Der Aufrüstungswahn geht weiter!Von Michael Schmid (aus: Lebenshaus Schwäbische Alb, Rundbrief Nr. 125, Juni 2025 Der gesamte Rundbrief Nr. 124 kann hier heruntergeladen werden: PDF-Datei , 700 KB. Den gedruckten Rundbrief schicken wir Ihnen/Dir gerne kostenlos zu. Bitte einfach per Mail abonnieren ) Liebe Freundinnen und Freunde!
Seit der im Februar 2022 von Bundeskanzler Scholz (SPD) ausgerufenen "Zeitenwende" erleben wir eine bis dahin völlig unvorstellbare eskalierende Militarisierung von Politik, Staat und Gesellschaft. Begonnen wurde zunächst mit einem gigantischen Aufrüstungsprogramm für die Bundeswehr. Mit einem Anstieg der Militärausgaben um 28 Prozent innerhalb eines Jahres "eroberte" Deutschland 2024 Platz vier in der weltweiten Rangordnung der Länder mit den höchsten Militärausgaben. Dabei betrugen die Budgets alleine der europäischen NATO-Staaten rund das Vierfache der russischen Militärausgaben. Kaum war die vorgezogene Bundestagswahl vorbei, wurde im März von den zukünftigen Regierungsparteien CDU und SPD mit Unterstützung der Grünen ein gigantisches "Finanzpaket" verabschiedet. Gleichzeitig erhielt die neue Bundesregierung eine Art Blankoscheck, indem faktisch die "Schuldenbremse" für Militärausgaben, Zivilschutz, Geheimdienste und Cybersicherheit aufgehoben wurde. Das bedeutet, dass für Militärausgaben weitere hunderte von Milliarden Euro Schulden gemacht werden dürfen und sollen. Inzwischen hat Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) erklärt, die Bundeswehr solle "zur konventionell stärksten Armee Europas" werden. Außenminister Johann Wadephul (CDU) hatte sich ausdrücklich zu dem in Planung befindlichen neuen NATO-Ziel bekannt, künftig fünf statt zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für militärische Zwecke auszugeben. Fünf Prozent der Wirtschaftsleistung, das wären dann nahezu die Hälfte der Mittel des gesamten Bundeshaushalts. Einfach Wahnsinn! Zu diesen gigantischen Aufrüstungsplänen kommt der brandgefährliche Beschluss der vorherigen Bundesregierung zur Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen ab 2026 in Deutschland hinzu, ebenso die milliardenschweren Lieferungen von Rüstungsgütern, gerade auch an Kriegsparteien wie Israel und die Ukraine. Diese insgesamt gefährliche Entwicklung und der Rüstungswahn werden unterfüttert mit erschreckender Dauerpropaganda und Angstpolitik, an der Regierungsvertreter, Wissenschaftler und Medien maßgeblich beteiligt sind. Sie phantasieren einen bald bevorstehenden Angriff Russlands auf die NATO bzw. auf Deutschland herbei. Wer diese Behauptung infrage stellt, wer für Diplomatie und Abrüstung eintritt, wird schnell als "Putin-Versteher" diskriminiert oder der Verbreitung russischer Propaganda bezichtigt. Das Feindbild Russland sitzt tief und soll in der deutschen Politik offenbar noch fester verankert werden. Wie hat doch Außenminister Wadepuhl postuliert: "Russland wird immer ein Feind für uns bleiben". Offensichtlich sollen jegliche Reste der von Willy Brandt und Egon Bahr entworfenen Entspannungspolitik endgültig ausgemerzt werden. Unwiderruflich vorbei soll sein, was Brandt in seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969, wegweisend für die damalige Zeit und auch für die Zukunft in Europa, so ausdrückte: "Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein." Statt Verständigung und Abrüstung, kluger Krisenprävention und gewaltfreier Konfliktlösungen, ist zwischenzeitlich Feindbildaufbau, Aggression und Aufrüstung zum Kern der Politik geworden. Eine fürchterliche Sackgasse. Friedens- und Sozialstaatsgebot in Mitleidenschaft gezogenWerden die irrwitzigen Aufrüstungspläne umgesetzt und Deutschland und die europäischen NATO-Staaten weiter auf Hochrüstung programmiert, können wir jede Sozial- und Klimapolitik, jede globale Armutsbekämpfung dauerhaft vergessen. Ich gestehe, diese Entwicklung der vergangenen Jahre in eine "Militärrepublik Deutschland" macht mich fassungslos. Dabei ist es nicht nur das Friedensgebot des Grundgesetzes, das mehr und mehr auf der Strecke bleibt. Auch das wichtige Gebot der Sozialstaatlichkeit (GG Art. 20 Abs. 1) wird stark beschädigt. Der Publizist und Jurist Rolf Gössner stellt treffend fest: "Durch die milliardenschweren Aufrüstungsmaßnahmen und die exzessiven Rüstungsexporte, die vor allem der Rüstungsindustrie massive Gewinne und eine regelrechte Goldgräberstimmung bescheren, wird das existentiell wichtige Gebot der Sozialstaatlichkeit hierzulande erheblich in Mitleidenschaft gezogen: zu Lasten öffentlicher Daseinsvorsorge, zu Lasten bereits notleidender sozialer Belange, wie insbesondere Bildung und Gesundheit, sowie einer längst fälligen Erneuerung maroder Infrastrukturen." Der Militarisierungs- und Aufrüstungskurs wird also zu weiterem Sozialabbau führen. Soziale Sicherheit und sozialer Frieden wird aufs Spiel gesetzt, die ohnehin zunehmende soziale Ungleichheit und Armut werden weiter befördert und verschärft. Fortschreitende ErderhitzungDas ungebremste Fortschreiten in die katastrophale Klimaerhitzung setzt sich ebenfalls fort. In einer aktuellen Studie zeigt die Energie Watch Group, dass wir schon um 2032 mit dem Überschreiten des in Paris 2015 völkerrechtlich festgeschriebenen verbindlichen oberen Zieles von 2°C rechnen müssen.Zur Studie: https://energywatchgroup.org/wp/wp-content/uploads/2025/05/Studie-Erwarmung.pdf . Obwohl in Deutschland wortreich beschworen wird, das 1,5° C Ziel einhalten zu wollen, ist es eben schon dauerhaft überschritten. Trotzdem ist auch von der neuen Regierung unter Kanzler Merz keine Beschleunigung der Klimaschutzmaßnahmen vorgesehen. In seiner Regierungserklärung wird von Merz zum Klimaschutz lediglich betont, an den bisherigen Klimazielen festhalten zu wollen. Doch diese sind völlig unzulänglich und führen wohl zu 3°C Aufheizung bis 2050. Das ist komplett unverantwortlich! So werden die durch die Bundesregierung geplanten neuen Investitionen in fossile Emissionsquellen letztlich nichts anderes sein "als ein Beitrag zur Beschleunigung der heraufziehenden, immer stärker werdenden Katastrophen wie Dürren, tödliche Hitzewellen, zerstörerische Fluten, dauerhafter Verlust von Küstenstreifen unter dem ansteigenden Meeresspiegel und als Folge dessen zunehmende Hungersnöte, Waldbrände, zig Millionen neuer Flüchtlinge aus unbewohnbar werdenden Lebensräumen sowie insbesondere auch wirtschaftlicher Niedergang", stellt Hans-Josef Fell von der Energie Watch Group fest. Was lässt hoffen?Gigantische Aufrüstung, Kriegstreiberei, ungebremste Weiterfahrt auf dem Kurs zur "Heißzeit" und so weiter und so fort – ein Irrsinn reiht sich an den anderen! Wofür haben wir eigentlich jahrzehntelang gekämpft? Alles vergebens? Und wo sind die sozialen Bewegungen, die sich für grundlegende Korrekturen des zerstörerischen Kurses engagieren? Zwar gibt es gegenwärtig viele Proteste im öffentlichen Raum zu einer großen Vielfalt an Themen. Doch wir haben heute nur wenige soziale Bewegungen, denen es gelingt, ihr Thema über längere Zeit mobilisierend auf die Straße zu bringen. Und konnte ab den 1970er Jahren davon ausgegangen werden, dass die neuen sozialen Bewegungen "eine progressive Agenda für eine nachkapitalistische Zukunft zu verkörpern schienen", wie die beiden Bewegungsforscher Roland Roth und Dieter Rucht https://protestinstitut.eu/bewegung-in-der-bewegungsforschung/ . feststellen, geht es heute sehr viel widersprüchlicher zu. "Im Bewegungssektor tummeln sich progressive wie reaktionäre Akteure; neben einer pragmatischen Interessenpolitik, die sich auch des Protests bedient, finden sich verstärkt Mobilisierungen, die erneut die Sehnsucht nach völkischer Größe und autoritärer Führerschaft verkörpern", so Roth/Rucht. "Vieles präsentiert sich widersprüchlich. Die Protestszene war zwar stets bunt und facettenreich, aber selten so zerklüftet wie heutzutage." Zu dieser Zerklüftung und Zersplitterung kommt erschwerend noch eine große Staatsnähe von Teilen der deutschen Zivilgesellschaft und ihrer Organisationen hinzu. Diese Nähe ist für eine massive Kritik an der Politik nicht gerade förderlich. Beispiele erfolgreicher sozialer BewegungenAngesichts der heutigen Situation blicke ich mit etwas Wehmut in die frühen 1980er Jahre zurück, als durch eine enge Kooperation von Umwelt- und Friedensbewegung, weiterer sozialer Bewegungen und Teilen etablierter Institutionen eine Massenbewegung gegen die "Nachrüstung" neuer atomarer Mittelstreckenwaffen entstand. Hunderttausende protestierten in den unterschiedlichsten Formen. Selbst das reichte damals nicht aus, um die Stationierung neuer atomarer Massenvernichtungsmittel zu verhindern. Aber wir konnten einen wichtigen Beitrag dazu beisteuern, dass ein paar Jahre später insbesondere durch Gorbatschows Initiative der INF-Vertrag zustande kam und sämtliche landgestützten atomaren Mittelstreckenraketen in Ost und West abgerüstet und verschrottet wurden. Durch den Widerstand gegen das geplante Atomkraftwerk in Wyhl wurde in den 1970er Jahren die Anti-AKW-Bewegung in Deutschland geboren. Sie wurde zu einer der erfolgreichsten sozialen Bewegungen in der jüngeren Geschichte Deutschlands. Nach einem fünf Jahrzehnte währenden Kampf hat sie ihr wichtigstes Ziel erreicht: Am 15. April 2023 wurden die letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland stillgelegt. Trotz all der Drohungen der atomar-fossilen Seilschaften mit ihren perfekt organisierten und immer wirksamen Angstkampagnen haben wir gemeinsam nach jahrzehntelanger Auseinandersetzung gegen einst übermächtige Gegner gewonnen! Dieser erfolgreiche Kampf zeigt, dass große Veränderungen bewirkt und gegen sehr mächtige Interessen durchgesetzt werden können, wenn sich viele Menschen gemeinsam engagieren. Diese beiden Beispiele machen Mut. Allerdings kann ich leider aktuell keine derart starke gesellschaftliche Kraft sehen, die sich mit Aussicht auf Erfolg dem Aufrüstungswahn in den Weg stellt und für eine tiefgreifende gesellschaftliche Transformation eintritt, um die drohende katastrophale Heißzeit doch noch etwas abzumildern, sowie Armut und Fluchtursachen zu überwinden. HoffnungsfunkenAllerdings konnten wir in diesem Jahr beim Ostermarsch in Stuttgart eine so große Beteiligung erleben, wie wahrscheinlich schon Jahrzehnte nicht mehr. Die 4.500 Teilnehmenden verursachten bei der Demonstration ein so dichtes Gedränge, dass sich der lange Zug überwiegend im gemächlichen Schritt durch die Stuttgarter Innenstadt bewegte. Bestätigt wurden die Stuttgarter Eindrücke durch das Netzwerk Friedenskooperative, das deutschlandweit einen Zuwachs der Teilnehmerzahlen bei den diesjährigen Ostermärschen feststellte. Demnach nahmen über 40.000 Menschen an den über 100 Ostermärschen teil. Im Vergleich zu den Vorjahren war das ein gutes Signal, dass viele Menschen mit dem aktuellen Regierungskurs der Hochrüstung und Kriegstüchtigkeit nicht einverstanden sind und deshalb aktiv werden. Ein kleiner Hoffnungsfunke. Doch das reicht längst nicht aus, um Abrüstung und Entmilitarisierung durchzusetzen. Und selbst wenn das gelänge, dann würde das bei weitem nicht reichen, um das größte derzeitige Menschheitsrisiko zu beseitigen, die Klimakatastrophe. Dafür gilt es, sowohl die wachstumsgetriebene kapitalistische Ökonomie zu überwinden, aber darüber hinaus auch die derzeitige Industriegesellschaft, welche die aktuelle Situation heraufbeschworen hat. Diese muss zurückgebaut werden. Eine Rückkehr zum menschlichen Maß ist unbedingt notwendig. Die riesengroße Herausforderung, die wir zu bewältigen haben, besteht also darin, möglichst rasch den Rückbau unserer Industriegesellschaft solidarisch voranzutreiben. Um die Politik für die notwendige Transformation wirksam unter Druck setzen zu können, da stimme ich ganz mit Bruno Kern überein (s. "Industrielle Abrüstung jetzt! Abschied von der Technik-Illusion", 2024 Eine Besprechung zu "Industrielle Abrüstung jetzt!" findet sich hier: https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/015123.html ), ist ein Zusammenschluss des radikalisierten, nicht bloß auf technische Lösungen fixierten Teils der Klimagerechtigkeitsbewegung mit dem pazifistischen Teil der Friedensbewegung nötig. Dafür muss eine kritische Masse von Menschen mit einem politischen Veränderungsanspruch bereit und in der Lage sein, Privilegien aufzugeben und auch gegen eigene unmittelbare Interessen zu agieren. Ihr Aktionismus muss sich mit einer Lebenspraxis verbinden, die sich als Widerstand gegen den herrschenden, systemstabilisierenden Konsumismus begreift. Doch dieser Zusammenschluss findet bisher allenfalls in rudimentärer Form statt. Einstweilen könnten wir aber selber mit dem beginnen, was wir uns gesamtgesellschaftlich wünschen und eingeschliffene Konsummuster infrage stellen: Flugreisen, Kreuzfahrten, Plastikverpackungen, Pkws, Neubau von Wohnhäusern, … Um auf meine eingangs gestellte Frage zurückzukommen: Ich hoffe, dass ich in diesen turbulenten Zeiten, in denen wir leben, genügend Mut und Kraft habe, um immer wieder zu sagen: "Jetzt erst recht!" Und ich hoffe, dass es viele Menschen gibt – und zunehmend mehr -, die sich das ebenfalls sagen. Es bleibt extrem viel zu tun. Packen wir es an! Euer / Ihr Lebenshaus Schwäbische Alb: Bitte um Unterstützung1993 haben wir unseren Verein gegründet, um damit für eine weltweite friedliche, soziale gerechte und umweltverträgliche Entwicklung einzutreten. Wir sind heute wie zu Beginn unserer Vereinsgeschichte der Überzeugung, dass diese Ziele gefördert werden müssen. Seit 32 Jahren tragen wir unseren Teil dazu bei. Gerne möchten wir unsere Arbeit für Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie so engagiert wie bisher fortsetzen können - wenngleich in teilweise abgewandelter Form. Damit uns das gelingt, bitten wir um Unterstützung unseres Engagements - gerne mit einer Einzelspende oder gar einer regelmäßigen Spende oder einer Fördermitgliedschaft. Herzlich bedanken wollen wir uns bei allen, die unsere Arbeit unterstützen! Mehr zu unseren Aktivitäten findet sich z.B. im Über uns: Lebenshaus Schwäbische Alb Bei “Transparenz TV” aus Berlin: Das Lebenshaus Schwäbische Alb - Video aus der Sendereihe "Friedensfragen mit Clemens Ronnefeldt" "Kriegsdienstverweigerer. Unsere Geschichten" Solidarfonds "Grundeinkommen Friedensarbeit" und Möglichkeiten der Unterstützung . Spendenkonto Lebenshaus Schwäbische Alb e.V. Der Verein Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V. ist durch das Finanzamt Sigmaringen als gemeinnützig und mildtätig anerkannt (aktueller Bescheid vom 11.09.2024). Spenden und Mitgliedsbeiträge sind daher steuerabzugsfähig. Ab 25 € werden automatisch Spendenbescheinigungen zugestellt, für niedrigere Beträge auf Anforderung (bitte bei Erstspenden Anschrift wegen Spendenbescheinigung angeben). 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