das Erste ist Beharrlichkeit und langer Atem. Die Tradition der Ostermärsche begann 1958 in Großbritannien mit Demonstrationen gegen die atomare Bewaffnung. Das ist jetzt 59 Jahre her und heute gibt es einen großen Erfolg und den sollten wir auch kennen und selbstbewusst feiern. Vor zwei Wochen haben in der UNO-Generalversammlung formale Verhandlungen über ein Abkommen zum vollständigen Verbot aller Atomwaffen begonnen. 138 der 193 UNO-Staaten sind zunächst mal an diesen Verhandlungen beteiligt, das ist ein riesiger Erfolg von Euch allen, von all denen, die in den letzten Jahrzehnten, manche vielleicht schon seit 40 Jahren, beharrlich für dieses Ziel gekämpft haben, durch Demonstrationen, durch Blockaden, durch symbolische Zerstörungsaktionen von Sprengköpfen - ich erinnere an die Gebrüder Daniel und Philipp Berrigan in den USA in den 1980er-Jahren. Dabei ist es natürlich mehr als nur ein Schönheitsfehler, dass die 28 Nato-Staaten und ihre überseeischen Verbündeten wie Australien, selbst Japan, das Hauptopfer der Atomwaffen, diese Verhandlungen bisher boykottieren.

Die deutsche Bundesregierung hat zwei absurde Begründungen für ihren Boykott, die erste Begründung lautet: Ein internationales Abkommen zum Verbot aller Atomwaffen würde den derzeit existierenden Vertrag zur Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen schwächen - also auf diese Logik muss man erst mal kommen! Und die zweite Begründung: Seit nun trotz allem massiven Druck und Drohungen der USA und auch anderer Nato-Staaten eine mehr als Zweitdrittel-Mehrheit der UNO-Staaten diese Verhandlungen beschlossen hat, sagt jetzt die Bundesregierung, da die fünf sogenannten offiziellen legitimen Atomwaffenmächte USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und China nicht mitmachen, sei das Ganze nur - jetzt zitiere ich den Sprecher von Sigmar Gabriel "eine gesinnungsethische Veranstaltung". Uns sollte klar sein, was tatsächlich hinter dieser verächtlichen Haltung steckt, und ich wünschte mir, dass alle, die über Atomwaffen in Deutschland reden, dies auch klar beim Namen nennen: Die deutschen politischen Eliten, zumindest in den beiden Großparteien CDU/CSU und SPD, halten nach wie vor seit 1969, als der Atomwaffensperrvertrag von Deutschland unterschrieben und 1972 ratifiziert wurde, die sogenannte "europäische Option" auf deutsche Mitverfügung über Atomwaffen offen. Man hat damals bei der Unterzeichnung und Ratifizierung des Atomwaffensperrvertrages einen schriftlichen Vorbehalt gemacht, eine Fußnote, in der steht, wenn es eines Tages zu einer europäischen Militär- oder Verteidigungsgemeinschaft kommen sollte und dann noch französische oder britische Atomwaffen existieren, dann wollen wir als Deutsche einen dritten Schlüssel, eine Mitverfügung. Um diese Option geht es, auch deswegen hält die Bundesregierung so beharrlich daran fest, das die Amerikaner ihre Atomwaffen in Deutschland nicht abziehen, obwohl es einen gegenseitigen Parlamentsbeschluss gibt, weil diese Atomwaffen der substanzielle Ausdruck der sogenannten atomaren Teilhabe sind und mit dazu beitragen, dass man möglicherweise eines Tages die Option auf eigene Atomwaffen im europäischen Rahmen erfüllt - das ist der Hintergrund für die deutsche Haltung, und das sollte man auch klar so benennen.

Ich will aber an dieser Stelle auch ein großes Lob an die österreichische Regierung aussprechen. Die, natürlich nicht aus eigener Initiative, sondern auf Druck der Friedensbewegung in Österreich, das wesentliche Land war in der UNO-Generalversammlung, das den Prozess hin zu Verhandlungen über Atomwaffenverbote mitinitiiert hat. Ich nenne dies, weil wir uns ja nicht nur an der schlimmen Weltlage erschrecken sollen, sondern auch einen Erfolg anerkennen und würdigen sollten. Einen zweiten kann ich aus meiner Geburtsstadt Köln vermelden, dort hat nach massiven Protesten der Friedensbewegung die Leitung der großen Kölner Messe in Köln Deutz entschieden, die üblicherweise alle vier Jahre stattfindende Militär- und Waffenmesse ISMU für das Jahr 2018 abzusagen. Auf der letzten Messe 2014 waren immerhin noch 110 Rüstungsunternehmen mit ihren todbringenden Produkten vertreten, darunter auch viele aus dieser Bodenseeregion. Ein dritter Erfolg, der bisher kaum bekannt ist: die Europäische Zentralbank, hat im Januar dieses Jahres den Antrag der EU-Kommission auf viele Milliarden Euro für EU- Rüstungsprojekte aufs Eis gelegt. Was ist die Begründung der Europäischen Zentralbank dafür? Wir müssen dieses Geld ja refinanzieren, doch ein immer größerer Teil der Anleger bei uns investiert ausdrücklich nur noch in Anlageprodukte, an denen keine Rüstungsunternehmen mehr beteiligt sind. Auch das ist ein Erfolg beharrlicher Arbeit der Friedensbewegung.

Das zweite Prinzip, das ich nennen will: Um eine Kultur des Friedens zu entwickeln, ist die grundsätzliche Bereitschaft zum Dialog erforderlich mit jedem oder jeder, die an einem Gewaltkonflikt beteiligt sind. Das klingt so selbstverständlich, ist es aber überhaupt nicht, denn tatsächlich erleben wir immer mehr Stigmatisierung von Personen oder Gruppen, mit denen angeblich nicht geredet werden kann. Ich kann mich erinnern, als 1991 der als links geltende deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger in einem großen Essay im "Spiegel" den damaligen irakischen Diktator Saddam Hussein als "Wiedergänger Adolf Hitlers" bezeichnet und ihn damit zum Abschuss freigegeben hat. Zur Zeit erleben wir ähnliches mit dem nordkoreanischen Präsidenten Kim Jong-un, auch ein Diktator, der in vielen Medien als "der Irre mit der Bombe" bezeichnet wird. Auch das ist kriegsvorbereitende Propaganda, die erleichtert, dass möglicherweise eines Tages Donald Trump zuschlägt. Ich will nur daran erinnern, auch mit seinem Vater Kim Jong-il ist geredet worden, vor 23 Jahren und zwar mit Erfolg. 1994 haben die damalige amerikanische Regierung von Präsident Bill Clinton und die nordkoreanische Regierung in Genf verhandelt und ein Abkommen ausgehandelt, unter dem Nordkorea vergünstigte Nahrungsmittellieferungen, vergünstigtes Öl und Leichtwasserreaktoren bekommen sollte, die nicht zu militärischen Zwecken nutzbar sind. Es gab einen Geheim-Zusatz zu dem Abkommen, in dem die Clinton Administration der nordkoreanischen Diktatur eine Nichtangriffsgarantie gegeben hat - das war für Pjöngjang das Wichtigste. Und es gab überhaupt kein Problem mehr mit Nordkorea, es gab überhaupt keine Versuche, irgendwelche militärischen Entwicklungen zu betreiben. Doch dann erklärte US-Präsident George Bush im Januar 2002 in seiner Rede an die Nation Nordkorea, Irak und Iran zur "Achse des Bösen auf dieser Welt" und kündigte militärische Präventivschläge gegen diese Länder an, inklusive des Einsatzes atomarer Waffen. Das wurde in Pjöngjang aufgenommen als Aufkündigung der Nichtangriffsgarantie - das kann man, glaube ich, nachvollziehen, und seitdem haben wir wieder das Problem mit dem militärischen Atomprogramm Nordkoreas. Wir müssen zurück an den Ansatz von 1994, wenn es eine Deeskalation und vielleicht auch dauerhafte Überwindung des Problems Nordkorea geben soll.

Die grundsätzliche Dialogbereitschaft gilt auch mit Blick auf den sogenannten Islamischen Staat. Auch wenn sich viele, ich schließe mich ein, im Moment noch nicht vorstellen können, dass der Islamische Staat selber irgendeinen Anreiz hätte zu verhandeln, weil im Unterschied zu anderen Organisationen der letzten 70 Jahre, die als Terroristen bezeichnet wurden - zum Beispiel die PLO von Yassir Arafat - der IS ja keine Forderung hat an irgendeine Adresse. Er hat Fakten mit der Gründung seines Kalifats geschaffen, das heißt aber nicht, dass nicht versucht werden sollte, auch mit dem IS zu reden. Denn sicher ist eines, der sogenannte Krieg gegen den Terrorismus ist restlos gescheitert und er ist kontraproduktiv, er verschärft und verlängert das Problem immer wieder aufs Neue.

Das dritte Grundprinzip heißt, einen klaren Kopf zu bewahren. Ich weiß, das wird immer schwieriger in einer Zeit, wo wir immer mehr Medienkanäle haben, wo wir einen amerikanischen Präsidenten haben, der die Lüge zum Prinzip seiner öffentlichen Kommunikation erklärt hat. Trump hat in den ersten drei Amtsmonaten mehr und schlimmer und öfters gelogen als seine 12 Amtsvorgänger seit 1945, und zu diesen 12 Amtsvorgängern gehörte immerhin Georg W. Bush mit seiner Massenvernichtungslüge, die zum Irakkrieg führte, Bill Clinton mit seiner Oralsexlüge, Richard Nixon mit der Watergate-Lüge und Lyndon B. Johnson 1964 mit der Lüge, die Nordvietnamesen hätten die Amerikaner im Golf von Tonking angegriffen, was dann der Vorwand für den Beginn es Vietnamkriegs war. In solchen Zeiten, wo wir auf der politischen Ebene diese Form von Falschbehauptungen haben, ist es natürlich schwieriger auch für uns, zu entscheiden, was ist wahr ist und was nicht. Ich nehme aktuell den Vorfall vom 4. April 2017, wo in der syrischen Stadt Chan Schaichun 87 Menschen durch Giftgas getötet und weitere 200 verletzt worden sind. Das ist alles, was bisher an gesicherten Fakten vorliegt. Alles andere sind Behauptungen. Für die Behauptung aller westlichen Staaten, zumindest der NATO und der EU, dass es hier einen Giftgasangriff der syrischen Luftwaffe gegeben habe, gibt es sehr viele Indizien, aber Indizien sind noch keine Beweise. Diese Version, die nicht nur von der russischen Regierung, sondern auch von ehemaligen Geheimdienstexperten in der USA verbreitet wird, dass nämlich möglicherweise eine konventionelle Bombe der syrischen Luftstreitkräfte ein Giftgasdepot des IS oder des Al Qaida-Ablegers Al Nusra-Front getroffen hat, ist ebenso nach wie vor denkbar, und bevor nicht eine wirklich unabhängige Untersuchung der UNO- Organisation für das Verbot von Chemiewaffen stattgefunden hat, kann man seriöserweise die Lage nur darstellen, dass noch nichts gesichert ist. Viele, auch in der Friedensbewegung und in den einschlägigen Internetforen, haben in den letzten zwei Wochen die Frage gestellt oder argumentiert: Wieso sollte Diktator Assad zum jetzigen Zeitpunkt Giftgaseinsätze gegen die eigene Bevölkerung befehlen, wo er doch nach der Rückeroberung Aleppos relativ gut dasteht, das wäre doch unsinnig. Gut, die Frage nach dem cui bono, wem nützt ein bestimmter Vorfall, ist immer eine interessante Frage, aber ich warne davor, die Antwort auf diese Frage ist kein zwingender Beweis dafür, dass der, dem es nicht nützt, nicht doch der Täter war. Ich will nur davor warnen, dass wir nicht unsererseits Behauptungen aufstellen und verbreiten, die wir nicht beweisen können.

Und wir sind ja alle im Zeitalter von Smartphone und anderen Kommunikationsformen nicht mehr nur KonsumentInnen von Nachrichten, von Behauptungen, von Falschbehauptungen, sondern wir sind zunehmend auch ProduzentIn und VerbreiterIn, damit vermischen sich die Rollen, und ich kann nur dringend dazu auffordern, uns selber im journalistischen Beruf, aber auch alle anderen, geht vorsichtig mit Behauptungen um, die ihr auf welchen Kanälen auch immer empfangt. Gebt euch jeweils drei Stunden Zeit für die Frage, was ist die Quelle einer Nachricht, gibt es vielleicht eine zweite oder gar eine dritte unabhängige Quelle, also das Grundprinzip seriösen Journalismus, das sollten wir alle praktizieren, bevor wir mit einem Klick über Facebook, Twitter oder andere Kanäle Dinge weiterverbreiten, möglicherweise noch mit dem I like it-Klick, und dann haben wir 500 oder 5000 Leute, die das auch toll finden - dann werden Dinge zur Wahrheit, die möglicherweise nur Lüge sind.

Das vierte Prinzip, das wichtig ist auf dem Weg zu einer Kultur des Friedens, ist die eigene Glaubwürdigkeit. Ich würde gerne mit einer kleinen Umfrage starten und euch fragen, wer meint, der amerikanische Krieg gegen den Irak war 2003 völkerrechtswidrig? OK, wer ist nicht dieser Meinung, ich sehe niemanden. Wer meint, der Nato-Luftkrieg von 1999 gegen Serbien, der sogenannte Kosovo-Krieg, war völkerrechtswidrig? Wer ist nicht dieser Meinung? Auch niemand. Und wer meint, die Annexion der Ukraine im März 2014 durch Russland war völkerrechtswidrig? Wer ist nicht der Meinung? Aha, doch einige Wenige. Das ist genau der Glaubwürdigkeitspunkt, den ich meine. Natürlich ist unsere Hauptverantwortung als Bürgerin und Bürger der westlichen Staaten, ob wir jetzt der NATO angehören oder nicht wie die Schweiz, die Politik unserer eigenen Regierung zu kritisieren und zu bekämpfen. Und das haben viele von uns in den letzten 25, 30 Jahren seit dem Ende des Kalten Krieges auch getan. Die schärfsten Kritiker der völkerrechtswidrigen Kriege des Westen stehen hier auf der Bühne, aber das kann doch nicht heißen, dass wir nicht den Bruch, den Verstoß gegen universell gültige Prinzipien, die mit der UNO-Charta 1945 und mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 universell verankert wurden, dann nicht kritisieren, wenn sie durch andere passieren, in dem Fall durch Russland. Wenn wir das machen, dann schwächen wir diese wichtigen Normen, und ich glaube, wir haben nichts anderes, an dem wir wirklich festhalten können für alle Bereiche der Außenpolitik wie auch der Innenpolitik, als diese Normen der Jahre 1945-48, die vor dem Hintergrund des Zivilisationsbruchs des Holocausts und des von Deutschland ausgelösten Zweiten Weltkriegs verankert wurden. Und deswegen ist mir so wichtig, dass wir bitte alle in der Friedensbewegung hier niemals einäugig sind.

Fünftens und letztens: Wir brauchen auf dem Weg zu einer Kultur des Friedens sehr viel mehr Widerständigkeit und auch eine Beendigung unserer eigenen Beteiligung an der Kultur des Krieges. Was meine ich damit? Eine Kultur des Friedens heißt nicht Frieden, Freude, Eierkuchen, bei aller Dialogbereitschaft, die vorhin ja eingefordert wurde, auch mit Rüstungsunternehmen - ich bin da ein bisschen skeptischer, aber das sei dahingestellt -, die Kultur des Friedens wird sich nur durchsetzen lassen, wenn wir wieder mehr innergesellschaftlichen Streit bekommen, so wie wir das in den 1980iger-Jahren hatten. In diesen Jahren ist zunächst mal durch die größten Demonstrationen, die in Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges stattgefunden haben, in Bonn, in Amsterdam, aber auch in Bern der bis dahin geltende unhinterfragte sicherheitspolitische Konsens aufgebrochen wurden - das war die Wirkung der großen Zahl, der 300.000 Menschen in Bonn, derjenigen in Amsterdam, in London und der 30.000, die damals in Bern demonstrierten. Aber in den folgenden Jahren war auch mehr notwendig, da haben sich Tausende vor die Raketenstandorte der Pershing und der Cruise Missiles gesetzt und haben blockiert. Es gab alleine in Deutschland mehrere tausend Verfahren wegen Nötigung, die dann irgendwann durch höchstrichterlichen Spruch eingestellt worden sind.

So etwas brauchen wir auch heute wieder, denn wir leben seit vielen Jahren in einer doch sehr paradoxen Situation. Wir haben, um in Deutschland zu bleiben, Umfragewerte, die sich seit zehn Jahren mit bis zu 80 % der Bevölkerung gegen den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan äußern. Gleichzeitig beschließt die politische Klasse in Form des Parlamentes in Berlin mit 80-prozentiger Mehrheit, diesen Einsatz und seine Verlängerung und seine Eskalation. Das heißt, unsere ganzen Proteste und auch die großartigen Ostermärsche dieses Jahr sind nicht sehr wirkungsmächtig, das müssen wir uns ganz ehrlich eingestehen. Und den Streit kriegen wir erst wieder, wenn wir mehr provozieren. Provozieren heißt z.B., vor die Tore der Kasernen und auch sonst zu gehen, mit dem Satz von Tucholsky, "Soldaten sind Mörder". Auch die Soldaten, die das vielleicht nicht machen wollen, sich zu potenziellen Mördern auszubilden, die dazu ausgerichtet werden, Interventionskriege zu führen. Nach meiner unmaßgeblichen Meinung ist die schlimmste und infamste Kriegstreiberin, nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern in ganz Europa, eine Frau, es ist Ursula von der Leyen, die deutsche Militärministerin, die auf eine infame Art und Weise seit Jahren zur Militarisierung der Gesellschaft beiträgt. Ich will zwei Beispiele nennen: Sie setzt sich in eine ZDF-Talkshow mit strahlendem Lächeln im Gesicht und sagt: "Es gibt einen wunderbaren Satz von Bertolt Brecht, der heißt, stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin". Einige erinnern sich, dass dies der Slogan der Friedensbewegung in den 1980er-Jahren war. Und dann sagt Ursula von der Leyen, "aber dieser Satz geht weiter, er heißt nämlich dann, wenn ihr nicht in den Krieg geht mit der Bundeswehr, dann kommt der Krieg irgendwann zu euch".

Das war mindestens zweimal gelogen, erstens ist dieser Satz nicht von Bertolt Brecht, sondern von dem amerikanischen Schriftsteller Carl August Sandburg aus dem Jahre 1936, und zweitens hat sie diesen zweiten Satz dazu erfunden, den gibt es überhaupt nicht in dem Gedicht. Und kaum einer hat es gemerkt. Wer letzten Sonntag in der ARD die abendliche Talkshow mit Anne Will gesehen hat über Syrien und Giftgas, und erlebt hat, wie Ursula von der Leyen den Nahostexperten Michael Lüders, der lediglich kritische Fragen zur offiziellen Version des Westens über den Giftgasvorfall gestellt hat, sofort als Unterstützer und Sympathisant von Assad denunziert hat - das meine ich mit infam. Claudia Haydt hat darauf hingewiesen, dass von der Leyen vor einigen Tagen gesagt hat, sie habe ein gigantisches Personalproblem. Ja, das ist im Moment noch der Fall, aber mich kann das nicht beruhigen, denn die Reaktion auf dieses gigantische Personalproblem ist ja eine der infamsten Werbekampagnen für mehr Soldaten, die es in Deutschland jemals gegeben hat seit dem Dritten Reich. Ich weiß genau, wovon ich rede, und ich vermeide ansonsten Vergleiche mit der Nazizeit, aber die Ikonographie, die Bildersprache der Plakate, die überall in Deutschland auf Bahnhöfen, auf Schautafeln, auf Litfaßsäulen hängen mit dem infamen Satz "Was wirklich zählt" mit arischen Männern in Kriegspose mit oder ohne Waffen, oder wir haben Ärzte in Uniform, die angeworben werden, und alles andere, was Menschen in unserer Gesellschaft machen, zehntausend junger Menschen, die Einsätze im Freiwilligen Sozialen Jahr machen, die jährlich rausgehen und ein, zwei Jahre ihres Lebens Freiwilligendienste machen, die alte Menschen pflegen, was auch immer - all das zählt alles überhaupt nicht. Was wirklich zählt, ist der Dienst bei der Bundeswehr.

Wir haben zweitens eine massive Kampagne an den Schulen, wir haben drittens die Rekrutierung von jungen Männern und auch Frauen unter 18 Jahren. Ein klarer Bruch der UNO-Kinderrechtskonvention durch die deutsche Bundesregierung. Und ich kann nur hoffen und dafür plädieren, mit allen Formen des gewaltfreien Widerstandes dagegen vorzugehen, inklusive diese Plakate zu übermalen oder mit den sehr phantasievollen Gegenplakaten zu überkleben, die die Deutsche Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) in Deutschland hergestellt hat. Das ist dann möglicherweise Sachbeschädigung, aber diese Sachbeschädigung und die notwendigen Konsequenzen sollten wir in Kauf nehmen.

Ein letzter Punkt: Ich habe eben über die Beendigung unserer eigenen Beteiligung an der Kriegslogik gesprochen. Vor dreißig Jahren hat hier in der Nähe in Leutkirch ein Apotheker einen Teil seiner Steuern einbehalten, nämlich den Anteil, der damals der Militäranteil am deutschen Bundeshaushalt war, mit der Begründung, ich will den Krieg und die Waffen nicht weiter finanzieren - das hat sich bisher ein bisschen ausgeweitet. Es gibt die Friedenssteuerinitiative in Deutschland, in Österreich gibt es ähnliche Vorstöße, in der Schweiz auch, mit dem Ansatz, den Anteil, den der Militärhaushalt an den jeweiligen nationalen Haushalten hat, nicht an den Staat zu geben, sondern ihn auf ein Sperrkonto zu legen oder auch für andere friedliche Zwecken zu geben. Dies könnten sehr viel mehr von uns machen, als das bis heute der Fall ist. Auch sehr viel mehr von denen, die auf diesem Platz stehen. Ich weiß, viele sind abhängig Beschäftigte und können nicht so einfach darüber verfügen, wie ihre Steuern bezahlt werden, aber viele, viele die es könnten, haben von dieser Möglichkeit der Widerständigkeit und des sich Rausziehens aus dem System der Kriegslogik bisher noch keinen Gebrauch gemacht. Auch dazu möchte ich uns alle auffordern.

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Veröffentlicht am

07. Juni 2017

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