Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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“Wir fordern den sofortigen Abschiebestopp nach Afghanistan!”

Etwa 100 Menschen nahmen am 22. Februar 2017 anlässlich der dritten Sammelabschiebung nach Afghanistan an einer Protestkundgebung in Gammertingen teil. Bei der von "Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V." organisierten Veranstaltung protestierten sie gegen eine unmenschliche Politik, mit der Schutzsuchende in ein Land abgeschoben werden, in dem Krieg, Terror und Chaos herrschen und brachten ihre Solidarität mit den von Zwangsrückführungen Betroffenen zum Ausdruck. Bei der Protestkundgebung hielt Michael Schmid eine Rede, die wir nachfolgend dokumentieren. 

"Wir fordern den sofortigen Abschiebestopp nach Afghanistan!"

Von Michael Schmid

Herzlich Willkommen zu unserer heutigen Protestkundgebung gegen Abschiebungen nach Afghanistan. Besonders freue ich mich auch über die vielen afghanischen Geflüchteten, die heute Abend hier sind.

Der Grund, warum wir uns heute hier versammeln, ist ein trauriger. Denn heute findet die dritte Sammelabschiebung nach Afghanistan statt. Wahrscheinlich startet der Abschiebeflieger in diesen Stunden von München aus nach Kabul.

Abschiebungen nach Afghanistan sind ein absolut empörender Vorgang. Denn es gibt nur wenige Länder auf dieser Erde die als ähnlich gefährlich, gewalttätig, zerrüttet und krisengeschüttelt gelten wie dieses Land am Hindukusch.

Um zu wissen, wie unsicher es in Afghanistan zugeht, braucht man z.B. nur den jüngsten Bericht des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) zur Situation in Afghanistan vom 22. Dezember 2016 heranzuziehen, den dieser auf Anforderung des Bundesinnenministers erstellt hat. Hier wird ein desaströses Bild der humanitären Situation in Afghanistan gezeichnet. Die Sicherheitslage am Hindukusch habe sich gegenüber dem letzten Bericht vom April 2016 nochmals dramatisch verschlechtert. Insbesondere eine pauschale Einschätzung bestimmter Regionen Afghanistans als "sichere und zumutbare interne Schutzalternative" sei "nicht möglich". Insgesamt sind laut UN-Berichten im vergangenen Jahr rund 11.500 Unbeteiligte getötet oder verletzt worden - drei Prozent mehr als 2015. Afghanistan ist auch und vor allem für abgeschobene Geflüchtete nirgendwo sicher! Und bereits jetzt gibt es dort mehr als 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge, die unzureichend oder gar nicht versorgt und geschützt werden können!

Trotzdem ist die Bundesregierung eisern entschlossen, Sammelabschiebungen dorthin vorzunehmen. Im Dezember wurde unter Federführung des Bundesinnenministers damit begonnen. Entgegen den Erkenntnissen der UN und zahlreicher anderer Afghanistan-Experten behauptet die Bundesregierung unerbittlich, es gebe in Afghanistan durchaus Gebiete mit einer Sicherheitslage, die Rückführungen von abgelehnten Asylbewerbern erlaube. Wo diese allerdings sein sollen, darauf bleibt sie die Antwort schuldig.

Nein: Abschiebungen nach Afghanistan sind skrupellos und gefährden Menschenleben! Deshalb fordern wir den sofortigen Abschiebestopp nach Afghanistan! Ginge es nach uns, dann dürfte der Charterflug heute gar nicht starten!

Innenminister de Mazière, der den gnadenlosen Hardliner in Sachen Abschiebungen ins Bürgerkriegsland Afghanistan gibt, hat vielerlei Sprüche auf Lager, um seine unmenschliche Abschiebepraxis zu rechtfertigen. Einen besonders dummen Spruch hat er gerade wieder am Montag in den ARD-"Tagesthemen" abgegeben, als er sagte:

"Normale zivile Bevölkerung (in Afghanistan) ist zwar Opfer, aber ist nicht Ziel von Anschlägen der Taliban. Und das ist ein großer Unterschied."

Da können die Menschen, die in Afghanistan sterben, aber froh sein. Sie sind ja gar nicht als Ziel gemeint! Eine schon unglaublich menschenverachtende Aussage. Abgesehen davon stimmt sie auch inhaltlich überhaupt nicht. Natürlich sind Zivilisten ebenfalls Ziele von Mordanschlägen und Entführungen. Dazu könnten die anwesenden afghanischen Geflüchteten sehr viel erzählen.

Vielleicht hängen solche dummdreisten Bemerkungen von de Mazière auch mit dem Druck zusammen, unter den der Innenminister mit seiner unmenschlichen Abschreckungs- und Abschiebepolitik zunehmend kommt.

Denn Menschenrechtsorganisationen, viele andere Organisationen und Einzelpersonen aus der Zivilgesellschaft protestieren gegen diese Abschiebungen. Selbst die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung hat einen sofortigen Stopp der Abschiebungen nach Afghanistan gefordert.

Dazu kommt, dass nicht mehr alle Bundesländer bei den Abschiebungen nach Afghanistan mitmachen. Es ist zwar Sache des Bundes, die Sicherheitslage in anderen Staaten einzuschätzen. Aber die Länder sind für die Abschiebungen zuständig. Und nun weigern sich mehrere Landesregierungen, abgelehnte Asylbewerber zwangsweise zurück nach Afghanistan zu bringen.

An diesen Ländern übt der Innenminister scharfe Kritik und zeigt sich ganz enttäuscht über deren Verhalten. Andererseits darf er sich freuen, denn die Bundesregierung erhält ausgerechnet aus Baden-Württemberg Rückendeckung. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann bekräftigte, dass der Bund für die Einschätzung der Sicherheitslage in Afghanistan zuständig sei. Und sagt: "Ob in ein Land abgeschoben wird oder nicht, bestimmt er. Er hat die Instrumente, die Kompetenz und die Verantwortung und nicht die Bundesländer." Kretschmann hat auch mehrfach erklärt, Abschiebungen nach Afghanistan müssten grundsätzlich möglich sein. Einfach unglaublich!

Nein, wir fordern, dass die Landesregierung von Baden-Württemberg dieser zynischen, menschenverachtenden und inhumanen Asylpolitik mit einem sofortigen Stopp der Abschiebungen nach Afghanistan ein entschiedenes Zeichen entgegensetzt. Winfried Kretschmann, handele endlich wie ein grüner Ministerpräsident und nicht wie ein Machtpolitiker, der unbedingt mit der CDU regieren möchte!

In den vergangenen zwei Jahren haben wir eine bisher noch nie dagewesene Verschärfung der Asyl- und Aufenthaltsgesetze erlebt, die nicht nur afghanische Geflüchtete betrifft, sondern praktisch Geflüchtete aus allen Ländern.

Dennoch stellt sich die Frage, warum es gerade Afghanistan ist, das nun so sehr zur Zielscheibe für knallhartes Durchgreifen mit Abschiebungen geworden ist?

Wir haben 2017 Bundestagswahlen und die Bundesregierung möchte Durchsetzungsfähigkeit beweisen angesichts des sich ausbreitenden Rechtspopulismus. Abschreckung, Abschiebungen und Abschottung eignen sich dafür aus ihrer Sicht offensichtlich besonders gut. Für den Innenminister macht es schon die pure Quantität abgelehnter afghanischer Schutzsuchender "reizvoll", gerade hier Härte zu demonstrieren.

Dazu kommt aber weiter, dass es überhaupt nicht ins schöngeredete deutsche Bild vom erfolgreichen langjährigen Afghanistan-Einsatz passt, wenn nun derartig viele Menschen von dort hierzulande auftauchen und um Schutz nachsuchen. Entsprechend machen deutsche Politiker wie Innenminister de Mazière Stimmung mit populistischen Slogans wie: Afghanistan habe genug Hilfe bekommen und müsse jetzt allein klar kommen. Dass das aber nicht klappt, hängt damit zusammen, dass Afghanistan seit Jahrzehnten Schauplatz globaler Stellvertreter-Kriege ist, welche die Möglichkeiten des Landes zerstört haben, sich selbst zu helfen. Doch wer von den Befürwortern des "Krieg gegen den Terror" und dem Bundeswehr-Einsatz am Hindukusch möchte das desaströse Scheitern schon eingestehen?

Der Journalist Christian Jacob macht diese Zusammenhänge in einem Kommentar in der taz vom 26.1.17 deutlich. Ich zitiere: "Das Signal an die Afghanen soll sein: Ihr habt hier keine Perspektive. Genau deshalb dürfte ihnen auch seit Langem der Zugang zu den Integrationskursen verweigert werden. Der Grund für die Härte, darauf deuten Äußerungen der Bundesregierung hin, ist in der Außenpolitik zu suchen. Der vor 15 Jahren begonnene Bundeswehreinsatz in Afghanistan verlief desaströs. Er soll rund 3,6 Milliarden Euro gekostet haben, 41 deutsche Soldaten und Polizisten wurden getötet - und die Lage in Afghanistan ist heute desolater denn je. Eine schlechtere Empfehlung für weitere Kriegseinsätze gibt es kaum - es sei denn, es gelingt, das Bild des Einsatzes nachträglich zu verbessern.

Genau dazu sollen die Abschiebungen offenbar dienen: Je mehr Abschiebeflüge in Kabul landen, desto leichter kann behauptet werden, dort sei es sicher, sonst würde schließlich nicht abgeschoben werden. Mit diesem Zirkelschluss sollen die Abschiebungen das Scheitern der Bundeswehr kaschieren. Dafür bezahlen müssen die Flüchtlinge: Was in Afghanistan aus ihnen werden soll, weiß niemand."

Meine lieben afghanischen Freunde, die ihr in unserer Mitte Schutz vor Krieg und Terror gesucht habt, ich schäme mich sehr für eine solche Politik, die so schäbig mit Menschen umgeht. Es tut mir sehr leid, was euch auch hier angetan wird und das nach all dem unvorstellbaren Leid, das ihr in Afghanistan, im Iran und auf eurem Fluchtweg schon erlebt habt. Und jetzt ist es nicht einmal sicher, ob ihr in Deutschland bleiben dürft.

Eure Asylverfahren sind im Moment noch nicht abgeschlossen. Aber alle jene von euch - zumindest hier aus Gammertingen -, die ihr bereits einen Bescheid des BAMF erhalten habt, habt eine Ablehnung eures Asylgesuchs erhalten. Wir unterstützen euch aber dabei, dagegen zu klagen. Solange über diese Klage nicht entschieden ist, müsst ihr auch keine Abschiebung befürchten. Und auch danach lassen sich selbst bei einem negativen Ausgang noch einige Möglichkeiten finden, um hier zu bleiben.

Aber ich weiß, dass natürlich jeder Bescheid mit einer Ablehnung Ängste bei allen anderen von euch auslösen. Und jede Sammelabschiebung, die durchgeführt wird, ebenfalls. Denn für alle von euch wäre es furchtbar, wenn ihr wieder zurück nach Afghanistan müsstet. Jedenfalls solange sich dort nicht Grundlegendes geändert hat.

Und bitte, lasst euch aus Angst vor Abschiebung nicht zu einer "freiwilligen" Rückreise drängen. Die Bundesregierung bietet mit ihrem neuen "Starthilfe Plus"-Programm Geld für alle, die Asylanträge und Klagen gegen Ablehnungen zurücknehmen und in ihre Heimatländern zurückkehren - ein skandalöser Ausverkauf der Grundrechte!

Dass es so viele ablehnende Bescheide gibt, ist natürlich kein Zufall. Denn die abnehmende Schutzquote hängt damit zusammen, dass die Bundesregierung das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) unter Druck setzt, möglichst viele Asylanträge von Afghaninnen und Afghanen abzulehnen. Das ist natürlich ein Skandal! Doch trotz der Abnahme hat die bereinigte Schutzquote für Afghan*innen in Deutschland im Jahr 2016 noch rund 60 Prozent betragen. Es besteht also noch Grund zur Hoffnung.

Meine lieben afghanischen Freunde, ich denke, dass ich im Namen aller hier Anwesenden sagen kann: wir stehen an eurer Seite und werden alles in unserer Macht Stehende tun, um euch zu schützen.

Wir sind solidarisch mit euch, indem wir die Umstände eurer Verfolgung und Flucht und eure persönliche Situation öffentlich machen, ebenso die aktuelle Situation in Afghanistan. Wir machen gemeinsam mit euch für alle verständlich, dass eure Abschiebung gegen die Menschenrechte verstößt. Und wir tragen unsere Empörung über diese unmenschliche Politik auf die Straße, so wie heute hier in Gammertingen und an vielen anderen Orten.

Wir fordern:

  • Sofortiger Abschiebestopp nach Afghanistan!
  • Faire und unvoreingenommene Asylverfahren für alle - unabhängig vom Herkunftsland!
  • Ausverkauf der Grundrechte stoppen - "Starthilfe Plus" abschaffen!
  • Baden-Württemberg muss sich der Länder-Initiative für einen Abschiebestopp nach Afghanistan anschließen!
  • Keine Waffenexporte und keine militärischen Interventionen!
  • Fluchtursachen bekämpfen und nicht geflüchtete Menschen!

Aktiv werden

Der Arzt Ernst-Ludwig Iskenius, der sehr lange mit traumatisierten geflüchteten Menschen gearbeitet hat, hat sehr gut auf den Punkt gebracht, was jetzt erforderlich ist. Er schreibt: "Angesichts des ungeheuerlichen Unrechts, das mit diesen Sammelabschiebungen geschieht, sollten wir unsere Stimme der Vernunft solange weiter verbreiten, solange Protest in unserem Umfeld organisieren, sensibilisieren und auch solange den Widerstand weiter organisieren, bis wir einen Abschiebestopp als Zivilgesellschaft durchgesetzt haben. Wir haben die Chance, dieses Unrecht zu stoppen, wir haben auch im Interesse der Erhaltung unserer offenen Gesellschaft und im Interesse der Bewahrung unserer menschlichen Willkommenseinstellung keine andere Wahl. Werde jeder auf seine Weise aktiv."

Und wenn wir jetzt auch den Fokus aus gutem Grund auf afghanische Geflüchtete gerichtet haben, bitte nicht vergessen, dass es viele andere Menschen aus vielen Ländern gibt, die eine sichere Bleibe brauchen und vor allem "das Recht, Rechte zu haben". Auch für sie sollten wir uns engagieren, so gut es uns möglich ist.

Vielen Dank für die Teilnahme heute Abend.


Weblinks zu Protesten gegen Abschiebungen nach Afghanistan am 22.02.2107:

Veröffentlicht am

23. Februar 2017

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