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Unsere Menschlichkeit darf nicht abhandenkommen

Von Katrin Warnatzsch - Soziale Friedensarbeit (aus: Lebenshaus Schwäbische Alb, Rundbrief Nr. 111, Dez. 2021 Der gesamte Rundbrief Nr. 111 kann hier heruntergeladen werden: PDF-Datei , 696 KB. Den gedruckten Rundbrief schicken wir Ihnen/Dir gerne kostenlos zu. Bitte einfach per Mail abonnieren )

Zwei afghanische Männer leben seit Anfang 2018 bei uns im Lebenshaus, ein dritter seit einem Jahr als Gast, um Wege zwischen seiner Wohnung im Nachbarort und seinem Ausbildungsplatz zu überbrücken und das Internet bei uns zu benutzen. Er benötigt dringend eine kleine Wohnung in Gammertingen, bisher hat nichts geklappt. Nicht nur mit ihnen, sondern mit nahezu allen Afghanen aus Gammertingen ging es und geht es bis heute um vielfältige Lebensfragen. Seit die Taliban im August dieses Jahr in Kabul wieder die Macht übernommen haben, kommen auch ein paar tief verzweifelte Männer zu mir, in der Hoffnung, ich könne doch sicher dabei helfen, ihre Angehörigen aus Afghanistan heraus (nach Deutschland oder Europa) zu holen. Da werden leider meine Möglichkeiten überschätzt, denn das kann ich nicht.

Seit teilweise mehr als fünf Jahren leben die jungen geflüchteten Männer nun schon unter uns, in einer kleinen Stadt auf der derzeit oft vom Novembernebel eingehüllten Schwäbischen Alb. Einige kamen aus einer Großstadt, z.B. Kabul, und tauschten dieses Umfeld nun aus gegen ein Leben auf dem Land, mit relativ dünner Besiedlung. Die Tatsache, dass die Wenigsten inzwischen von hier weggezogen sind, spricht für die Lebensqualität, die sie hier wohl, trotz eingeschränkter Arbeitsmarktlage, gefunden haben.

Natürlich ist dies auch ihrer weiter bestehenden Peer-Gruppe geschuldet, die eben ermöglicht, dass man sich in seiner Sprache unterhalten und gewohnte Verhaltensweisen pflegen kann.

Einigen ist es gelungen, eine eigene Mietwohnung zu beziehen. Zu Beginn fiel es schwer, plötzlich alleine in zwei Zimmern zu wohnen, eine eigene Küche und ein eigenes Bad zu haben. Ich beobachte, dass dies jedoch zu weiterer Beruhigung führt, der Schlaf noch einmal erholsamer wird, als in der gemeinsamen Unterkunft. Das Einrichten der Wohnung macht Freude und stolz. Plötzlich hat man auch neue Nachbarn.

Ein Mann aber sagt mir, es sei so gut, mit zwei Landsleuten zusammen zu wohnen, da wäre er nicht alleine, wenn es ihm schlecht geht. Er hat gerade seine Mutter verloren, die in Kabul gestorben ist. Er sucht nach Trost und Ablenkung, braucht eigentlich immer warmes Essen, das ich dann schnell bereitstelle, und jemanden, der zuhört. Dafür ist er allerdings ständig unterwegs und besucht seine Freunde, eben gerade auch deutsche Unterstützende, Arbeitskolleg:innen…

Was sich in der verlorenen alten Heimat Afghanistan abspielt, ist so schrecklich und macht so hilflos, dass einige mit viel Kraft versuchen, es zu verdrängen. Aber andere hängen doch täglich im Internet und führen quasi ein Doppelleben, mit den Gefühlen und Gedanken oft dort, wo hilflose Verwandte leben. "Meine Konzentration ist zur Zeit ganz schlecht, ich kann mir nicht mehr merken, was ich gerade gesagt oder getan habe…" - das sind fatale Auswirkungen, auch am Arbeitsplatz. Ich erkenne die Gefühlslage auch an dem zeitweise wieder sehr viel schlechter gesprochenen Deutsch, das mir Mühe macht.

Ich bewundere und unterstütze es umso mehr, wenn sich einer von ihnen in seiner Urlaubswoche vornimmt, einen anderen zu einer selbstorganisierten Städtetour mitzunehmen. "Wir waren in Frankfurt und in Köln, ja da gibt es viele afghanische Restaurants und Leute, wir konnten mal wieder unser Essen schmecken und reden. Und die Städte sind so schön…" - fachmännische Blicke auf Hochhäuser von einem Stuckateur.

Und damit verbunden ist der Wille zum Wurzelschlagen in der neuen Heimat, die Akzeptanz der Tatsache, dass man nicht mehr zurückkann und das auch nicht will. Letztlich also die Eltern nicht mehr sehen wird, bevor sie sterben werden. Das Geburtsland nicht mehr betreten wird.

"Katrin, hilf mir bitte, ich möchte einen dauerhaften Aufenthalt beantragen. Und ich möchte einen Reisepass haben, damit ich reisen kann, Europa sehen kann." Das sind wichtige Schritte im neuen Leben, in einer neuen Realität. Eine lange Traumatherapie hat bewirkt, dass sich dieser junge Mann mit seinem Leben neu auseinandergesetzt hat und es, zumindest derzeit, akzeptiert, wie es ist.

Und er macht Pläne, wie er beruflich weitergehen könnte, was nicht einfach wird. Darüber reden wir gemeinsam und suchen nach Möglichkeiten. Und er beginnt zu sortieren, was er inzwischen erreicht hat und nicht mehr aufgeben möchte, auch nicht für eine Ausbildung, in der er viel weniger verdienen würde und sich seinen derzeitigen Lebensstandard nicht mehr leisten könnte. Auch die Unterstützung von Angehörigen wäre dann nicht mehr finanzierbar. Da tun sich natürlich nun Zwickmühlen auf, die auch nicht leicht auszuhalten sind. Wir werden sehen, wieviel Zeit, Mühe und Verzicht er aufwenden will, um sich fortzubilden für eine bessere Absicherung im Berufsleben und ob er sich frei machen kann von den Erwartungen der Familie.

Zu einem meiner Schwerpunkte in den vergangenen Jahren wurden die rechtlichen Angelegenheiten in den Asylverfahren. Und dabei ging es vor allem um Klagen gegen die Ablehnungsbescheide.

Die vorerst letzte Verhandlung von den 17 von uns begleiteten Afghanen fand dieses Jahr statt. Das Urteil nach einer mehr als drei Stunden dauernden Gerichtsverhandlung hat uns völlig überrascht und auch empört. Bei einem afghanischen Mann, bei dem wir sehr sicher waren, dass seine Klage erfolgreich ausgehen würde, wurde vom Richter die Klage in nahezu allen Punkten abgewiesen. Dabei handelt es sich um einen jungen Vater, der zwar getrennt von der Mutter seiner Tochter lebt, der sich aber durchaus um das Kind kümmert. In Deutschland ist das geteilte Sorgerecht getrennt lebender Eltern für ihre Kinder ja eine große Errungenschaft. Der Kontakt zu beiden Eltern ist für ein Kind wichtig. Doch das gilt jetzt hier im Fall des afghanischen Vaters ganz offensichtlich nicht.

Aufgrund der aktuellen Rechtsprechung konnten in den vergangenen Jahren ohnehin nur alleinstehende junge Männer zu einer Rückkehr nach Afghanistan gezwungen werden, wenn unterstellt werden konnte, sie könnten dort für ihre eigene Existenz aufkommen. Unter Corona-Bedingungen waren diese Voraussetzungen noch seltener zu unterstellen. Dieser Richter stellt in seinem Urteil fest, bei einer Rückkehr nach Afghanistan würde der junge Mann seine Tochter nicht mitnehmen, weil die Mutter des Kindes hier eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung habe. Deshalb sei der Mann in Afghanistan frei von Unterhaltsverpflichtungen und es sei ihm zumutbar, dort als alleinstehender junger Mann für seine Existenz zu sorgen. Mit dieser zynischen Begründung ist es also möglich, einem kleinen Kind seinen Vater zu nehmen, der nach Ansicht deutscher Behörden und Gerichte auch fünftausend Kilometer von ihm entfernt leben kann. Dass es in diesem Fall nicht einmal einen Abschiebeschutz gibt, finden wir absolut empörend und niederschmetternd!

Nach dem Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan hat sich die äußere Situation dort schwer verändert. Sie führt in unseren Augen dazu, dass es erfolgversprechende Gründe für Asylfolgeanträge gibt. Dies können bisher abgelehnte Asylsuchende aufgreifen und ein neues Verfahren anstreben. Auch die wenigen aus unserer Region abgelehnten afghanischen Männer, die nur eine Duldung erhalten hatten, haben dies nun getan. Wir hoffen, dass wenigstens für sie nun ebenfalls eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis erreicht werden kann.

Begleitend zu den erfreulichen Fortschritten der Integration bleibt es meine wichtige Aufgabe, diese jungen Menschen fortwährend zu beraten und daran zu erinnern, dass ihr Aufenthaltsstatus in Deutschland nicht abschließend gesichert ist. Denn gerne verdrängen sie, und auch viele aus dem unterstützenden Umfeld, diese formalrechtlichen, unangenehmen Tatsachen. Und wie oft geschieht es sogar erst nach mehreren Jahrzehnten, dass dann Menschen scheinbar unvermittelt abgeschoben werden, weil sie ihre behördlich festgestellte Lage und die politische Willenserklärung unsere Regierungen nicht im Auge behalten haben: Deutschland, ja Europa, ist weiterhin nicht gewillt, einen großen Teil der Menschen dauerhaft als gleichberechtigte Bürger:innen anzuerkennen, die einmal als Geflüchtete hierher kamen. Es braucht dafür letztlich eine deutsche Staatsangehörigkeit oder die eines anderen europäischen Landes. Der Weg dahin ist weit und mühsam. Wir würden dafür einen Politikwechsel hin zur Menschenfreundlichkeit benötigen, der Geflüchtete willkommen heißt und gleichzeitig verhindert, dass weiterhin andere Länder ausgebeutet, mit Krieg überzogen, für unseren Wohlstand kaputt gemacht werden. Das treibt Menschen in die Flucht, nur konsequent, dass sie dorthin wollen, wo sie glauben, das Leben wäre noch lebenswert. Klimakatastrophe, Naturereignisse und z.B. die Abwerbung von Pflegekräften für unser Gesundheitssystem sind weitere Migrationsursachen. Und andererseits werden diese verzweifelt wandernden, entwurzelten Menschen von Regierungen und Wirtschaftsinteressenten wie "Menschenmaterial" benutzt, um einander zu erpressen oder Profit zu machen und Konflikte zu schüren.

Täglich erleben wir im Lebenshaus mit Spannung und großer Sorge die Auswirkungen der staatlichen Maßnahmen gegen das allgegenwärtige Corona-Virus. Kontakte und Begegnungen werden abgewogen gegen ein kaum fassbares Risiko, der herzliche Umgang mit Menschen ist durch die Kontaktbeschränkungen reduziert und wird von vielen mit Augenmaß bedacht. Zurückhaltung ist überall sichtbar, an den Bewegungen der Menschen. Herzliches Umarmen bekommt einen fahlen und anstößigen Beigeschmack. Ob jemand sich gesund fühlt, ist inzwischen keine Frage mehr. "Wie geht es Dir?", wird mit einem Unterton gefragt. Wohin sind wir da geraten?

Michael und ich haben uns entschlossen, niemanden aus unserer Gemeinschaft auszuschließen! Bei aller Vorsicht vor Ansteckung und Weitergabe einer Infektion darf unsere Menschlichkeit nicht abhandenkommen. Dieser Vorsatz wird zur täglichen Herausforderung. Ich wünsche uns allen, dass wir den Weg unter unseren Füßen nicht aus dem Blick verlieren und ab und zu den Kopf heben und erkennen, ob wir noch in der richtigen Spur gehen. In eine offene, gute Zeit im neuen Jahr.

Lebenshaus Schwäbische Alb bittet um Spende zum Jahresende

Wir möchten unsere Arbeit 2022 so engagiert wie bisher fortsetzen können, auch wenn wir durch die "Corona-Maßnahmen" zusätzlich vor besondere Herausforderungen gestellt sind. Trotzdem blicken wir mit Zuversicht in ein aktives neues Jahr.

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Wir freuen uns über jede Unterstützung, gerne mit einer Einzelspende oder gar einer regelmäßigen Spende oder einer Fördermitgliedschaft.

Mit einem Vermächtnis oder einer Erbeinsetzung kann gezielt eine gemeinnützige Organisation wie Lebenshaus Schwäbische Alb unterstützt werden. In diesem Fall entfällt die Erbschaftssteuer und das Erbe kommt in vollem Umfang der Arbeit für Gerechtigkeit, Frieden und Erhalt der Umwelt zugute.

Herzlich bedanken wollen wir uns bei allen, die unsere Arbeit unterstützen!

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"Brief vom Herbst 2021"

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Fußnoten

Veröffentlicht am

18. Dezember 2021

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