Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Rede zum Stuttgarter Friedenspreis 2003: “Wenn nicht ich, wer?”

Der Stuttgarter Friedenspreis 2003 wurde im Rahmen einer FriedensGala am 19.09.2003 im Theaterhaus in Stuttgart an das Komitee für Grundrechte und Demokratie verliehen. Die Autorin und Moderatorin Gabriele von Arnim hielt dabei eine sehr eindrucksvolle Rede über die Notwendigkeit von Courage und Engagement. Diese Rede wird hier dokumentiert.

Die Rede von Gabriele von Arnim sowie weitere Informationen zum Stuttgarter Friedenspreis 2003 finden sich als von der AnStiftung herausgegebene Stuttgarter Texte I auch hier als PDF-Datei . Gedruckte Exemplare sind ebenfalls erhältlich bei: AnStifter - ein Bürgerprojekt. Peter Grohmann Olgastraße 1 A, D 70182 Stuttgart, Tel. 07 11 - 24 84 75 93, AnStiftung@t-online.de. ISBN 3-927 340-63-4.

>> Friedensgala mit Verleihung des Stuttgarter Friedenspreises

>> Stuttgarter Friedenspreis an Bürgerrechtler, Lebenshaus Schwäbische Alb e.V. auf 6. Platz!


“Wenn nicht ich, wer?”

Von Gabriele von Arnim - Rede zum Stuttgarter Friedenspreis der AnStifter am 19. September 2003 zur Friedensgala im Stuttgarter Theaterhaus

Wenn nicht jetzt, wann?

Immer wieder bewundern wir Menschen, deren Herzen nicht nur für sich schlagen, klein und eng - bedacht allein aufs eigene Wohlergehen, deren Köpfe nicht nur für sich denken - dabei ohnehin langsam aber unaufhaltsam einschrumpfend, sondern die Herz und Kopf auch befragen für andere, Menschen, deren Verantwortungsgefühl hinausgreift über die eigene Person, die das Wort Gemeinwohl noch nicht altmodisch finden und sich daher aufgerufen fühlen, sich redend, protestierend, handelnd einzumischen ins gesellschaftliche Geschehen.

“Wenn nicht ich, wer? Wenn nicht jetzt, wann?”

Ein Wort von Hillel, einem großen jüdischen Gesetzeslehrer. “Wenn nicht ich, wer? Wenn nicht jetzt, wann?” In diesen Worten liegt die Aufforderung, Verantwortung für sich zu übernehmen und für die Welt, in der man ist. Sich selbst wahrzunehmen und den anderen auch. Um sich zu wissen und darüber hinaus um die Gesellschaft, in der man lebt, in dem “feinen Gefädel”, um Adorno zu zitieren - unausweichlich in diesen Tagen - dem feinen Gefädel, das Menschen miteinander verbindet.

Herzlich Willkommen, meine Damen und Herren, zur Feier der im “feinen Gefädel” wissend und fühlend Lebenden und Handelnden.

AnStifter nennen sie sich. In der Hoffnung, dass ihr Stiften ansteckend sein möge. Und vor allem ihr Engagement, ihre Phantasie, ihr Hinsehen. Ihr Mit dem Herzen Hinsehen.

Die “Phantasielosigkeit des Herzens” hat der Philosoph Karl Jaspers in seiner berühmten Vorlesung über die Frage von Schuld und Unschuld im Nationalsozialismus angeprangert. Und wer redet heute noch vom Herzen oder bemüht es gar? Dass da alles mögliche globalisiert wird - nur nicht das Herz, es sei denn als Organspende.

Aber ich komme vom Thema ab, bevor ich überhaupt angefangen habe. Vielleicht aber ist es auch das Thema. Wir werden sehen. Immerhin hat Karl Kraus das Herz “das edelste Verstandesorgan des Menschen” genannt.

“Ich weiß, wo das Böse steckt, und wie die Welt funktioniert”, hat der Schauspieler Dieter Pfaff kürzlich einmal gesagt, “aber ich will nicht an ihr ersticken. Ich will ihr etwas entgegensetzen.”

Aber wo soll man denn anfangen, fragen viele und fragen es so lange, bis sie müde sind. Wo soll man denn anfangen, fragen sie und beginnen nirgends.

Nicht mal mit den Ohren wackeln …

Nichts zu tun heißt, im Kaninchenstatus zu verharren, heißt, verängstigt auf die gefährliche Schlange zu starren und nicht einmal mit den Ohren zu wackeln. Die sich der Ohnmacht ergeben und sich vom Elend und Un-Sinn der Welt in die Reglosigkeit bannen lassen, leben lustlos und nicht ohne Selbstmitleid in ihrer Apathie - weil sie am Leiden der Welt so leiden müssen. Und damit helfen sie nun wahrlich niemandem, nicht einmal sich selber.

Es kostet Kraft, nicht zu verzweifeln - aber es gibt auch Kraft, wenn man sich wehrt. Wer sich gegen Apathie und Ohnmachtsgefühle und für das Engagement entscheidet, folgt nicht nur einem Überlebenstrieb, sondern handelt sogar aus Lebenslust: Denn zivilcouragiertes Handeln, so hat es Professor Schulz von Thun nach einem Seminar zum Thema Zivilcourage mit seinen Studenten erkannt, steigert die Selbstachtung, macht lebendig, ist dem eigenen Leben also außerordentlich zuträglich. Selbstachtung vertreibt Depressionen und Minderwertigkeitsgefühle. In anderen Worten:

Tu Gutes und es geht dir selber besser.

Wer aufbegehrt, wer darauf besteht, dem Elend und der Widerwärtigkeit sein trotziges Dennoch entgegenzuschleudern, wer sich die Lust auf Einmischung, die Lust auf Leben und die Hoffnung auf Frieden, Toleranz, Einsicht oder ein freundliches Miteinander nicht nehmen lassen will, der wird immer wieder mit diesem überlegenen Lächeln der Wissenden als naiver Tölpel abgetan.
Als ob Zynismus oder Apathie intelligenter seien.

Politische Apathie ist kein Ausweg

Der Sozialpsychologe Horst-Eberhard Richter gehört zu denen, die nicht aufhören wollen und nicht aufhören werden, Menschlichkeit einzufordern. “Aber inzwischen”, sagt er, “wird man ja quasi pathologisiert und als anachronistischer Jammerlappen abgetan.”

Nur: Politische Apathie ist kein Ausweg, politische Apathie ist eine Sackgasse und kann zum Weg in die Schuld werden.

Biedersinnige Ausblender

Gerade wir Nach-Nazi-Deutsche haben allen Grund, hinzusehen und zu handeln. Es waren auch die Zu- und Wegschauer, die stummen Mitmacher, die Mitmarschierer und Mitsinger, die biedersinnigen Ausblender, die mitschuldig wurden an den millionenfachen Morden, die wir heute gern in dem einen Wort “Auschwitz” bündeln.

Oder noch lieber in dem Wort Holocaust - als könnten wir mit dem Fremdwort vielleicht auch die Tat ein wenig zur Fremd-Tat machen.

Gewiss, es lebt sich nicht nur behaglich in dieser Welt, aber im politischen Schneckenhaus geht es leblos zu. Geschützt durch einen Panzer, der eher Käfig ist - und gekleidet in die Lethargie, rufen die Apathischen zu ihrer Verteidigung: Es nützt ja doch nichts!

Nur, ist denn Einsatz vom Erfolg abhängig? Ist jeder Protest, der verhallt, vergebens gewesen? In Südindien haben wütende Bauern monatelang gegen die Agrarpolitik ihrer Regierung protestiert. Vergebens. Dann versammelten sie sich zu Tausenden vor dem Parlamentsgebäude und lachten zwei Stunden lang die Regierung aus. Vermutlich auch vergebens. Auch ein Protest, der verhallte. Aber wer würde behaupten wollen, dass er unsinnig war?

Wenn der Sinn des Engagements vom Erfolg abhinge, wäre jeglicher Widerstand in Diktaturen barer Un-Sinn. Und die Welt wäre an Vorbildern ärmer. Aus der Resignation erwachsen keine Phantasie, kein Mut und keine gerechte Tat. Sie, die Resignation, wagt ja nicht einmal, zu scheitern.

Anmaßung im Nichtstun

Ich glaube inzwischen nicht mehr, dass Resignation allein aus der Verzweiflung kommt; ich argwöhne vielmehr, dass auch ein Stück Anmaßung in dem Nichtstun liegt, dass womöglich der Hochmut ein Bruder der Lethargie ist.

Das Engagement ist sicher bescheidener. Es hat nicht vor, die Welt in toto zu ändern und die Menschheit zu retten, es will Inseln der Integrität, der Zivilcourage, ja der Menschlichkeit bauen. Die Hoffnung setzt nicht auf Sieg. Sie setzt auf kleine Verbesserungen. Die Resignation nimmt, da sie nicht siegen kann, den Untergang in Kauf. Das Engagement wehrt sich. Die Handelnden sind pragmatisch. Die Lethargischen absolut. Sie frönen einem Fundamentalismus, der niemandem hilft.

Es nützt ja doch nichts

Es nützt ja doch nichts. Hätte das Komitee für Grundrechte und Demokratie, hätten Hanne und Klaus Vack sich diesem Diktum der Tatenlosigkeit unterworfen, wären keine 10 Millionen Mark für Flüchtlinge und Opfer des Jugoslawien Krieges gesammelt worden und wären die beiden auf ihrem heimischen Sofa sitzen geblieben, statt in hundert beschwerlichen Reisen in Kriegsgebiete Hilfsgüter in die Flüchtlingslager zu bringen.

Dann hätte es keine Freizeiten für Kinder aus Kriegsgebieten gegeben.

“Ferien vom Krieg.” Was für eine fantastische Idee, und welch friedensstiftende! Da sind Kinder aus kriegsgegnerischen Ländern zusammen in einem Camp. Da ist der Feind auf einmal ein Mensch. Ist ein Kind wie man selbst eines ist. Ein Kind, mit dem man spielen kann.

Es nützt ja doch nichts? Gewiss, keinen einzigen Krieg konnte das Komitee für Grundrechte und Demokratie bisher verhindern. Aber sie konnten Leiden mindern. Einige Leiden mindern. Ein Tropfen auf den heißen Stein - na und. Wie hat es Herbert Riehl Heyse, der viel zu früh gestorbene Journalist bei der Süddeutschen Zeitung einmal so schön geschrieben: Für den, der sich gerade hinsetzen wolle, seien die kühlen Tropfen auf dem heißen Stein ein köstlicher Balsam, denn sonst hätte er sich seinen Hintern verbrannt.

Hinzuschauen und dennoch nicht zu resignieren, ist eine Kunst oder vielleicht sogar Pflicht? Sophie Scholl schrieb knapp drei Wochen vor ihrer Hinrichtung an eine Freundin: “…doch hüte ich mich, diesem Gefühl der Müdigkeit …nachzugeben. … Es ist ein gefährlicher Zustand, eine Sünde sogar, wenn man seinen eigenen Schmerz pflegt.”
Als sie das schrieb, war Sophie Scholl 21 Jahre alt.

Eindösen im Lehnstuhl der Demokratie

Wir haben es heute - im Vergleich - so leicht, uns einzumischen, aufzubegehren. Wir haben Glück. Wir brauchen nicht den Mut, von dem man nicht weiß, ob er einem zuwachsen würde, wenn es nötig wäre, Widerstand zu leisten. Die Gnade der späten Geburt hat unsere Generation gnädig davor bewahrt, uns in mörderischen Zeiten bewähren zu müssen. Aber das heißt noch lange nicht, im behaglichen Lehnstuhl der Demokratie eindösen zu dürfen. Plötzlich ist das Polster durchgesessen und dann wird es verdammt ungemütlich. Demokratie ist kein Zustand. Demokratie ist ein Prozess. Und Gratismut ist das Privileg der Demokratie, Zivilcourage die Voraussetzung für ihren Bestand.

Zivilcourage ist eben nicht nur das Gegenteil von Feigheit, sondern auch das Gegenteil von Lethargie und Schweigen.

Zivilcourage widersteht der Resignation

Und ist kein Abenteuer, sondern eine Geisteshaltung im Alltag. Bürgerlichen Mut haben nicht nur die intellektuellen Verteidiger der Aufklärung, die sich dann, wenn ihre Ideale mit Füßen getreten werden, streitbar zu Wort melden oder es jedenfalls tun sollten.

Bürgermut haben auch und gerade der viel zitierte kleine Mann und die weniger häufig zitierte kleine Frau, die nicht vergessen, dass der Mann, die Frau, das Kind nebenan Menschen sind wie sie.

Als in einer Diskussion ein junger Mann einmal fragte, welche Lehre man denn nun aus den Schrecken des Nationalsozialismus ziehen könne und er zur Antwort bekam, sich in barmherziger Zivilcourage zu üben, meinte er enttäuscht:
“Ist das alles?”

Eingreifen
Widersprechen
Aufstehn

Es ist das Schwierigste. Wir brauchen uns nur im Alltag selbst zu beobachten:

Greifen wir ein, wenn ein Ausländer in der U-Bahn als Kanake oder Bimbosau beschimpft wird oder wenn junge Leute das Horst-Wessel-Lied singen?

Widersprechen wir unseren Vorgesetzten, von denen wir beruflich abhängig sind, wenn uns deren politische Linie oder deren Handlungsweisen moralisch empören?

Stehen wir beim Abendessen auf, wenn jemand rassistische Witze erzählt und uns mit diesem dröhnenden Lachen der Unbelehrbaren maltraitiert?

Und wenn der Bruder, die Schwester, der Freund politisch dorthin driften, wo wir ihnen nicht mehr folgen können, schaffen wir es dann, befreundet oder jedenfalls im Gespräch zu bleiben mit ihnen?

Manchmal ist es einfacher, gegen einen Krieg auf die Strasse zu gehen, als im eigenen Umfeld die eigene Meinung zu sagen und: Die andere Meinung anzuhören.

Ach, die vielen schönen Worte. Gemeinwohl, Zivilcourage, Toleranz, Engagement, und wir wissen doch alle, wie einfach es ist, mit Worten die bessere Welt einzuklagen, und wie schwierig dagegen, in der eigenen, kleinen Umgebung das Anderssein der anderen zu akzeptieren. Das beginnt ja schon in der Ehe, in der Familie, in der Freundschaft. Wäre mein Mann hier, würde er wohl sagen: Du und tolerant.

Dulden heisst beleidigen

Tolerare heißt übrigens ertragen, dulden. Und schon Goethe schrieb in seinen Maximen und Reflexionen: “Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein. Sie muss zu Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.”

Toleranzkunde hat sich Alexander Mitscherlich einmal als Schulfach gewünscht. Denn Wissen ist eine Voraussetzung für Toleranz. Weil Intoleranz mit Angst zu tun hat. Mit der Angst vor allem, was fremd ist, wovon man nichts weiß. Wie soll man sich verhalten, wie reagieren, wenn ein Mädchen mit Kopftuch in die Klasse kommt und ein Weihnachten mit Baum und Gans und Lichterglanz nicht kennt. Man ist scheu und fühlt sich blöd, und der Schritt vom Ich-Depp zum Du-Depp, der ist ganz kurz. Und verspricht Befriedigung. Wenn man den anderen klein macht, wird man selber größer. So einfach ist das.

Alexander Mitscherlich, um ihn noch einmal zu zitieren, wollte die Toleranzkunde in den Schulen installieren, weil er wusste, dass die Entwicklung toleranter Verhältnisse innerhalb einer Gesellschaft auch die Voraussetzung ist für außenpolitische Friedfertigkeit.

Lust haben am Handeln

Der Dank geht an die AnStifter, der Dank geht an ihren heutigen Preisträger, das Komitee für Grundrechte und Demokratie, der Dank geht an Hanne und Klaus Vack für ihren Einsatz, für ihre Beharrlichkeit und ihre Nicht-Resignation. Der Dank geht an sie, die aufklären, informieren, Gedankenfreiheit reklamieren, Geschichtsvergessenheit anprangern, die protestieren gegen “jeden Frevel am Menschen schlechthin” (A.V.Thelen) und zu helfen versuchen.

Die nicht Lust haben an der Macht, sondern am Machen, am Handeln, am eigenen Denken. Die nicht die Wahrheit verkleiden, sondern sie zu enttarnen suchen.

… und Tacheles reden

Schuld sind immer w i r anderen, hat die Münchner Lach- und Schießgesellschaft vor Jahren einmal ein Programm genannt. Das ist eine unbequeme Wahrheit. Da muss man Tacheles reden mit sich selbst. Und sich fragen, wie man denn agiert, in einer Gesellschaft, die Solidarität fordert und Egoismus lebt, die die Menschenwürde angeblich hochschätzt und sie täglich beiseite schiebt, die Gewalt verachtet und sie finanziert. Wir sind es doch, die die Zeitschriften und Zeitungen kaufen, die von Mord und Krieg und Vergewaltigungen auch genüsslich in seitenlangen farbigen Fotoreportagen berichten.

Prügeln, schießen, quälen

Wir lassen uns und unsere Kinder Filme sehen, in denen geprügelt, geschossen, gequält und getötet wird - als gehöre ein solches Verhalten zum ganz normalen Alltag. Fast 40% der 9-10jährigen Kinder haben einen eigenen Fernsehapparat in ihrem Zimmer. Ist das etwa ihre Schuld?

Nach einer Untersuchung amerikanischer Psychologen hat ein zehnjähriges Kind in den Vereinigten Staaten rund 8000 Morde und 100.000 andere Gewaltakte im Fernsehen gesehen.

Wir reden von Toleranz und leben fürs Geld.
Wir reden vom Krieg für Menschenrechte und meinen immer wieder wertvolle Rohstoffe.
Wir fordern Menschenwürde und lassen Tag für Tag Menschen entwürdigen, denn das geschieht ja auch im Kleinen, man entwürdigt auch Menschen, indem man sie vorführt und ausbeutet in angeblich unterhaltsamen Fernsehshows.

Wehret den Anfängen heißt der berühmte Satz, den man so gern zitiert und genau so gern und schnell vergisst.
Wir nehmen Jahr für Jahr Tausende Verkehrstote und Hunderttausende Verletzte hin, als sei deren Tod oder deren Verstümmelung unabänderliches Schicksal und nicht Folge der ungeheuren Aggressivität auf den Straßen.

In den Vereinigten Staaten - das nur nebenbei - sind in der Zeit des Vietnamkrieges mehr Menschen durch Mord zu Hause umgekommen als durch Kriegshandlungen in Vietnam.

Wir leben in einem reichen Land und nehmen es hin, dass Hunderttausende in Notunterkünften und Obdachlosenheimen leben müssen. Auch Kinder.

Wir fliegen mit Flugzeugen in die Welt, fahren mit unseren Autos in die Städte und verpesten die Luft. In München hat es schon Tage gegeben, an denen Eltern geraten wurde, ihre Kinder wegen der hohen Ozonwerte nicht auf die Straße zu lassen.

Autos durften draußen spielen, Kinder mussten drinnen bleiben.

Das ist absurd und streng genommen ja wohl auch eine Form von Gewalt - oder, wenn Sie es sanfter möchten: Es ist nicht gerade ein Ausdruck von Fürsorglichkeit. Und wir nehmen es nicht nur hin, wir machen mit. Es ist dieser und anderer alltägliche kleine Wahnsinn, der verkehrte Maßstäbe setzt, der verwirrt und mürbe macht. Unser Wahnsinn. Wir leben mit so vielen Lebenslügen. Und dann wundern wir uns großäugig verheuchelt, wenn Anstand, Geist und Gefühl verkommen, wenn Glaubwürdigkeit zum Fremdwort wird und Respekt zum irgendwie rührenden Anachronismus.

“Ich habe nur eine Leidenschaft, schreibt Zola in seinem berühmten J’accuse, “das ist die Aufklärung im Namen der Menschheit. Mein flammender Protest ist nur der Aufschrei meiner Seele.”

Heute würde wohl auch Emile Zola belächelt werden, wäre der Bild-Zeitung gewiss keinen Aufmacher wert. Wer redet schon von der Seele und ihrem Aufschrei. Vom Leiden am Menschen und Leidenschaft für den Menschen.

Leidenschaften, Passionen sind altmodisch, hat mir vor ein paar Tagen ein heutiger Schriftsteller erklärt. Ein Konzept aus dem 19. Jahrhundert. Sie passen nicht, meinte er, in unsere heutige Welt.

Antwort auf Zynismus

Und wenn wir sie gerade deshalb brauchen? Als Antwort auf Zynismus. Und auf die Lethargie.

Wenn nun die neue Herausforderung, lassen Sie uns doch einfach hier einmal gemeinsam versuchen, aus einem entrümpelten Kopf heraus zu denken, wenn nun die neue Herausforderung nicht hieße noch mehr Waffen, noch mehr unbedachte Globalisierung oder noch mehr Fortschritt, von dem keiner so genau weiß, wo er hin schreiten soll, vielleicht in noch mehr so genannte Zivilisation, die sich u.a. ausdrückt in den so genannten Zivilisationskrankheiten, wenn nicht das schiere Schneller, Höher, Weiter im Autobau wie in der Erziehung unser Ziel bliebe, sondern wenn nun die neue Herausforderung die liebevolle Hinwendung zum Nächsten wäre, Zärtlichkeit, Nachdenklichkeit, Güte, Demut, Humor. All dieser altmodische Kram! Und wenn das am Ende der wirkliche Fortschritt wäre!?

Auf einer Friedensgala, denke ich, darf man ja auch mal phantasieren. Und der Phantasie das Wort reden. Wie Karl Kraus es tat, der schrieb:

“Es wäre mithin zum inneren Aufbau der Welt unerlässlich, ihr das wahre Rückgrat des Lebens, die Phantasie, zu stärken.”

Vielen Dank

© Gabriele von Arnim


Der Stuttgarter Friedenspreis

Der Stuttgarter Friedenspreis der AnStifter wird jährlich an Projekte, Initiativen oder Menschen verliehen, die gegen den Strom schwimmen und sich für Frieden, Gerechtigkeit und eine solidarische Welt eingesetzt haben und einsetzen.

Der Stuttgarter Friedenspreis

ist kein lokaler oder regionaler Preis.
Der Name Stuttgart wird allerdings daran erinnern, dass auch hier bedeutende
Rüstungsfirmen zu Hause sind.

AnStifter - ein Bürgerprojekt
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Konto 801 296 4700
GLS Gemeinschaftsbank Bochum
BLZ 430 609 67
AnStifter / Friedenspreis 2004

Veröffentlicht am

28. September 2003

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