Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Afghanistan: Einfluss trotz Abzug

US-Militärs wollen den Taliban nicht das Feld überlassen

Von Konrad Ege

Es sollte Vergeltung für 9/11 und ein Beweis von Macht sein, tatsächlich haben die USA in Afghanistan nach anfänglichen Erfolgen jahrelang eine desaströse Politik verfolgt. Sie wird nun schöngeredet. Afghanistan war ein überparteiliches Unterfangen. Nur eine Supermacht kann sich solche Verfehlungen leisten. Osama bin Laden, um den es einmal ging, als im Oktober 2001 alles begann, ist seit zehn Jahren tot.

Hauptmann Scott Miller war bei den ersten US-Streitkräften, die nach dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 in Afghanistan gelandet sind. Sie waren auf der Jagd nach Al-Qaida-Drahtziehern, die von den damals herrschenden Taliban beschützt wurden. Gegenwärtig ist der leicht ergraute General Scott Miller zuständig für das Abwickeln der US-Präsenz am Hindukusch. Stichtag ist der von Präsident Biden festgelegte 11. September 2021.

Erfolg sieht anders aus

Material wird ausgeflogen, einiges zerstört, manches afghanischen Einheiten überlassen, Stützpunkte machen dicht, die Küche bleibt kalt in den bei Soldaten beliebten Fast-Food-Lokalen. "Es läuft sehr gut", versicherte Miller im Sender CBS, teilweise sei man dem Zeitplan voraus. Dann die Frage des Korrespondenten: Ob Miller beim ersten Einsatz in Afghanistan gedacht hätte, er würde 20 Jahre später noch immer dort sein? – "Absolut nicht."

Erfolg sieht anders aus. Die islamistischen Taliban gewinnen an Boden. Die USA haben die "heiligen Krieger" unterschätzt und offenbar eigenen irrlichternden Prognosen geglaubt, und man glaubt gern. Die USA würden von außen Einfluss nehmen, "sodass Afghanistan nicht wieder ein Rückzugsort für Terroristen wird", versicherte David Helvey, der für Sicherheitsfragen in der Region zuständige Vertreter des Pentagon, bei einer Kongressanhörung im Mai.

Die Verantwortung dafür, dass zwei Jahrzehnte lang US-Soldaten und Verbündete aus mehr als drei Dutzend Ländern in Afghanistan gekämpft haben, ist in Washington gut verteilt auf Politiker beider Parteien, Militärs und kluge Experten. Unter Präsident Obama stieg 2010 die Zahl der Männer und Frauen auf US-Basen in Afghanistan vorübergehend auf gut 100.000.
Sie flogen Luftangriffe, kämpften gegen Taliban-Verbände, patrouillierten auf holprigen Landstraßen, bauten Netzwerke von Informanten, sicherten US-Einrichtungen, nahmen Verdachtspersonen fest und überstellten sie afghanischen Einheiten zum Verhör und mehr. Soldaten anderer Nationen sollten für Sicherheit sorgen und die Afghanische Nationalarmee (ANA) auf Vordermann bringen. Getragen von einer Berufsarmee wurde der Krieg aus US-Sicht normal und war weit weg. Nur wenige Amerikaner hatten familiäre Bindungen zu den entsandten Militärs.

Anfangs wurden die Taliban schnell aus Kabul und Kandahar vertrieben. Donald Rumsfeld, Verteidigungsminister von Präsident Bush, gab am 1. Mai 2003 bekannt, man bewege sich weg von "größeren Kampfeinsätzen hin zu einer Periode der Stabilität und Stabilisierung sowie Wiederaufbauaktivitäten". Doch nur vier Monate später vertraute Rumsfeld einem Untergebenen an, er wisse nicht, wer die "Bad Guys" seien. Er lese viele Geheimberichte, die den Eindruck erweckten, "wir wissen eine ganze Menge, doch wenn man genauer nachfragt, stelle man fest, dass wir nichts Verwendbares haben". Ein paar Monate später schrieb der Minister, die US-Regierung investiere elf Milliarden Dollar im Jahr für Afghanistan. Doch da es nicht das Ziel sei, "unser Militär permanent dort zu behalten", brauche man einen detaillierten Plan, um "die Finanzierung von unserem Militär auf das afghanische zu verlegen".

Vor rund 50 Jahren publizierte die New York Times die ersten Auszüge der sogenannten "Pentagon Papers" über die Irrtümer im Vietnamkrieg und die fortgesetzten Lügen von Fortschritt auf dem Kriegsschauplatz in Indochina. Die Rumsfeld-Memos zählen zu den "Afghanistan Papers", die 2019 von der Washington Post veröffentlicht wurden. Die mithilfe des Informationsfreiheitsgesetzes erstrittenen Dokumente stammen vom Generalinspektor für Wiederaufbau in Afghanistan, einer vom US-Kongress eingerichteten Instanz. Sie enthalten Interviews mit etwa 400 Militärs, Diplomaten und Beratern – man wollte aus ihrer Erfahrung lernen. Die Befragten sprachen über massive Korruption und fehlende Orientierung beim Zusammenspiel von Counterinsurgency, "Demokratisierung" und Entwicklungshilfe. Besonders kamen fortgesetzte Versicherungen zur Sprache, die multinationale Koalition mache Fortschritte, während in Wirklichkeit die Taliban Gelände einnahmen und durch den Drogenhandel enorm verdienten.

Biden steht unter Druck

General Michael Flynn – einer der renommiertesten Geheimdienstexperten des US-Militärs, bevor er zu Donald Trumps Nationalem Sicherheitsberater wurde und heute der Legende von der "gestohlenen Wahl" anhängt – lieferte eine Antwort auf das Warum: "Wir sind ein so starkes Land, aber wir sind weggekommen von der Idee, wie wir tatsächlich gewinnen können. Da ist eine Maschinerie hinter dem, was wir tun, und diese lässt uns weiterhin am Konflikt teilnehmen, weil das Geld bringt." Tatsächlich war Afghanistan ein wahres Schlaraffenland für moderne Söldner und Dienstleister.

Joe Bidens Prioritäten liegen bei Covid-19 und einer wiederbelebten Wirtschaft. Außenpolitik soll nicht stören. "Wir sind nach Afghanistan gegangen wegen eines entsetzlichen Angriffes vor 20 Jahren", hat er den Abzug rhetorisch verpackt. Das könne nicht erklären, warum man 2021 weiter bleiben sollte. Die Herausforderungen hätten sich verlagert, auch zum "zunehmend selbstbewussten China" hin. Man müsse die Pandemie bekämpfen und das globale Gesundheitswesen stärken.

Der Präsident steht unter Druck: Sein Vorgänger hatte die USA in einem Abkommen mit den Taliban zum Abzug bis spätestens Anfang Mai verpflichtet. Donald Trump rüstete auf, doch konnte er – bei seiner Manie, gewinnen zu müssen – in einer Afghanistan-Präsenz keinen Sinn mehr sehen. Zur Zukunft gab General Mark Milley als Vorsitzender der Vereinigten Stabschefs eine abwartende Prognose ab. Es gebe nach wie vor viele Möglichkeiten. Die Eroberung Kabuls durch die Taliban sei keine "vorab feststehende Sache". Etwa 2.300 US-Militärs sind in Afghanistan gefallen.

Quelle: der FREITAG vom 24.05.2021. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Konrad Ege und des Verlags.

Veröffentlicht am

25. Mai 2021

Artikel ausdrucken

Weitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von