Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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“In 76 Jahren atomarer Rüstung stand Weltgemeinschaft mehr als einmal vor der völligen Zerstörung”

Rund 35 Menschen nahmen am 6. August 2021 in Gammertingen an einer Kundgebung mit dem Titel "76 Jahre Hiroshima und Nagasaki mahnen: Unsere Stimme für das Atomwaffenverbot!" teil. Bei der Veranstaltung von Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V. gab es außer Redebeiträgen ein stilles Gedenken für die Opfer der Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki sowie der Atombombentests, es wurde ein Bericht eines Überlebenden des Atombombenangriffs auf Hiroshima vorgelesen. Eine 6-köpfige Gruppe des Aktionsorchesters Lebenslaute trug mit mehreren Stücken zur musikalischen Umrahmung der Veranstaltung bei. In einer Rede, die wir nachfolgend dokumentieren, spann Michael Schmid den Bogen über einen Rückblick auf die Atomwaffenpolitik der vergangenen Jahrzehnte seit 1945, den damit verbundenen Gefahren der Vernichtung alles menschlichen Lebens, hin zur äußerst brisanten aktuellen Situation. 

Von Michael Schmid

Mit den Atombombenangriffen auf Hiroshima und Nagasaki vor genau 76 Jahren ist die ganze Menschheit in ein neues Zeitalter eingetreten. Seit dem 6. August 1945 lebt die Menschheit sozusagen auf Abruf. Oder wie es der Philosoph Günther Anders ausgedrückt hat: In Hiroshima begann ein neues Zeitalter, "in dem wir in jedem Augenblick jeden Ort, nein, unsere Erde als ganze in ein Hiroshima verwandeln können." Das ist das einzigartig Neue an der Atombombe: die Menschheit konnte und kann sich damit in ihrer eigenen Existenz auslöschen!

Aus dieser Erkenntnis wurde 1945 und danach bekanntlich nicht die Konsequenz gezogen, diese Massenvernichtungswaffe weltweit zu ächten. Im Gegenteil: Ein wahnsinniges Wettrüsten führte dazu, dass das weltweite Atomwaffenarsenal zu Hochzeiten des Kalten Krieges rund 70.000 Atomsprengköpfe umfasste. Eine große Anzahl davon war in Deutschland deponiert. In der Bundesrepublik gab es in den 1980er Jahren über 5.000 Atomsprengköpfe der US-Armee in über 130 Depots. Dazu kommen britische Atomsprengköpfe. Und zudem russische Atomsprengköpfe in der DDR. Alles bestimmt für das atomare Schlachtfeld Europa.

Auch hier in unserer unmittelbaren Umgebung hatten wir Atomraketen. Ende 1980 war öffentlich bekannt geworden, dass in einem Depot auf der Haid bei Großengstingen, 13 km Luftlinie von hier, die US-Armee Atomsprengköpfe gebunkert hat und dass die Bundeswehr in der Kaserne dafür Lance-Kurzstreckenraketen bereithielt. In diesem "Sondermunitionslager Golf", wie die offizielle, aber verharmlosende Bezeichnung lautete, befanden sich damals sechs Atomsprengköpfe, jeder Atomsprengkopf mit der doppelten Sprengkraft der Hiroshima-Bombe ausgestattet. Damit hätte ein vielfaches Hiroshima erzeugt werden können - und zwar in erster Linie in unserem eigenen Land. Ab Ostern 1981 gab es in Großengstingen für rund ein Jahrzehnt lang immer wieder auch ganz besondere Protestaktionen. Und manche von uns haben dort an Demonstrationen und gewaltfreien Blockadeaktionen teilgenommen, für die wir damals verurteilt wurden. Die Atomsprengköpfe wurden schließlich Ende 1991 abgezogen. (Ausführlicher siehe hier: Gewaltfreie Aktion Großengstingen )

Noch näher bei Gammertingen liegt Inneringen - 8 km Luftlinie. Anfang 1983 wurde öffentlich bekannt, dass sich dort eine Alarmstellung der US-Armee mit Pershing-IA-Atomraketen befand. Alarmstellung hat bedeutet, dass dort im Normalfall 9 Atomraketen waren, die in kürzester Zeit hätten abgeschossen werden können. Im Frühjahr 1983 machten wir einen Ostermarsch von Gammertingen nach Inneringen und protestierten dort an der Raketenstellung mit rund 400 Menschen gegen die Raketenstellung. Diese Aktion sollte eigentlich der Auftakt werden für eine längerfristig angelegte Kampagne gegen die Atomraketen in Inneringen.

Aber welche Überraschung: im Sommer 1983 packte die US-Armee ihre Raketen und alles, was sonst beweglich war und räumte die Stellung. (Ausführlicher hierzu siehe hier:  Ostermarsch zu Atomraketen in Inneringen und Großengstingen )

In den 1980er Jahren fanden in der gesamten Bundesrepublik und auch international unzählige Protestaktionen gegen den atomaren Irrsinn statt. Auch nachdem die "Nachrüstung" mit den Pershing II-Raketen und den Cruise Missiles ab November 1983 nicht verhindert werden konnte, engagierten sich viele Menschen weiter gegen den atomaren Irrsinn. (Siehe hierzu: Geschichte der Friedensbewegung )

1987 wurde dann der INF-Vertrag zwischen Reagan und Gorbatschow unterzeichnet. Durch diesen Vertrag und weitere Verträge wurden in den späteren 1980er Jahren und Anfang der 90er Jahre zigtausende Atomwaffen vernichtet. Die Friedensbewegung in der Bundesrepublik und in anderen westlichen Staaten, das hat Gorbatschow betont, war ein wichtiger Faktor dafür, dass es zu dieser Abrüstung kam.

In den 76 Jahren atomarer Rüstung standen wir als Weltgemeinschaft mehr als einmal vor der völligen Zerstörung. Ob aus Absicht, durch einen Unfall oder durch Fehlalarme - der Einsatz von Atomwaffen stand auch nach 1945 öfter unmittelbar bevor. Nur 2 Beispiele.

Ich erinnere mich noch gut an die Kuba-Raketenkrise vom November 1962, als die Welt 13 Tage lang die Luft anhielt, weil eine unmittelbare militärische Konfrontation zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion drohte. Und die US-Regierung meinte es dabei durchaus sehr ernst mit ihrer Atomdrohung. Wir hatten damals Angst vor einem unmittelbar bevorstehenden Atomkrieg. Bei uns zu Hause wurden Lebensmittelvorräte für einen Kriegsfall angelegt, die allerdings bei einem Atomkrieg dann auch nicht mehr viel genutzt hätten. Aber dieses Erlebnis in meiner Kindheit hat mir zum ersten Mal die Gefahren eines drohenden Atomkriegs nahe gebracht.

Ein anderes gefährliches Ereignis: Im September 1983 erlebte der sowjetische Oberst Stanislaw Petrow einen Alptraum. Die sowjetische Frühwarnzentrale meldete den Start mehrerer amerikanischer Atomraketen. Dem Oberst blieben nur wenige Minuten für eine Entscheidung. Zu unser aller Glück ging er von einem Computerfehler aus und löste den atomaren Gegenschlag nicht aus. Also nur weil Petrow damals nicht versagte, wurde die Welt 1983 vor einem atomaren Inferno gerettet.

Wir können heute nur froh und dankbar sein, dass es nach den Verbrechen von Hiroshima und Nagasaki nie mehr zu einem Atombombeneinsatz gekommen ist!

Leider war das Ende des Kalten Kriegs ab 1990 nicht gleichbedeutend mit völliger atomarer Abrüstung. Im Gegenteil. Aktuell schätzt das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI, dass die Atomwaffenstaaten rund 13.400 Atomwaffensprengköpfe besitzen - davon 90% im Besitz von USA und Russland. Ein Potential, mit dem die Menschheit mehrfach ausgelöscht werden kann.

Dabei ist es aber nicht nur die pure Zahl an Atomsprengköpfen, zusätzlich gefährlich wird die Weltlage durch massive Anstrengungen der Atommächte, ihre Atomwaffen mit Milliardenbeträgen zu "modernisieren". Modernisieren bedeutet hier, sie tauglicher für einen tatsächlichen Kriegseinsatz zu machen. Dadurch wird aber die Gefahr eines Atomkrieges erheblich erhöht. Gefährlich ist es auch, weil inzwischen verschiedene Abrüstungsverträge aufgekündigt wurden und in den vergangenen Jahren wieder ein Kalter Krieg begonnen wurde.

Die "Weltuntergangsuhr", ein Projekt renommierter Wissenschaftler*nnen, zeigt seit 2020 hundert Sekunden vor 12 an. Damit sollen wir gewarnt werden: Aufgrund der aktuellen Atomrüstungspolitik und der Klimaerhitzung befindet sich die Menschheit kurz vor dem Abgrund und wir sind dem Weltuntergang so nah wie noch nie zuvor. Also eine äußerst dramatische Einschätzung unserer heutigen Weltlage. Es wird höchste Zeit, dass wir vom Rand des Abgrunds zurücktreten und die Atomwaffen abschaffen, bevor sie uns abschaffen! Und dass wir dafür sorgen, dass die Erde nicht weiter aufgeheizt wird!

Gibt es auch etwas, was in dieser Situation Hoffnung machen könnte?

Ja, das gibt es. Ich weiß nicht, ob das ins allgemeine Bewusstsein vorgedrungen ist. Vermutlich eher nicht. Aber am 22. Januar 2021 war ein historischer Tag, für den sich viele von uns eingesetzt haben. An diesem Tag wurde der Vertrag über das Verbot von Atomwaffen geltendes Völkerrecht, der 2017 von 122 Staaten in den Vereinten Nationen beschlossen wurde. Dieser Vertrag verbietet nicht nur die Herstellung, Erprobung, den Besitz und die Lagerung, sondern auch die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen.

Das Inkrafttreten dieses Vertrags im Januar ist ein historischer Meilenstein der globalen Bewegung für atomare Abrüstung, die vor 76 Jahren begann und nun bereits über mehrere Generationen andauert. Der Vertrag verkörpert den Willen eines großen Teils der Menschheit, ohne Atomwaffen zu leben. Und diesen Atomwaffenverbotsvertrag hätte es ohne Druck aus der Zivilgesellschaft kaum gegeben. Die Internationale Kampagne für die Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) hat hier eine ganz wichtige Rolle gespielt. Sie ist dafür auch 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Als Lebenshaus Schwäbische Alb e.V. sind wir eine der Partnerorganisationen von ICAN und gehören damit einem großen weltweiten Netzwerk an.

Zurück zum Atomwaffenverbotsvertrag. Bis heute wurde er von 55 Staaten ratifiziert und von 86 unterzeichnet. Deutschland gehört allerdings nicht dazu. Wie nahezu alle NATO-Staaten hat die deutsche Bundesregierung bereits die Verhandlungen zum Verbotsvertrag boykottiert.

Bisher will die Bundesregierung an der Stationierung von Atomsprengköpfen der US-Armee in Deutschland festhalten. Derzeit lagern rund 20 Atomsprengköpfe in Büchel in Rheinland-Pfalz. Diese Atombomben sollen durch Tornado-Flugzeuge der Bundeswehr transportiert und abgeworfen werden. "Nukleare Teilhabe" nennt sich das. Die USA haben vor, diese Atomsprengköpfe ebenfalls zu erneuern. Und das Bundesministerium, das für das Militär zuständig ist, hat beschlossen, dafür neue Kampfflugzeuge anzuschaffen. Damit würde die "nukleare Teilhabe" der Bundesrepublik für die kommenden Jahrzehnte festgeschrieben. Das ist keine Politik, die auf atomare Abrüstung setzt, im Gegenteil! Dabei wäre es aber doch wichtig, dass sich Deutschland endlich auch für ein Verbot der grausamsten Waffe der Welt einsetzt, anstatt die Atommächte und ihre Abschreckungspolitik zu stützen.

Deshalb muss die Zivilgesellschaft Druck auf die Bundesregierung machen, damit sie diesen Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnet und ratifiziert.

Die allermeisten der hier anwesenden werden es mitbekommen haben, dass wir gerade eine kleine Öffentlichkeitsaktion mit einem Aufruf "Hiroshima und Nagasaki mahnen: Unsere Stimme für das Atomwaffenverbot!" gemacht haben. Mit Unterstützung von 127 einzelnen Personen und 10 Organisationen aus nah und fern konnten wir diesen Aufruf als Anzeigen vorgestern im "Reutlinger Generalanzeiger" und "Schwarzwälder Bote" (Teilausgabe Zollernalbkreis) veröffentlichen konnten und gestern als ganzseitige Anzeige in den Amtsblättern unserer Region. Mit diesen Anzeigen konnten wir immerhin rund 50.000 Haushalte erreichen. Dazu kommen weitere Veröffentlichungen in den Medien des Lebenshauses.

In diesem Aufruf werden folgende Forderungen an die Bundesregierung gestellt, die ich abschließend nochmals hervorheben möchte.

"Wir erwarten von der zukünftigen Bundesregierung:

  • als Beobachter bei der 2022 stattfindenden Überprüfungskonferenz zum UN-Atomwaffenverbotsvertrag in Wien teilzunehmen - als ersten Schritt für einen raschen Beitritt Deutschlands zu diesem Vertrag;
  • die Beschaffung neuer Atomwaffen-Trägerflugzeuge für die Bundeswehr zu stoppen;
  • den Abzug aller US-Atombomben aus Deutschland."

Weitere Informationen:

Veröffentlicht am

09. August 2021

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