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Hannah Brinkmann: “Gegen mein Gewissen”

Hannah Brinkmanns Onkel wurde zum Wehrdienst gezwungen - und nahm sich das Leben.

Von Michael Schmid - Rezension

Als Hannah Brinkmanns Oma gestorben war, entdeckte sie beim Ausräumen eines Schrankes eine etwas vergilbte Todesanzeige, deren Inhalt ihr fortan keine Ruhe mehr ließ. Denn es geht um ihren Onkel Hermann, den sie nie persönlich kennenlernen konnte. In der Todesanzeige gibt die Familie nicht nur Hermanns Tod bekannt, sondern sie klagt die Bundeswehr an, dass sie ihn trotz eines laufenden Verfahrens auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer zur Armee eingezogen hätte. "In der Nacht zum Sonntag verließ uns unser guter Sohn und unser lieber Bruder, Hermann Brinkmann", steht darin. "19 Jahre lang hat er unser Leben bereichert. Mit großer Sensibilität ausgestattet, sah er das Unrecht und nannte es beim Namen, spürte er die Hilfsbedürftigkeit, half und war immer seinem Gewissen verpflichtet." Durch den Zwang zum Waffendienst habe er Depressionen entwickelt und sich deshalb in seiner Verzweiflung das Leben genommen. "Tod durch Starkstrom". Anklagend die Frage: "Wir fragen uns, warum Hermann diesen Weg gehen mußte."

Die Nichte Hannah sucht zu ergründen, was mit ihrem Onkel vorgefallen ist, führt Gespräche in der Familie, findet heraus, dass der Tod Hermann Brinkmanns damals in den 70ern bundesweit Schlagzeilen hervorgerufen hat, sie durchforstet Archive, Dokumente, Zeitungsanzeigen und Fotos. Und sie beschäftigt sich gründlich mit der Wehrpflicht und deren Wirkungen auf Generationen junger Männer.

Es sind gerade rund zehn Jahre seit dem Zweiten Weltkrieg vergangen, als sich die junge Bundesrepublik Deutschland wieder als militärische Kraft verstand. Ab 1956 wurden für die im Jahr zuvor neu gegründete Bundeswehr Generationen junger Männer als Wehrpflichtige zum Dienst an der Waffe verpflichtet. Das Grundgesetz sah vor, dass man aufgrund von Gewissensnöten den Wehrdienst verweigern konnte, aber noch zu Zeiten von Willy Brandts Kanzlerschaft galt die Kriegsdienstverweigerung als systemzersetzend.

Damals musste unter großem Druck und mit vielen Demütigungen die Gewissensnot vor Prüfungsgremien bewiesen werden. Vor Gutachtern, denen die Bundeswehr mehr galt, als das Wohl der Rekruten. Einer dieser jungen Männer war Hermann Brinkmann, ein überzeugter Pazifist, der einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt hatte, der von Prüfungsausschuss und Prüfungskammer jeweils abgelehnt wurde. Obwohl noch ein Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht ausstand, wurde Hermann 1973 zur Bundeswehr eingezogen. Vergeblich wehrte er sich gegen seinen Einberufungsbefehl. Während der Grundausbildung nahm er sich das Leben …

Hannah hat zwar gewusst, dass Hermann Suizid begangen hatte. "Aber die Entscheidung, ein Buch daraus zu machen", sagt sie in einem Interview, "entstand erst, als ich mich mit den politischen Dimensionen auseinandersetzte, erfahren habe, was Kriegsdienstverweigerern in Deutschland in dieser Zeit passiert ist. Es war Unrecht. Und umso mehr ich darüber herausgefunden habe, desto sicherer war ich mir, dass das nicht nur eine persönliche Geschichte ist, die unsere Familie betrifft. Mein Onkel Hermann steht viel mehr als ein Beispiel dafür, was meines Erachtens ein Skandal der deutschen Nachkriegsgeschichte ist. Das muss erzählt werden." (Interview mit Rudi Friedrich, s.u.)

In jahrelanger Arbeit der Recherche und des Zeichnens ist Hannah Brinkmanns Buch "Gegen mein Gewissen" entstanden. Dafür wählte sie die Form einer grafischen Erzählung, einer bebilderten Geschichte. In detailreichen Zeichnungen ruft sie diese Phase bundesdeutscher Nachkriegsgeschichte ins Gedächtnis zurück. Einfühlsam arbeitet sie die Geschichte ihres Onkels auf und erinnert 46 Jahre nach seinem Tod an sein Schicksal. Sein Schicksal steht besonders herausragend für die Erniedrigung und Diskriminierung, die viele junge Männer in der Bundesrepublik über rund drei Jahrzehnte hinweg erlebt haben, wenn sie den Kriegsdienst verweigerten. Der Suizid von Hermann hat seinerzeit eine Debatte über die Rechtmäßigkeit der Gewissensprüfung ausgelöst. Zwei Jahre danach hat die sozialliberale Koalition im Bundestag erstmals einen Gesetzentwurf vorgelegt, um das Prüfungsverfahren auszusetzen. Nach sieben weiteren Jahren und mehreren Anläufen wurde die mündliche Gewissensprüfung dann zumindest für den überwiegenden Teil der Kriegsdienstverweigerer ausgesetzt. Hermann Brinkmanns Tod war einer der Gründe, die zu diesem Schritt geführt haben.

Hannah Brinkmann verbindet mit der Veröffentlichung ihres Buches folgende Hoffnung, der ich mich gerne anschließe: "Ich wünsche mir gerade für meine Generation, die nicht mit der Wehrpflicht konfrontiert ist, dass ein Bewusstsein zu diesem Thema entsteht. Die Wehrpflicht wurde nicht einfach abgeschafft und weg ist sie. Vielmehr ist es etwas, was wir uns, was die Generationen vor uns, erkämpft haben. Es wurden auch Opfer gebracht, dass wir jetzt keine Wehrpflicht mehr haben." ( Interview mit Rudi Friedrich )

Das Buch gehört in die Hände von möglichst vielen jungen Menschen. Aber es lohnt sich über alle Generationen hinweg, es zu lesen und zu betrachten. Ein sehr empfehlenswertes Buch!

Hannah Brinkmann: "Gegen mein Gewissen". Graphic Novel. Berlin 2020, Avant-Verlag. 232 S., 30,- €  ISBN 978-3-96445-040-1  www.avant-verlag.de

Hannah Brinkmann wurde 1990 in Hamburg geboren. Sie studierte an der Hochschule für angewandte Wissenschaften grafische Erzählung bei Anke Feuchtenberger mit Auslandsaufenthalten an der Shenkar School of Engineering and Design in Tel Aviv und der EESI in Angouleme. 2017 war sie Teil des Sitka Fellows Programm in Alaska, wo sie die Recherche für ihren ersten Graphic Novel GEGEN MEIN GEWISSEN begann. 2018 konnte sie diese Recherche im Rahmen eines dreimonatigen Stipendiums des Library Innovation Labs an der Harvard Law School beenden. Ihre Comics erschienen unter anderem im Strapazin, in der taz und in Der Tagesspiegel.  www.hannahbrinkmann.com

 

"Kriegsdienstverweigerer. Unsere Geschichten" - Neue Website von Lebenshaus Schwäbische Alb, mit der sichtbar gemacht werden soll, welchen Schwierigkeiten und Schikanen wehrpflichtige junge Männer insbesondere bis 1983 ausgesetzt waren, wenn sie in der Bundesrepublik Deutschland den Kriegsdienst verweigern wollten.

Weblinks:

Veröffentlicht am

19. Februar 2021

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