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Michael Schmid: “Eine Woche gewaltfreie Blockade des Atomwaffenlagers bei Großengstingen im Sommer 1982”

Von Michael Schmid - Redemanuskript Online-Veranstaltung des ArchivAktiv am Montag, 1. August 2022 Das Redemanuskript wurde für die Veröffentlichung leicht bearbeitet. Der Teil ab "Wie wurde die Aktionswoche vorbereitet?" wurde bei der Veranstaltung nicht vorgetragen. Mehr zur Online-Veranstaltung siehe hier https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/aktionen/014252.html und hier https://www.archiv-aktiv.de/wp/aktuell/ .

Genau heute vor 40 Jahren, am 1. August 1982, begann die einwöchige Blockadeaktion auf der Zufahrtsstraße zum Atomwaffenlager bei Großengstingen auf der Schwäbischen Alb. Dies soll Anlass dafür sein, nochmals auf dieses Ereignis zurückzuschauen. Im Folgenden gebe ich einen knappen Überblick über die Rahmenbedingungen der Aktion vom Sommer 1982 sowie ihren Verlauf und gehe anschließend etwas ausführlicher auf die Vorbereitung mit Bezugsgruppensystem und Trainings in gewaltfreier Aktion ein.

Zunächst möchte ich versuchen, euch nochmals kurz mit reinzunehmen in die politische Situation von vor 40 und mehr Jahren. Damals herrschte Kalter Krieg. Das bedeutete Ende der 1970er Jahre u.a., dass es auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland über 5.000 Atomsprengköpfe der US-Armee in über 130 Depots. Dazu kommen britische Atomsprengköpfe. Und zudem russische Atomsprengköpfe in der DDR. Alles bestimmt für das atomare Schlachtfeld Europa. Wo sich diese Lager befanden, wurde auch hierzulande geheim gehalten. In der Öffentlichkeit interessierte sich auch kaum jemand dafür. Allerdings präsentierte der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) dann auf einem Kongress 1979 das geplante Projekt "Nukleare Lagekarte für die BRD". Es sollte eine Karte erstellt werden, in der sowohl zivile wie auch militärische atomare Anlagen erfasst wären. Als solche Karten ab Anfang 1981 veröffentlicht wurden, hatte dies eine erhebliche mobilisierende Wirkung. Denn plötzlich konnten viele Menschen erkennen, dass sich geheim gehaltene militärische Anlagen mehr oder weniger vor ihrer Haustür befanden.

Zuvor hatte die NATO am 12. Dezember 1979 in Brüssel einen weitreichenden Beschluss gefasst, den sogenannten "NATO-Doppelbeschluss". Es ging um die atomaren Mittelstreckenraketen in Ost und West, die mit kürzesten Vorwarnzeiten ihre Ziele erreichen konnten. Es wäre dann keine Zeit für eine angemessene Lagebeurteilung geblieben. Dadurch wuchs die Gefahr enorm an, unversehens in einen europäischen Atomkrieg zu stolpern. In zahlreichen europäischen Ländern fühlten sich die Menschen zutiefst bedroht. Ab 1980 formierte sich in der Bundesrepublik zunehmend massiver Protest. Dieser richtete sich insbesondere gegen die von der NATO angedrohte "Nachrüstung" mit Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles, aber auch gegen den drohenden "Atomtod" allgemein.

Atomwaffen bei Großengstingen bemerkt

1980 erfuhren einige Menschen aus Tübingen mehr zufällig von den Atomwaffen bei Großengstingen auf der Schwäbischen Alb. Sie begannen, Informationen zu sammeln und die Atomraketen zunächst in Tübingen ins Gespräch zu bringen. Angesichts einer mehr und mehr gegenüber der atomaren Bedrohung sensibler werdenden Bevölkerung blieb dies in der weiteren Region nicht ohne Wirkung.

Großengstingen - eine Gemeinde auf der Hochfläche der Schwäbischen Alb, rund 17 Kilometer entfernt von Reutlingen und 30 Kilometer von Tübingen. Fünf Kilometer südlich vom Ort lag die Eberhard-Finckh-Kaserne. Von meinem Wohnort Gammertingen, wo ich seit Ende 1980 lebe, sind es nur 13 Kilometer Luftlinie bis zum früheren Atomwaffenlager. Allerdings waren damals, wie erst etwas später bekannt wurde, in noch größerer Nähe zu uns Atomraketen stationiert. In ca. 8 Kilometer Luftlinie Entfernung von Gammertingen befand sich die Alarmstellung der damals in Mutlangen stationierten Pershing-IA. Alarmstellung bedeutete, dass diese Atomraketen in kürzester Zeit abschussbereit waren.

Doch zurück zur Kaserne auf der Haid bei Großengstingen. Ab 1967 war in der Bundeswehrkaserne auch eine Einheit der US-Armee stationiert. Ihre Aufgabe wäre es im "Ernstfall" gewesen, die Atomsprengköpfe scharf zu machen, die mit Raketen der Bundeswehr verschossen worden wären. Zunächst waren dies Raketen vom Typ Sergeant, ab 1976 dann 6 Lance-Kurzstreckenraketen. Dafür wurden höchstwahrscheinlich sechs Atomsprengköpfe bereitgehalten. Jeder dieser Sprengköpfe hatte eine doppelte Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. Insgesamt also die 12-fache Hiroshima-Wirkung! Welch ein Wahnsinn! Die Reichweite der Lance-Raketen betrug ca. 120 Kilometer. Im Kriegsfall hätten sie an die Front im Osten vorverlegt und auf Ziele in der Tschechoslowakei und Polen abgefeuert werden sollen. Wären die Raketen direkt von ihrem Stationierungsort in der Großengstinger Kaserne aus abgeschossen worden, etwa weil keine Zeit zur Vorverlegung mehr gewesen wäre, dann hätten sie in etwa die Entfernungslinie um Augsburg erreicht und zerstört. Ausführlicher siehe hier:  Eberhard-Finckh-Kaserne, Atomwaffenlager und Lance-Kurzstreckenraketen .

Erst im Frühjahr 1982 wurde von Friedensaktivist*innen entdeckt, dass diese Atomsprengköpfe nicht etwa in der Kaserne, sondern in einem nahen Wäldchen deponiert wurden. Dieses Depot war auf keiner öffentlichen Karte verzeichnet. Nachdem es entdeckt war, wurde dann von Verantwortlichen nur vom "Sondermunitionslager Golf" gesprochen.

Beginn mit Aktionen

An Ostern 1981 fand der erste Ostermarsch zur Kaserne in Großengstingen statt. Über 2.000 Demonstrierende erinnerten die Einwohner*innen der umliegenden Ortschaften an die Atomwaffen.

Im Sommer 1981 haben sich dann 13 Personen einer gewaltfreien Tübinger Aktionsgruppe vor dem Haupttor der Kaserne auf der Haid angekettet, um ein deutliches Zeichen ihrer Betroffenheit durch die Atomwaffen zu setzen. Sie blockierten 24 Stunden lang die Einfahrt zur Kaserne, bevor sie von der Polizei losgeschnitten und entfernt wurden.

Im November 1981 entstand schließlich in Tübingen die Idee einer großen Blockade der Kaserneneinfahrten für den Sommer 1982. Zur Zusammenarbeit und Vorbereitung einer Aktion "Schwerter zu Pflugscharen" wurde der Arbeitskreis Engstingen gegründet.

Innerhalb des Arbeitskreis Engstingen wurden in den folgenden neun Monaten alle anstehenden Aktionsschritte geplant und koordiniert. Es wurde u.a. auch Aufklärungsarbeit der mehrheitlich konservativen Bevölkerung Engstingens durchgeführt sowie ein Soldatenarbeitskreis gegründet, der durch Flugblattverteilen, Filmabende, eine Podiumsdiskussion und einen antimilitaristischen Soldatenstammtisch Kontakte zu Soldaten herstellte.

Auch im Jahr 1982 fand wieder ein Ostermarsch in Großengstingen statt, bei dem 5.000 Menschen mit Fahrrädern zur Kaserne fuhren. Dort wurde die für Sommer geplante Aktion zum ersten Mal öffentlich angekündigt.

Aufruf zur Blockade der Atomwaffen im Sommer 1982

Für die Aktion wurde ein Aufruf verfasst, in dem alle Menschen, die den Militarismus in Ost und West gleichermaßen ablehnen, dazu aufgefordert wurden, sich für die Blockade des Atomwaffenlagers zu kleinen Gruppen von 10 bis 15 Personen zusammenzuschließen, sogenannten Bezugsgruppen.

Die Zugehörigkeit zu einer Bezugsgruppe war dann auch die eine herausragende Bedingung für die Teilnahme an der Aktion, die andere war die Teilnahme an einem Training in gewaltfreier Aktion.

In einer Übereinkunft legten die Bezugsgruppen ihre gemeinsame Grundhaltung fest. Unter anderem hieß es darin: "Wir werden versuchen, unsere Feindbilder abzubauen und werden mit Offenheit und Respekt auf alle Menschen zugehen, mit denen wir zusammentreffen." Und: "Wir werden keine Gewalt anwenden, weder physische noch verbale."

Von Anfang an waren vor Ort vier Tage gemeinsamer Vorbereitung auf die Aktion und drei Tage Auswertung nach der Aktion eingeplant, sowie eine Woche Blockade und parallel dazu eine Friedenswoche, so dass die Gesamtaktion insgesamt vierzehn Tage in Anspruch nahm.

Am 28. Juli 1982 war es dann soweit. Nach und nach kamen über 750 Menschen aus der gesamten Bundesrepublik - vorwiegend jedoch aus dem Großraum Tübingen/Reutlingen. Sie hatten sich vorher zu über 60 Bezugsgruppen zusammengefunden und ließen sich nun auf fünf Zeltplätzen nieder, die bis zu 15 Kilometer von Engstingen und bis zu 30 Kilometer voneinander entfernt lagen.

Die Blockadewoche

Nach den vier Vorbereitungstagen begann dann am Sonntag, den 1. August, die eigentliche Aktion. Also genau heute vor 40 Jahren. Um 12 Uhr wurde mit der Blockade auf der Zufahrtstraße zum Atomwaffenlager begonnen. Und sie endete eine Woche später, am 8. August um dreizehn Uhr.

Blockiert wurde in Sechsstundenschichten. Die Bezugsgruppen hatten sich jeweils zwei- bis viermal in einen Blockadeplan eingetragen. Eine Schicht bestand dann aus jeweils sechs Bezugsgruppen, von denen sich drei vor den Haupt- und Nebeneingang setzten, drei in Reserve bereitstanden oder den zurückkehrenden Konvoi blockierten. Acht Tage lang saßen also bei Wind und Wetter, Tag und Nacht rund 60 Menschen vor oder neben der Zufahrt des Atomwaffenlagers.

Schon am ersten Abend rückte ein großes Polizeiaufgebot zur Räumung an. Der Einsatzleiter erhob drei Mal ultimativ die Forderung, die Zufahrt für einen Transport der Bundeswehr freizumachen. Weil sich niemand erhob, kam der Befehl zur Räumung. Jede und jeder Einzelne wurde weggetragen. Ihre Personalien wurden aufgenommen und für die spätere Anklage wurde ein Foto gemacht. Dann wurden die blockierenden Menschen wieder freigelassen. Auf der Zufahrtsstraße saßen jedoch bereits die nächsten Gruppen. Die Blockade ging weiter wie angekündigt.

Die mit so viel Spannung erwarteten Räumungen vollzogen sich schon nach kurzem in einem immer gleich ablaufenden Ritual. Insgesamt gab es 17 Räumungen mit vorläufigen Festnahmen. Es gab allerdings weitere Räumungen ohne Festnahme, wie ich selber erlebt habe. Von den rund 750 Blockierenden wurden 380 festgenommen.

Außer der Blockade des Atomwaffenlagers gab es bei dieser Sommeraktion weitere vielfältige Aktivitäten. So wurden in einer Friedenswoche in den Zeltdörfern mit Workshops, Theater, thematischen Angeboten, wie z.B. zu Sozialer Verteidigung, Gottesdiensten, Musik und Tanz ein gewaltfreies Zusammenleben bewusst eingeübt. Und für Besucher wurde ein vielfältiges Programm in einem großen Kulturzelt angeboten. In den umliegenden Ortschaften wurde diskutiert und Straßentheater gespielt. Und schließlich war der 6. August, der Hiroshima-Gedenktag, Anlass für ein Fest auf dem Marktplatz in Reutlingen.

Die Aktionswoche endete mit einer gemeinsamen Blockade des Atomwaffenlagers. Über 700 Teilnehmende der Aktion sowie zahlreiche Besucher*innen versammelten sich am letzten Tag um die Mittagszeit auf der Zufahrtsstraße. Eine Stunde lang wurde die Straße bemalt, ein Friedensnetz gewoben, gesungen, diskutiert und dann 20 Minuten geschwiegen. Ausführlicher und mit Hinweisen zum Weiterlesen siehe hier:  Die Blockadeaktion .

In den folgenden drei Tagen werteten die Teilnehmenden in den jeweiligen Zeltdörfern ihre Erfahrungen aus. Zudem wurde ein Aufruf entworfen zu regionalen Widerstandsaktionen in der ganzen Bundesrepublik für den 12. Dezember 1982, dem 3. Jahrestag des "NATO-Doppelbeschlusses".

Nach der Aktion

Gelungen ist mit dieser Aktion - insbesondere durch eine sehr gute Pressearbeit -, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit darauf zu lenken, dass damals die Atomwaffen mitten unter uns waren. Es war wohl gerade der insgesamt durchgehaltene gewaltfreie Charakter der Aktion, der es ermöglichte, dass über das eigentliche Anliegen geredet wurde - Verhinderung neuer Atomwaffen und Abrüstung der bestehenden - und nicht über etwaige gewalttätige Ausschreitungen.

Erreicht wurde sicherlich auch das Aktionsziel, der Friedensbewegung Handlungsalternativen aufzuzeigen, die über das bloße Protestieren und Demonstrieren hinausgehen. Insbesondere durch die Blockade in Großengstingen vom Sommer 1982 wurde der Beginn der "Aktionsphase" der Friedensbewegung markiert.

Zu einem wichtigen Teil der Aktion wurde das juristische Nachspiel der ersten großen Blockade eines Atomwaffenlagers in der Bundesrepublik. Nach den Festnahmen durch die Polizei und den Anzeigen wegen "Nötigung" wurden 365 Menschen mit einem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft überzogen. Mehr als 300 Menschen bekamen von der Justiz Strafbefehle wegen "Nötigung". Da fast alle Betroffenen Widerspruch einlegten, bekamen sie eine Ladung zu einer Gerichtsverhandlung im kleinen Amtsgericht der Nachbarstadt Münsingen. Dort stand eine jahrelange Prozesswelle an. Amtsrichter Thomas Rainer bestätigte die Strafbefehle ausnahmslos und verurteilte die Angeklagten. Manche gingen in Berufung, legten Revision ein, die aber verworfen wurde. Manche bezahlten die Strafe, andere saßen sie im Gefängnis ab. Etwas ausführlicher siehe hier:  Das juristische Nachspiel .

Wie wurde die Aktionswoche vorbereitet?

Während es bisher um einen knappen Überblick über die Rahmenbedingungen der Aktion und ihren Verlauf ging, soll anschließend nochmals die Frage ihrer Vorbereitung etwas vertieft werden.

Die Blockade war bewusst als gewaltfreie Aktion geplant. Damit sich alle Teilnehmenden mit ihren Meinungen einbringen konnten, wurde das basisdemokratische Bezugsgruppenmodell als Grundlage für die gesamte Aktion gewählt. Das bedeutet, dass die Aktion von Bezugsgruppen vorbereitet und getragen werden sollte. Diese Gruppen sollten während der gesamten Zeit zusammenbleiben und alle notwendigen Entscheidungen fällen, die sie direkt betrafen. Ganz praktisch hat dies für diese Aktion bedeutet, dass die Zugehörigkeit zu einer Bezugsgruppe eine Bedingung für die Teilnahme war, die andere war die Teilnahme an einem Training in gewaltfreier Aktion mit der Bezugsgruppe.

Damit verband sich auch die Idee, dass Menschen einer Bezugsgruppe sich spätestens durch das Training am Heimatort kennenlernen und wissen - jedenfalls, wenn alles gut läuft -, dass sie sich vertrauen und aufeinander verlassen können. Dadurch können Anonymität, Unsicherheit und Isolationsgefühle, vor allem bei Aktionen mit zahlreichen Teilnehmern, zu einem großen Teil vermieden werden.

Persönliche Erfahrungen mit Bezugsgruppe

Für mich persönlich war das Bezugsgruppensystem zumindest in der Praxis Neuland. Gelesen hatte ich bereits etwas über das Bezugsgruppensystem von Seabrook und Gorleben. Und 1981 bei der Ankettaktion in Großengstingen war ich zeitweise als Unterstützer dabei. Nun wollte ich aber endlich selber an einer solcherart organisierten gewaltfreien Aktion aktiv mitmachen.

Zu einem Treffen unserer örtlichen Gruppe der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) waren zwei Personen aus Tübingen gekommen, haben die geplante Sommeraktion vorgestellt und für eine Teilnahme geworben. Aus dieser DFG-VK-Gruppe waren wir dann fünf, die mitmachen wollten. Also mussten wir weitere Personen finden, um eine Bezugsgruppe entsprechend der gewünschten Vorgabe bilden zu können. Diese Suche nach Menschen aus anderen Orten war gar nicht so einfach.

Endgültig stand unsere 12-köpfige Bezugsgruppe erst drei Wochen vor Aktionsbeginn fest. Zweieinhalb Wochen vor Beginn der Aktion führten wir ein Trainingswochenende in gewaltfreier Aktion durch. Dabei gab es Informationen über den Ablauf der Aktion und mögliche juristische Folgen. Und wir übten z.B., wie wir in der Gruppe schnell Entscheidungen treffen können, die aber nicht nach dem Mehrheitsprinzip fallen sollen, sondern von allen Gruppenmitgliedern mitgetragen werden können ("Konsensbildung").

Wichtig war auch ein Rollenspiel, in dem denkbare Konfliktsituationen der geplanten Aktion durchgespielt wurden. Es ging darum, sich darauf einzustellen, auch dann noch eine gewaltfreie Haltung beizubehalten, wenn z.B. die Polizei mit hartem Einsatz vorgehen würde.

Idee aus den USA

Die Idee mit dem Bezugsgruppensystem und Trainings wurde in Deutschland Ende der 70er Jahre zunächst von der Anti-AKW-Bewegung der USA übernommen. Vor allem eine 1977 durchgeführte Bauplatzbesetzung des AKW in Seabrook hat Eindruck gemacht. Nach langer und gründlicher Vorbereitung hatten dort rund 1800 Menschen den Bauplatz besetzt. Das Besondere: sie waren in Bezugsgruppen organisiert und hatten Trainings in gewaltfreier Aktion absolviert. 1414 Menschen wurden festgenommen und zum allergrößten Teil zwei Wochen inhaftiert.

1978 war eine Berliner Gruppe in den USA, um die dortigen Erfahrungen kennenzulernen und sich in gewaltfreier Aktion trainieren zu lassen. Sie haben von ihren Erfahrungen dann auch in Deutschland berichtet. 1979 hat dann eine Gruppe der Gewaltfreien Aktion Tübingen als Bezugsgruppe Aktionen im Wendland durchgeführt, wo es damals um den Kampf gegen die geplante Wiederaufbereitungsanlage in Gorleben ging. Sehr wahrscheinlich wurde hier das Bezugsgruppensystem erstmals in Deutschland angewandt. 1980 wurde es bei der Besetzung des Bohrplatzes 1004 bei Gorleben ebenfalls praktiziert, wenn auch offensichtlich nicht besonders gut vorbereitet. Und als sich dann 1981 vor der Großengstinger Kaserne 13 Menschen anketteten, waren diese ebenfalls wie eine Bezugsgruppe organisiert und vorbereitet.

Erfahrungen mit dem Bezugsgruppensystem im Sommer ‘82

Wie schon erwähnt, waren wir 750 Teilnehmende während der Aktion im Sommer ‘82 mit unseren Bezugsgruppen in fünf Zeltdörfern in einem Umkreis von ca. 15 Kilometer um Engstingen untergebracht (Hausen, Salmendingen, Erpfingen, Bernloch, Buttenhausen). Die großen Entfernungen machten die Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen zu einem nicht gerade einfachen Unterfangen, zumal ja die allermeisten von uns mit Fahrrädern unterwegs waren. Allerdings war auch die Platzbeschaffung ziemlich schwierig. Eine bereits zugesagte Wiese unweit des Blockadeortes wurde wieder kurzfristig abgesagt. Der Besitzer, als Gärtner bei der Bundeswehr angestellt, bekam vom Militärischen Abschirmdienst (MAD) Besuch und hatte es sich daraufhin mit seiner Wiese doch anders überlegt!

Zur Entscheidungsfindung mit Bezugsgruppensystem/Konsensentscheidung möchte ich einen Auszug aus meinem Artikel zitieren, den ich unmittelbar nach der Aktion für die Nürtinger Stattzeitung geschrieben habe.

"Die ersten vier Tage dienten dann nochmals der Vorbereitung aller Gruppen auf die Blockade. Konsens musste gefunden werden über Blockadebeginn und -zeiten, aber auch über die Kommunikationsstruktur. In diesem Punkt erlangten wir Einigkeit darüber, dass täglich in jedem Camp ein Dorfsprecherrat mit jeweils einem Sprecher aus jeder Bezugsgruppe tagen sollte. Jeder Dorfsprecherrat delegierte dann zwei Menschen in den Kleinen Sprecherrat, der ebenfalls täglich tagte. Für ganz besondere Fälle (Abbruch der Aktion) war noch ein Gesamtsprecherrat mit je einem Sprecher aus den über 50 Bezugsgruppen vorgesehen - der aber glücklicherweise nie tagen musste. Wichtig die Anmerkung, dass die Sprecherräte keine Entscheidungen treffen durften. Sie sollten nur dem Austausch der unterschiedlichen Positionen und Argumente dienen. Entscheidungen durften nur die Bezugsgruppen treffen. Trotz des großen Zeitaufwandes, den die Entscheidungsfindung nach diesem Modell oft genug braucht, finde ich diesen Ansatz recht positiv, weil hier - im Gegensatz zu dem in unserer Gesellschaft gebräuchlichen, angeblich so demokratischen Prinzip der Mehrheitsentscheidung - Minderheiten eher ihre Meinung miteinbringen können. Natürlich wurden unsere großen Defizite, die wir mit solchen Umgangsformen haben, oft genug sichtbar. Wir müssen hier sicher noch sehr viel lernen!"

Insgesamt möchte ich feststellen, dass diese Blockadeaktion aus meiner Sicht einer der Meilensteine in der Geschichte der deutschen Friedensbewegung und für die Entwicklung der gewaltfreien Aktion war. Damals wurde massenhaft gewaltfreier Widerstand gegen die "Nachrüstung" ausgeübt. Auf die weitere Entwicklung der Friedensbewegung hatte diese gewaltfreie Aktion eine große Wirkung.

Nachbemerkung

Nach der Sommeraktion 1982 gab es noch eine Reihe weiterer Aktionen in Großengstingen und am Atomwaffenlager - weitere Blockadeaktionen, Ostermärsche und eine kleine Gruppe drang sogar ins Depot ein, vermutlich aber in das dem Atomwaffenlager vorgelagerte Bundeswehrdepot, das weniger stark gesichert war wie das hochgesicherte Lager mit den Atomsprengköpfen.

Nach der Überwindung des Ost-West-Konfliktes wurde das Atomwaffenlager im Herbst 1991 geräumt. Und als die Bundeswehr im Zuge des vereinten Deutschlands Standorte zu schließen begann, stand Großengstingen gleich mit ganz oben auf der Streichliste. Als ein wesentliches Kriterium dafür wurden die zahlreichen Protestaktionen in den Jahren zuvor genannt. So war dann im März 1993 endgültig Schluss mit dem Militärstandort Großengstingen.

Zu diesem Zeitpunkt bestätigte dann auch der Kommandeur des Artilleriekommandos 2 offiziell, dass im "Sondermunitionslager Golf" atomare Sprengköpfe gelagert worden waren. Bis dahin wurde offiziell nie darüber Auskunft erteilt, sondern immer nur verharmlosend von "Sondermunition" geredet.

Links zur Blockadeaktion 1982 bei Großengstingen:

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Fußnoten

Veröffentlicht am

02. August 2022

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