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Soziale Verteidigung: Ohne Waffen - aber nicht wehrlos

Von Michael Schmid - Vortrag am 18. März 2023 in Gammertingen, bei dem Julia Kramer zwischendurch über die gewaltfreie Revolution im Sudan berichtete. Der ausführliche Hinweis für die Veranstaltung am 18. März 2023 in Gammertingen befindet sich hier:  Gammertingen: Soziale Verteidigung: Ohne Waffen - aber nicht wehrlos .

Anlässlich unserer Veranstaltung habe ich mir nochmals überlegt, wie ich mit dem Thema Soziale Verteidigung in Berührung gekommen bin. Da ich zunächst zur Bundeswehr ging und damals nicht den Kriegsdienst verweigerte, entging mir hier eine potentielle Berührungsmöglichkeit mit Sozialer Verteidigung, die häufig in der Beratung für Kriegsdienstverweigerer (KDV) thematisiert wurde. Erstmals von Sozialer Verteidigung hörte ich 1975, als mir mein Freund Ekki Morlock ganz begeistert davon erzählte, dass er in seiner KDV-Beratung etwas von Sozialer Verteidigung gehört habe und von einem gewissen Prof. Theodor Ebert, der dazu Bücher geschrieben habe. In der Folgezeit habe ich dann doch einiges über Soziale Verteidigung gelesen, vor allem als ich 1978 Mitglied im Internationalen Versöhnungsbund und in der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) geworden war. Jedenfalls war mir bei meiner KDV 1980 das Thema auch ohne Beratung geläufig. Ab 1983 war ich Abrüstungsreferent im Landesvorstand der DFG-VK und hatte u.a. dort viel mit Alternativen zu militärischen Abschreckungskonzepten zu tun. Dazu gehörte auch das Konzept der Sozialen Verteidigung - ich schrieb Artikel und hielt Vorträge zum Thema. Vorläufig letztmals im März 1991 hielt ich in Metzingen einen Vortrag zu Sozialer Verteidigung. Dann war dieses Thema nach Ende des Kalten Krieges nicht mehr groß gefragt. 2004 wurde ich wieder einmal zu einem Vortrag zur Sozialen Verteidigung nach Ravensburg eingeladen, dann gab es wieder eine große Pause, was Vorträge zur Sozialen Verteidigung anbelangt, bis heute.

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im vergangenen Jahr gab es dann plötzlich in manchen Kreisen wieder neu erwachtes oder überhaupt erstes Interesse an Sozialer Verteidigung. Zumindest in pazifistischen Kreisen gab es ein Erschrecken, für wie alternativlos die Unterstützung die militärische Verteidigung und bewaffnete Gegenwehr der Ukraine gehalten wurde, wie sehr die Kriegslogik dominiert und wie sofort auch eine wahnsinnige Aufrüstung der Bundeswehr angekündigt wurde. Da besannen sich manche, mich eingeschlossen, wieder auf Soziale Verteidigung.

In der Ukraine gab es in den ersten Monaten deutlich sichtbaren zivilen Widerstand, der auch uns hoffen ließ, es gäbe dort eine Alternative zum militärischen Widerstand und Krieg. Klar ist aber, dass wir der ukrainischen Bevölkerung keine Empfehlungen geben können, wie sie sich wehren soll.

Deshalb geht es heute in erster Linie darum, warum für uns das Thema Soziale Verteidigung interessant sein kann.

Gliederung des Vortrags:

  1. Warum Soziale Verteidigung?
  2. Geschichte des Konzeptes Soziale Verteidigung
  3. Geschichtliche Erfahrungen: Gewaltlosigkeit in verschiedenen Konflikten, u.a. Philippinen und Sudan
  4. Gewaltfreiheit als Element der Sozialen Verteidigung
  5. Die Strategie der Sozialen Verteidigung
  6. Mindestens zwei Denkrichtungen von Sozialer Verteidigung

1. Warum Soziale Verteidigung

Die herrschenden Eliten in den Gesellschaften rechtfertigen die Existenz des Militärs vor allem damit, bestimmte politische und gesellschaftliche Zustände gegen gewaltsame Angriffe von außen beschützen zu wollen. Zumindest ursprünglich ging es dabei um Landesverteidigung und Verteidigung innerhalb der NATO, dann wurde unsere "Sicherheit" in Afghanistan verteidigt, heute unsere "Freiheit" in der Ukraine. Und weil diese Legitimation durch eine angebliche Verteidigung von einer großen Mehrheit der Bevölkerung mehr oder weniger geglaubt wird, unterstützen sie dann letztlich eine entsprechende Politik - also Aufrechterhaltung einer Bundeswehr, Aufrüstung, Teilnahme an Kriegen. Alles soll unserem eigenen "Schutz" dienen. Weniger laut gesagt wird, aber doch in offiziellen Dokumenten aufzufinden, dass als mögliche Aufgabe der Bundeswehr zum Beispiel auch die Sicherung der Transportwege für Öl und Gas und andere Ressourcen in aller Welt gehören (erstmals in "Verteidigungspolitische Richtlinien" 1992, Weißbuch 2006, etc.)

Bereits diese kurze Auflistung im Schaubild zeigt, dass die angebliche Schutzfunktion durch das Militär nicht glaubhaft aufrechterhalten werden kann, ganz im Gegenteil. Militärische Konfliktlogik zerstört das, was sie zu schützen vorgibt. Sie kann bis zu unserer eigenen Vernichtung führen.

Das 1981 erschiene Buch "Im Hause des Menschenfressers" von Dorothee Sölle charakterisiert unsere heutige Situation treffend. Für sie stand der "Menschenfresser" für eine politische Ordnung des Militarismus, für die Ausplünderung der Erde und ihrer Ressourcen, für die Verelendung weiter Teile der Menschheit. Ein Gedicht in diesem Buch endet so: "Eines Tages, das war noch nie anders, frisst uns der Menschenfresser. Das war immer so, bisher."

Unser Freund Peter Bürger hat die aktuelle Situation wie folgt auf den Punkt gebracht:

"Wer die letzten drei Jahrzehnte nicht verschlafen hat, weiß, dass die interessengeleitete militärische Heilslehre die höchste Stufe der Irrationalität ist und noch niemals ein einziges proklamiertes Heilsversprechen eingehalten hat. Außer Leichenbergen, Tränen und astronomischen Rüstungsprofiten vermag sie rein gar nichts hervorzubringen. Es ist zu spät auf der Erde für ein Festhalten an der Militärreligion. Das weiß eine Mehrheit der Menschen. Die großen Nachrichtenredaktionen hierzulande werden es auf Dauer nicht ignorieren können."

Fast zwangsläufig kann man sich nun fragen, ob es Mittel der zwischengesellschaftlichen Konfliktaustragung gibt, welche die Bewahrung menschlichen Lebens und den Schutz von der als verteidigungswert ankerkannten gesellschaftlichen Ordnung ermöglichen würden. Gibt es also einen dritten Weg zwischen Aufrüstung, Militär, Krieg - oder Wehrlosigkeit und Kapitulation? Das Konzept der Sozialen Verteidigung, das aus der Friedens- und Konfliktforschung stammt und von Teilen der Friedensbewegung aufgegriffen wurde, beansprucht für sich, eine Alternative zu sein.

Soziale Verteidigung ist ein Konzept, wie sich eine Gesellschaft gegen militärische Übergriffe und Putsche verteidigen kann, ohne selbst Gewalt anzuwenden. Es wird also davon ausgegangen, dass Menschen die Lebensweise ihrer Gesellschaft mit gewaltfreien Mitteln gegen einen bewaffneten Angreifer von außen oder innen behaupten können.

2. Geschichte des Konzeptes Soziale Verteidigung

Ich möchte kurz auf die Geschichte der Idee der Sozialen Verteidigung eingehen.
Es gab wichtige Vorläufer. Bereits 1938 hatten holländische sozialistische Antimilitaristen um Bart de Ligt unter dem Titel "Pazifistische Volksverteidigung" ein gut durchdachtes Konzept einer zivilen gewaltlosen Verteidigung vorgelegt.

Und Gandhi wiederum wollte an Stelle einer indischen Armee ein Netzwerk von gewaltfreien Aktionsgruppen aufbauen. Er nannte diese alternative Institution schließlich "Shanti Sena", was wörtlich übersetzt etwa "Friedensarmee" heißt. Allerdings konnte diese Idee durch ihn vor seiner Ermordung 1948 nicht mehr konkretisiert werden. Aber die Idee der Shanti Sena wurde in den 1950er- und 60er-Jahren auch in der deutschen und europäischen Friedensbewegung aufgegriffen, so in Deutschland zum Beispiel 1962 durch die von Theodor Ebert initiierte Stuttgarter Gewaltfreie Zivilarmee (GZA).

Der Begriff "Soziale Verteidigung" stammt von dem norwegischen Friedensforscher Johan Galtung, der ihn in einem Vortrag 1964 zum ersten Mal verwendet und erläutert hat. In der Folgezeit wurde der Begriff der Sozialen Verteidigung von weiteren Friedensforschenden geprägt und ziviler Widerstand als Mittel der Verteidigungspolitik erforscht, u.a. neben Galtung, von Gene Sharp, Adam Roberts, April Carter, in Deutschland dann ab 1967 von Theodor Ebert. Unter seiner Leitung wurde die Studiengruppe "Soziale Verteidigung" in der "Vereinigung Deutscher Wissenschaftler", die in den Jahren 1970 bis 1974 intensiv zu Fragen der Sozialen Verteidigung arbeitete, u.a. mit Wolfgang Sternstein, Roland Vogt und Gernot Jochheim etabliert. Ihrer Meinung nach waren Pazifismus, Antimilitarismus und Anarchismus zur Erfolglosigkeit verdammt, solange sie keine überzeugende Alternative zum Militär anzubieten haben. Deshalb waren sie auf der Suche nach einer alternativen Verteidigungsform ohne Militär gegen die damals allgemein angenommene "Bedrohung aus dem Osten". Erst im Laufe der Zeit wurden die Bedrohungsanalysen verändert, die in den Forschungsarbeiten zugrunde gelegt wurden. Es wurde dann die Möglichkeit von Staatsstreichen und später die Intervention ehemals befreundeter Staaten mit einbezogen.

Ab der zweiten Hälfte der 70er Jahre wurde Soziale Verteidigung verstärkt von gewaltfreien Aktivist:innen aufgenommen und in die eigene Argumentation integriert.

Auch im Zusammenhang mit Kriegsdienstverweigerung und bei den damals noch üblichen mündlichen Anhörungsverfahren spielte Soziale Verteidigung eine Rolle.

In den 80er Jahren erlebte die Friedensbewegung in einer intensiven Auseinandersetzung mit der Kriegsgefahr und mit atomaren Strategien einen unvorstellbaren Zuspruch und Aufschwung. Viele Menschen blieben zwar in reiner Protesthaltung hängen und beteiligten sich später auch nicht mehr an Aktionen, als die neuen atomaren Mittelstreckenwaffen ab 1983 stationiert wurden. Andererseits gab es sehr viele Menschen, die sich nicht mit einem NEIN allein begnügen wollten und sich deshalb auf die Suche nach Alternativen begaben. Das JA, also eine Alternative zum Militär, wurde häufig in der Sozialen Verteidigung gesehen.

Als im Juni 1988 zu einem großen Kongress "Wege zur Sozialen Verteidigung" ins westfälische Minden eingeladen wurde, versammelten sich über 1.000 Teilnehmenden. Bei diesem Kongress wurde die Gründung des Bundes für Soziale Verteidigung ankündigt. In einer Erklärung hieß es: "Der Bund für Soziale Verteidigung ist ein Zusammenschluss von Menschen, die sich darin einig sind, dass es an der Zeit ist, gewaltfreie Formen und Methoden der Konfliktbewältigung durchzusetzen, Gewaltverhältnisse abzuschaffen und eine entmilitarisierte, ökologisch verantwortbare und gerechte Gesellschaft aufzubauen."

1989 wurde dann der "Bund für Soziale Verteidigung" gegründet, der ein noch heute existierender pazifistisch-antimilitaristischer Mitglieder- und Dachverband ist, der jetzt ungefähr 345 Mitglieder sowie 31 Mitgliedsorganisationen hat.

Mit den Umbrüchen 1989 und dem Ende des Kalten Krieges verschwand allerdings in Westeuropa die Angst vor einem militärischen Angriff - und damit auch das Interesse an Sozialer Verteidigung und der Notwendigkeit, sie in friedenspolitischen Debatten als Alternative in den Vordergrund zu stellen.

3. Geschichtliche Erfahrungen: Gewaltlosigkeit in verschiedenen Konflikten

Ein gedanklicher Baustein für das Denkmodell einer gewaltlosen Verteidigung sind jene zahlreichen Beispiele in der Geschichte, in denen sich Menschen mit gewaltlosen Mitteln gegen ungerechte Herrschaft wehrten.

Dies waren Fälle, in denen soziale Gruppen erfolgreich zu Methoden gewaltlosen (zivilen) Widerstandes gegriffen haben, um sich Formen von Fremdherrschaft, reaktionären Staatsstreichen, diktatorischen Regimen oder militärischen Invasionen bzw. Interventionen zu widersetzen. Genannt seien z.B.:

  • Widerstand gegen den Kapp-Putsch 1920, der sich gegen die Regierung in der jungen Weimarer Republik richtete.
  • Ruhrkampf 1923 gegen die Besetzung durch französische und belgische Truppen.
  • Befreiungskampf der indischen Unabhängigkeitsbewegung unter Führung von Mohandas K. Gandhi gegen britische Kolonialherrschaft.
  • Widerstand gegen die nationalsozialistischen Gleichschaltungsversuche während des Zweiten Weltkriegs in Norwegen, Dänemark und den Niederlanden.
  • Widerstand der Frauen 1943 in der Berliner Rosenstraße gegen die Deportation ihrer jüdischen Männer.
  • Widerstand in der CSSR gegen die militärische Intervention von fünf Warschauer-Pakt-Staaten 1968/69.
  • Friedliche Revolution in der DDR mit Mauerfall im Herbst 1989.

People’s-Power-Bewegung Philippinen

Zur Vorgeschichte gehört, dass es auf den Philippinen unter Ferdinand Marcos eine der brutalsten Diktaturen in Asien gab, unterstützt durch die USA, welche die Philippinen zu einem großen Truppenstützpunkt ausgebaut hatten. 1983 kehrte der Oppositionspolitiker Benigno "Ninoy" Aquino freiwillig aus seinem Exil aus den USA zurück. Als er in Manila aus dem Flugzeug ausstieg, wurde er ermordet. Zwei Millionen Menschen nahmen an seinem Begräbnis teil. Eine Massenbewegung gegen das Marcos-Regime entstand. Doch an der diktatorischen Politik änderte sich nichts. Immer mehr Menschen kamen zu der Überzeugung: "Man sieht es ja: Gewaltfreiheit bringt nichts." Immer weniger kamen zur friedlichen Demonstration. Immer mehr schlossen sich dem bewaffneten Untergrund an. Die Spannung steigerte sich, Bürgerkrieg lag in der Luft.

Hildegard Goss-Mayr und Jean Goss waren im Namen des Internationalen Versöhnungsbundes unterwegs in vielen Ländern der Welt, um politische Führungskräfte und Unterdrückte für den gewaltfreien Widerstand gegen Elend, Ausbeutung und Diktaturen zu schulen. Anfang 1984 wurden die beiden von Politikern und Bischöfen um Hilfe gebeten und auf die Philippinen eingeladen.

Im Februar 1984 reisten Hildegard Goss-Mayr und Jean Goss zunächst durch die Philippen, um die Menschen und die Lage kennen zu lernen. Dann erläuterten sie führenden Oppositionellen, Gewerkschaftsführern, Studierenden, auch Kirchenleuten und Menschen aus der bürgerlichen Opposition, das gewaltfreie Einsatzkonzept und erklärten ihre Bereitschaft, Schulungen und Seminare durchzuführen, sobald eine Entscheidung für gewaltfreies Vorgehen gefallen sei, und reisten nach Wien zurück.

Im Juni 1984 wurden sie zurückgerufen. Sie hielten Seminare für Multiplikator:innen in gewaltfreier Aktion ab, darunter auch eines für 30 Bischöfe. Dabei ging es um die Analyse der Situation und Trainings. Eine neue Organisation wurde gegründet, die auf breiter Ebene Schulungen und vielfältige andere Vorbereitungen ins Werk setzte. So wurde an der längerfristigen Überwindung der Diktatur gearbeitet.

Unter dem Druck der immer stärker werdenden Bürgerbewegung und dem politischen Druck aus den USA verkündete Marcos vorgezogene Neuwahlen für Februar 1986.

Cory Aquino, die Witwe des ermordeten Ninoy Aquino, wurde bedrängt, sich als Kandidatin der Opposition zur Wahl zu stellen. Bei den Wahlen gab es dann ganz offensichtlich einen riesigen Betrug durch das Marcos-Regime. In der Folge setzten sich der Verteidigungsminister und der Generalstabschef von Marcos ab, erklärten über Radio, dass sie Cory Aquino als legitime Präsidentin anerkannten. Sie verschanzten sich in einem Militärcamp an der großen Autostraße, die Manila durchquert -  kurz: EDSA. Agapito Aquino, der jüngste Bruder von Ninoy Aquino, Führer einer Oppositionspartei, hörte im Radio die Erklärung der beiden Dissidenten und beschloss, sofort zu handeln. Nun erinnerte er sich an das Beispiel Prag 1968, von dem er in einem Seminar von Hildegard und Jean gehört hatte: Menschenmauern hielten Panzer auf. Er war überzeugt, dass nur eine Kraft dazu in der Lage ist, ein Blutbad zu verhindern: People Power, die geeinte Kraft des Volkes. Sie müsse die Stadt und die Dissidenten vor Panzern und Bomben schützen. Er appellierte gemeinsam mit Kardinal Sin über den katholischen Radiosender Veritas an die Bevölkerung, einen Schutzwall um die Deserteure zu bilden: "Blockiert die Zugänge zum Camp, verhindert einen Angriff der Regierungstruppen. Es darf nicht geschehen, dass Filipinos einander töten!"

In der ersten Nacht waren es noch wenige, aber zum Glück intervenierten die Regierungstruppen noch nicht. Doch am nächsten Morgen strömten Tausende, Hunderttausende auf die EDSA, dann bis zu zwei Millionen Menschen. Nun rückten Panzer aus verschiedenen Richtungen auf das Militärcamp zu, in dem sich die Deserteure befanden.

Film: People Power Philippinen 24. Februar 1986: Menschen stoppen Panzer: https://www.youtube.com/watch?v=1guSlBcXuMc

In der Folge liefen die gesamten Streitkräfte zu Cory Aquino über. Marcos verlor den letzten Fernsehkanal. Gleichzeitig wurde Cory Aquino als Präsidentin vereidigt. Nun erkannten auch die USA, dass sie Marcos nicht länger halten konnten. Mit einem Hubschrauber wurde er auf eine ihrer Militärbasen gebracht. People Power hatte gesiegt.

Martin Arnold, der sich intensiv mit Gewaltfreiheit und mit der Revolution in Philippinen beschäftigt hat, vertritt die Meinung, dass dort 1986 erstmals in der Menschheitsgeschichte durch systematisch geplantes gewaltfreies Vorgehen eine brutale Diktatur überwunden worden sei. Die Befreiung von der Diktatur beruhte auf einer bewussten, 1984 getroffenen Entscheidung für die gewaltfreie Vorgehensweise, und die Oppositionellen bereiteten sich persönlich und methodisch intensiv auf die Anwendung dieses Konzepts vor.

Der Erfolg hatte bald Folgen in den Bewegungen und Organisationen für die Menschenrechte in Thailand und anderen Ländern Asiens sowie auf Madagaskar. Diese Menschheitserfahrung ist jedoch weit darüber hinaus von Bedeutung: Gewaltfreies Vorgehen hat bei kompetenter Vorbereitung gute Erfolgschancen, hoch gerüstete Gewaltherrschaft zu überwinden.


Gewaltfreie Revolution im Sudan

Von Julia Kramer

Ein aktuelleres Beispiel sind verschiedene Länder des sogenannten "Arabischen Frühlings", darunter der Sudan.

Seit meinem Aufenthalt im Sudan als Friedensfachkraft 2008-2010 habe ich Akteur:innen der Bewegung zur Überwindung der Diktatur im Sudan solidarisch in verschiedenen Formen begleitet.

Kurz zum Hintergrund: Eine vom Westen tolerierte und von Nachbarstaaten gestützte Militärdiktatur war dort seit 1989 an der Macht. Als 2005 ein Friedensabkommen zwischen der (vorwiegend südsudanesischen) SPLA/M und der Militärregierung von Omar AlBashir geschlossen wurde, entstanden leichte Freiräume, in denen sich im Zuge der Wahlen 2010 in den Städten erste zivile Protestgruppen bildeten, darunter die "gewaltfreie Widerstandsbewegung" Girifna ("Wir haben es satt"). In den folgenden Jahren gelang es Girifna und anderen, durch geschickte Aktionen auf den Straßen und in den sozialen Medien, die Unterdrückung zu skandalisieren und die Angst in der Bevölkerung zu reduzieren. Gleichzeitig begannen sie, durch gezielte Mobilisierung in allen Landesteilen, Menschen zu organisieren. Als besonders effektiv stellten sich später die - meist nachbarschaftlichen - "Widerstandskomitees" heraus. Es gab immer wieder Protestwellen, die allerdings von massiven Repressionswellen (Verhaftungen, Folter, teils auch Einsatz von Schusswaffen) gebrochen wurden.

Im Winter 2018/2019, im Zuge einer extremen Wirtschaftskrise, war eine kritische Masse auf den Straßen erreicht. Es gab massive Demonstrationen sowie Streiks und andere Aktionsformen in allen größeren Städten. Eine zentrale koordinierende Rolle in den vorwiegend dezentralen Protesten nahm schon bald die "Sudanese Professionals Association", eine Art freier Gewerkschaftsdachverband, ein. Die bewaffneten Gruppen der "Neuen revolutionären Front", die in Darfur, den Nubabergen und Blue Nile kämpften, hielten sich im Hintergrund. Am 6. April begann die Besetzung des Platzes vor dem Militärhauptquartier durch die Revolutionär:innen - dort entstand innerhalb kürzester Zeit eine Art Protestcamp, das Tag und Nacht mit Hunderten oder gar Tausenden Menschen besetzt war - Menschen aus allen Landesteilen, Geschlechter und gesellschaftlichen Klassen beteiligten sich.

Am 11. April war der Druck so groß, dass AlBashir abtreten musste; wenige Tage später trat auch sein Nachfolger zurück. Auch der dritte Militär, General Burhan, sah sich einer bleibenden Besetzung des Vorplatzes des Militärhauptquartiers gegenüber, und dem Ruf nach einer "zivilen Regierung", sowie "Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit". Er ließ sich auf Verhandlungen ein, jedoch wurde der besetzte Platz vor dem Hauptquartier am 3. Juni mit einem Massaker geräumt, bei dem 118 Menschen getötet und mindestens 70 vergewaltigt wurden. Die Aktionen zivilen Ungehorsams und Streiks hielten aber dennoch weiter an. Verhandlungen der "Forces of Freedom and Change" mit Burhan und dem Militär führten zu einer zivil-militärischen Übergangsregierung, unter der Präsidentschaft von Abdalla Hamdok, einem Zivilisten, der allerdings 2021 vom Militär wieder abgesetzt wurde. Letztlich nehme ich aber die Ermutigung mit, dass gegen noch so große Übermächte am Ende die Menschen sich organisieren und aufstehen werden, und sie überwinden können.


Von Michael Schmid

Alle diese Beispiele, in denen sich Menschen mit zivilen, gewaltfreien Mitteln gegen ungerechte Herrschaft wehrten, machen deutlich, dass durch gemeinsames gewaltfreies Handeln eine Kraft entfaltet werden kann, mit der Veränderungen möglich werden.

Neuere Studien sehen gewaltfreien Widerstand und Aufstand doppelt so erfolgreich wie bewaffnete Kämpfe.

In der 2011 veröffentlichten Studie "Warum ziviler Widerstand funktioniert" zählten Erica Chenoweth und Maria J. Stephan aus den USA weltweit 107 gewaltfreie Aufstände bzw. ziviler Widerstand im Zeitraum 1900 bis 2006. In betrachteten 323 Konflikten waren gewaltfreie Aufstände fast doppelt so wirksam wie gewaltsame Methoden.

4. Gewaltfreiheit als Element der Sozialen Verteidigung

Basierend auf solchen Beobachtungen und Analysen mit zivilem, gewaltfreien Widerstand gab es Menschen, die sagten: Es reicht nicht, ungerechte Herrschaft gewaltfrei zu überwinden. Ein demokratischer Staat muss sich auch in einer bedrohlichen Umwelt behaupten können, ohne wieder auf militärische und gewaltsame polizeiliche Mittel zurückzufallen. Das war der Ansatz für theoretische Überlegungen zur Sozialen Verteidigung.

Soziale Verteidigung (SV) beruht auf den Prinzipien und Methoden der gewaltfreien Aktion bzw. des Zivilen Widerstands. Gewaltfreiheit als aktives und kreatives Handeln wird als ein "Dritter Weg" (Martin Luther King) zwischen der Hinnahme von Unrecht und der Anwendung von Gewalt angesehen. Somit folgt die Idee von Sozialer Verteidigung nicht der gängigen Annahme, dass gegen Gewalt nur Gewalt hilft, und dass die Alternative nur ein hilfloses Zuschauen oder Hinnehmen ist. Soziale Verteidigung ist damit ein Sonderfall von gewaltfreier Aktion im Allgemeinen.

Wer allerdings die Grundannahmen der Theorie des gewaltfreien Kampfes nicht anerkennt, wird auch die Wirkung einer gewaltfreien Verteidigung nicht nachvollziehen können und nicht für einsichtig halten.

Solche Grundannahmen sind: Gewaltfreie Aktion ist eine kämpferische Methode sowohl zur emanzipatorischen Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse als auch des Widerstandes gegen Unrecht und bedrohliche gesellschaftliche bzw. politische Entwicklungen. Durch gewaltlosen Kampf lässt sich ein alternatives gesellschaftliches Machtpotential entwickeln. Es besteht ein unauflösbarer Zusammenhang zwischen Zielen und Mitteln.

Gandhi hat diesen Sachverhalt in die Worte gefasst: "Es gibt ein Naturgesetz, dass nämlich eine Sache nur durch die Mittel erhalten werden kann, durch die sie erworben wurde. Eine durch Gewalt erworbene Sache kann nur durch Gewalt erhalten werden, eine durch Wahrheit (Gewaltfreiheit) erworbene Sache hingegen kann nur durch Wahrheit (Gewaltfreiheit) erhalten werden."

Die Träger:innen gewaltfreier Aktionen verzichten bewusst darauf, Formen verletzender Gewalt anzuwenden oder anzudrohen. Sie glauben daran, dass vom Verzicht auf Gewalt und von der Leidensbereitschaft nachhaltige moralische Impulse ausgehen. Sie setzen zur Erreichung eines Ziels psychologische, soziale, wirtschaftliche oder politische Druckmittel/Kräfte ein. Dadurch entsteht ein alternatives gesellschaftliches Machtpotential.

Oberste Priorität beim gewaltfreien Kampf hat immer der Dialog mit dem Gegner. Da dieser aber häufig in Konfliktsituationen nicht möglich ist bzw. verweigert wird, kann zu Methoden des gewaltfreien Kampfes gegriffen werden.

Folgende Grundhaltungen stehen u.a. hinter diesen gewaltfreien Methoden:

  • jeder Mensch wird als Mensch geachtet, also auch der Gegner;
  • bekämpft wird das Unrecht und nicht die Person, die es ausübt oder stützt;
  • der Glaube, dass jeder Mensch veränderungsfähig ist;
  • die Bereitschaft, Leiden auf sich zu nehmen, um so aus der Spirale von Gewalt und Gegengewalt auszusteigen, auch um die Glaubwürdigkeit des eigenen Anliegens zu unterstreichen;
  •  bei gewaltfreiem Handeln müssen Ziel und Mittel übereinstimmen.

5. Die Strategie der Sozialen Verteidigung

Im Gegensatz zur militärischen Verteidigung stellt die Soziale Verteidigung nicht nur die Frage, wie - mit welchen Mitteln also - man sich verteidigen solle, sondern auch die Frage, was überhaupt verteidigt werden soll. Dabei will Soziale Verteidigung keine Staatsgrenzen verteidigen und zwischenstaatliche Konflikte nicht gewaltsam lösen. Stattdessen geht es bei ihr um die Sicherung der sozialen Einrichtungen und Lebensformen. Während militärische Verteidigung in der Regel den Eintrittspreis für einen Aggressor möglichst hoch gestalten will, beschert die sich gewaltlos verteidigende Bevölkerung einen hohen Aufenthaltspreis. Von der Sozialen Verteidigung soll also von vornherein eine "Warnungswirkung" ausgehen, die den Gegner von einem Angriff abhält.

Soziale Verteidigung geht von der Voraussetzung aus, dass derjenige, der ein Gebiet mit Gewaltmitteln angreift, rationale Ziele verfolgt und u.a. an der effektiven Beherrschung des Landes interessiert ist und nicht an seiner Zerstörung.

Soziale Verteidigung geht weiter davon aus, dass auf jeden Fall jene unvorstellbaren Vernichtungen und Verwüstungen verhindert werden müssen, die bei militärischer Verteidigung in der Regel unvermeidlich sind. Das Ertragen einer militärischen Besatzung ist besser als der Verlust zahlreicher Menschenleben und materieller Werte durch militärische Verteidigung. Erst recht ist eine Fremdherrschaft der wechselseitigen atomaren Vernichtung vorzuziehen.

Die Theorie der Sozialen Verteidigung baut auf der grundlegenden Erkenntnis auf, dass das Beherrschen eines Territoriums nicht gleichbedeutend ist mit dem Beherrschen des Willens der dort lebenden Bevölkerung. Vielmehr kann die Macht der Herrschenden erst durch den Gehorsam der Beherrschten entstehen. Wird ihnen dieser Gehorsam verwehrt und ist er auch durch Gewalt nicht zu erzwingen, dann ist auch eine Herrschaftsausübung nicht möglich.

Träger der Sozialen Verteidigung sollen nicht uniformierte Soldaten sein, sondern Zivilist:innen. Diese sollten auch nicht besonders mobilisiert werden, sondern in Form einer "dynamischen Weiterarbeit ohne Kollaboration" ihrer geregelten Arbeit nachgehen und zwar gemäß den demokratisch erlassenen Gesetzen. Weiter sollten die zu verteidigenden sozialen Institutionen und Strukturen möglichst funktionsfähig gehalten werden, um eine Kontrolle durch den Gegner zu erschweren und den Abbau bestehender demokratischer Rechte zu erschweren. Schließlich sollen die Methoden der gewaltfreien Aktion angewendet werden, um dem Gegner in öffentlicher Konfrontation den Widerstand zu zeigen.

6. Mindestens zwei Denkrichtungen von Sozialer Verteidigung

Im Laufe der Jahrzehnte haben sich mindestens zwei Denkrichtungen von Sozialer Verteidigung herausgebildet.

6.1. Funktionaler Ansatz von Sozialer Verteidigung

Die eine Denkrichtung, die ich schon oben bei der historischen Entwicklung kurz dargestellt habe, ging bei der Sozialen Verteidigung von einem funktionalen Ansatz aus. Demnach sollte die Soziale Verteidigung als Alternative anstelle des Militärs, eine Nation gegen bewaffnete Angriffe von außen (Intervention, Invasion, Terrorismus) oder von innen (Staatsstreich, Putsch, bewaffneter Aufstand, Terrorismus) verteidigen. Folglich bemühten sich die Vertreter:innen dieser Denkrichtung, den Politikern und Militärs Soziale Verteidigung als das bessere, wirksamere und angesichts der atomaren Bedrohung einzig vernünftige Verteidigungskonzept zu "verkaufen". Nach ihrer Vorstellung erfolgt ihre Einführung von Staats wegen, also von oben her. Die Rekruten werden nach der gesetzlichen Einführung des neuen Verteidigungskonzepts in sozialer statt in militärischer Verteidigung ausgebildet.

Als in Deutschland 1980 die Partei DIE GRÜNEN als Exponenten der Ökologie- und Friedensbewegung gegründet wurde, wurde diese neue Partei zu einem Hoffnungsträger dieses Verständnisses Sozialer Verteidigung. Soziale Verteidigung wurde zum ersten Mal zum politischen Programm.

Maßgeblich dafür verantwortlich waren Roland Vogt und Petra Kelly, die versuchten, utopische Konzepte "politikreif" zu machen und in Realpolitik umzusetzen. Deshalb versuchten sie, Gewaltfreiheit als Politikprinzip festzuschreiben.

Bei den Grünen stand fortan das spezifische Sicherheitskonzept Soziale Verteidigung als Alternative zum Militär im Bundesprogramm. Aber auch in weiteren Programmen, so u.a. im Landtagswahlprogramm 1984 der baden-württembergischen Grünen.

Als die Grünen 1983 erstmals in den Bundestag gewählt wurden, gehörten Roland Vogt und Petra Kelly der ersten Bundestagsfraktion an. Roland Vogt war abrüstungs- und friedenspolitischer Sprecher der ersten grünen Bundestagsfraktion. Er trug zumindest dazu bei, dass die Grünen zunächst die Fokussierung auf Friedenspolitik, Abrüstungspolitik und internationale Politik aufrechterhielten.

Auf Initiative von Roland Vogt und Petra Kelly lud die Fraktion der Grünen im Bundestag im Juni 1984 zu einem international besetzten Hearing über den Aufbau der Sozialen Verteidigung nach Bonn ein. Für die Fortentwicklung der Konzeption war dieses Hearing wichtig, doch innerhalb der Grünen waren die Vertreter:innen der Sozialen Verteidigung zu schwach, um sich gegen die so genannten Realpolitiker durchzusetzen.

Im Bundestagswahlprogramm 1998 von Bündnis 90/Die Grünen war dann die Soziale Verteidigung endgültig verschwunden.

Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass die Versuche, das Konzept Sozialer Verteidigung Politiker:innen und Militärs näher zu bringen, nicht gefruchtet haben. Das liegt nicht allein an mangelnder Einsicht, an Feigheit oder an Standesinteressen. Das Konzept hat in ihren Augen entscheidende Schwächen: Es ist außerstande, die Versorgung eines Industriestaates mit preiswerten Rohstoffen zu gewährleisten sowie die Transportwege und den Zugang zu Märkten zu sichern. Deshalb kommt es für sie als ernsthafte Alternative zur militärischen Verteidigung auf gar keinen Fall in Frage. Und bei den Grünen war es für all jene, die ohnehin nichts von Gewaltfreiheit hielten, ebenfalls kein Thema. Dazu gehörten u.a. die meisten der zahlreichen ehemaligen Mitglieder von K-Gruppen - und diejenigen - wie z.B. Joschka Fischer - die ihren Traum von Regierungsbeteiligung verwirklichen wollten.

Hier noch eine kleine Episode, die Wolfgang Sternstein einmal erzählt hat: Johan Galtung hielt in den siebziger Jahren einen Vortrag über Soziale Verteidigung vor schwedischen Offizieren. In der anschließenden Diskussion meldete sich ein Offizier zu Wort und sagte: "Herr Professor, das Konzept ist interessant. Als Verteidigungskonzept könnte es sogar funktionieren. Doch Sie haben etwas Entscheidendes vergessen." "Was denn?", fragte Galtung irritiert, denn ein Professor hört es nicht gern, wenn man ihm sagt, er habe etwas Entscheidendes vergessen. "Die Methoden des zivilen Widerstands: die Verweigerung der Zusammenarbeit in Form von Streik, Boykott, Dienstverweigerung und des zivilen Ungehorsams lassen sich auch gegen die Mächtigen in Wirtschaft und Politik im eigenen Land einsetzen. Politiker und Wirtschaftsführer erkennen das. Deshalb werden sie das Konzept ablehnen." Das hatte Galtung tatsächlich nicht bedacht.

6.2. Soziale Verteidigung als Bestandteil einer gewaltfreien Gesellschaft und ihrer Entwicklung

Eine zweite Denkschule geht davon aus, dass die militärische Verteidigung nicht einfach wie ein Stein aus dem sozialen Gebäude herausgenommen und durch den Stein "Soziale Verteidigung" ersetzt werden kann. Das jeweilige Verteidigungskonzept steht vielmehr in einer organischen Verbindung mit dem Ganzen der Gesellschaft. Das bedeutet, dass nur eine weitgehend auf Gewaltfreiheit aufbauende Gesellschaft sozial verteidigt werden kann. Umgekehrt gilt: Eine auf Gewalt- und Ausbeutungsstrukturen gegründete Gesellschaft kann sich nur militärisch verteidigen und ihre weltweiten Interessen sichern. Soziale Verteidigung kann überhaupt keine Alternative für solche Ziele wie militärische Absicherung von Rohstoffwegen in aller Welt, wie Absicherung von Energiereserven, Wahrnehmung geopolitischer Interessen, etc. bieten. Für derartige Ziele ist Soziale Verteidigung völlig ungeeignet.

Um die Soziale Verteidigung einführen zu können, muss die Gesellschaft folglich erst in Richtung auf Gewaltfreiheit umgestaltet werden. Deshalb ist organisierte Soziale Verteidigung in der Perspektive auf jeden Fall identisch mit der gesellschaftlichen Beseitigung einer Gruppe: des Militärs, damit aber auch der inner- und außenpolitischen Interessen, denen das gesellschaftliche Instrument Militär dient. Entscheidend ist also: Die Organisation der Sozialen Verteidigung kann demnach auf gar keinen Fall von eben diesen gesellschaftlichen Interessengruppen erwartet werden, sondern muss durch eine demokratische politische Bewegung in Form eines gewaltfreien Kampfes von unten durchgesetzt werden.

Vor diesem Hintergrund stimme ich Wolfgang Sternstein zu, dass Soziale Verteidigung nicht länger als Gegensatzbegriff zur militärischen Verteidigung anzusehen ist, sondern als Gegensatzbegriff zum gewaltfreien Kampf um Gesellschaftsveränderung, zum sozialen Angriff. Sozialer Angriff bezeichnet den gewaltfreien Kampf für Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit, für Demokratie, Menschenrechte und für Klimagerechtigkeit. Soziale Verteidigung hingegen meint die gewaltlose Verteidigung des Erreichten. Und nur eine weitgehend gewaltlose Gesellschaft kann sozial verteidigt werden.

Das heißt, bevor es zum "Ernstfall" der Sozialen Verteidigung kommen kann, muss so etwas wie ein gewaltfreier sozialer Angriff vorausgehen, der eine solidarische und nachhaltige Gesellschaft zum Ziel hat, die auf einer Friedenskultur, einer Kultur der Gewaltfreiheit aufbaut.

Das bedeutet, überall wo Menschen heute zu den Methoden der gewaltfreien Aktion greifen, um sich gegen schlimme Übel zu wenden und sich für eine Entwicklung hin zu einer auf Gewaltfreiheit beruhenden Gesellschaft einzusetzen, überall dort wird ein Stück Fähigkeit entwickelt, sich auch "sozial" verteidigen zu können. Überall dort, wo ein gewaltfreier demokratischer Prozess der gesellschaftlichen Befreiung von Gewalt und von Herrschaftsstrukturen eingesetzt hat, werden die Menschen auch fähig werden und sein, gegen Versuche, soziale Errungenschaften rückgängig machen zu wollen - egal ob sie von außen oder von innen kommen - gewaltfreien Widerstand in Form von Sozialer Verteidigung zu leisten.

Meine Antwort auf die eingangs erhobene Frage, ob es einen dritten Weg zwischen Aufrüstung, Militär, Krieg - oder Wehrlosigkeit und Kapitulation gibt, lautet: Ja, diese Alternative gibt es mit der Sozialen Verteidigung, aber der Weg dorthin ist noch sehr weit. Je mehr Menschen ihn mitgehen, umso größer wird die Chance, eines Tages das Ziel zu erreichen.


Im Anschluss an den Vortrag stellte Julia Kramer die Kampagne "Wehrhaft ohne Waffen - Soziale Verteidigung voranbringen" vor. Mehr zu dieser Kampagne:

Hinweis:

Michael Schmid bietet an, den Vortrag zum Thema Soziale Verteidigung auch an anderen Orten zu halten. Eine Vertiefung des Themas in einem Workshop ist ebenfalls denkbar. Bei Interesse bitte Kontakt aufnehmen, z.B. per Mail: info@lebenshaus-alb.de

Fußnoten

Veröffentlicht am

25. März 2023

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