Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Thomas Felder: “Von Wegen, die nicht amtlich ausgeschildert sind”

Vortrag von Thomas Felder bei der 8.Tagung des Lebenshauses Schwäbische Alb "’We shall overcome!’. Gewaltfrei für die Vision einer Welt ohne Gewalt und Unrecht. Drei biographische Zugänge" am 17.10.2020 in Gammertingen

Die Bilder stammen vom Vortrag von Thomas Felder bei der Tagung, von seinem Konzert am Abend sowie von Aktionen 1982/83 in Großengstingen.

Von Thomas Felder

Um es vorweg zu sagen: Das Bild vom Gutmenschen, vom engagierten Friedenskämpfer, der sich immer und überall einmischt, um den Globus zu retten… Dieses Image passt nicht auf mich und meine Biographie! Wenn ich Rückschau halte, dann war meine Lieblingsbeschäftigung immer das künstlerische Spiel mit Formen und Farben, mit Musik und Wort, mit Stimme und Instrument. Das Werken am Haus, an Fahrzeugen aller Art, am Segelboot, das Spiel mit Wind und Wellen, Wandern, gutes Essen und Trinken, Gespräche und Unternehmungen im Familien- und Freundeskreis… Das alles liegt mir näher als politische Auseinandersetzungen, die Aufsehen erregt haben, und von denen ich heute u. a. berichten darf.

Eigentlich wollte ich Lehrer werden und studierte Kunst und Anglistik in Stuttgart und London. Ein ganzes Schuljahr verbrachte ich in der britischen Hauptstadt als Hilfslehrer an zwei Gymnasien. Zum Abschied gab ich ein kleines Konzert, um mir anschließend von einem Schüler testieren zu lassen: "Mr. Felder, you are not a teacher, you are a singer"!

Jetzt aber der Reihe nach:

1953 kam ich als Nachkriegskind im evangelischen Pfarrhaus in Hundersingen (heute Münsingen) zur Welt. Mein Vater war Schwerkriegsbeschädigter. Er hatte eine Delle in der Stirn, Metallsplitter im Kinn und hörte nur auf einem Ohr. Dass er einen Lungendurchschuss, eine Granatexplosion und mehrere so genannte Himmelfahrtskommandos überlebt hat, dass er nicht in Gefangenschaft geriet, sondern Theologie studieren konnte und seine Kommilitonin, meine Mutter heiratete, ist eine Kette von Wundern, denen ich meine Existenz verdanke. Den väterlichen Erzählungen entnehme ich, dass er in den Kampfpausen jede Gelegenheit zum gemeinsamen Singen von Chorälen genutzt hat. Am Klavier konnte er sie alle auswendig begleiten. Von mir erwartete er, dass ich im Alter von 6 Jahren wenigstens einen dreistimmigen vom Blatt spiele. Da musste ich ihn leider enttäuschen. Mit Noten stehe ich seitdem auf Kriegsfuß.

Apropos Krieg: Der war auf der Alb noch nicht wirklich zu Ende. Geschützdonner vom Münsinger Truppenübungsplatz war unsere alltägliche Geräuschkulisse, je nach Windrichtung mehr oder weniger bedrohlich. Immer wieder weitete man die Militärmanöver auch auf die umliegenden Dörfer aus. In Hundersingen tobte der Häuserkampf mit schwerem Maschinengewehr. Die Soldaten hinterließen Berge von leeren Patronenhülsen, Platzpatronen, die wir Jungen durchwühlten, um hie und da noch eine volle zu ergattern.

Am Totensonntag versammelte sich die Gemeinde um das Kriegerdenkmal neben der Kirche. "Ich hatt’ einen Kameraden" sang der Männergesangverein, und der Bürgermeister schleppte neben seinem Holzbein noch einen riesigen Kranz zum Denkmal, um ihn dort feierlich niederzulegen, den Helden zur Ehre. Das Schluchzen der Witwen und Mütter um ihre verlorenen Männer und Buben, ihre verweinten Gesichter bei diesen Gedenkveranstaltungen, die Szenen werde ich nie vergessen.

Zu meinen frühen Erinnerungen gehören auch Bettler, die fast jeden Tag unsere Haustürglocke betätigten, um einen Teller Suppe und ein paar Groschen Wegegeld zu erbitten. Unten im Erdgeschoss wohnte "Oma Blank", eine alleinstehende Flüchtlingsfrau aus dem Osten. An ihrem Küchenfenster stand eine Hühnerleiter, über die sie ihr Federvieh morgens ins Freie und abends wieder zum Schlafen zurück in die Wohnung marschieren ließ. Als der Hahn einmal krank wurde, wusste sie ein Rezept: "Dem smiir ik jute Butta in Po (dem schmiere ich gute Butter in den After)".

Die Altarspenden zum Erntedankfest lieferte mein Vater immer persönlich in der psychiatrischen Anstalt Schloss Grafeneck ab. Bei einer dieser Fahrten war ich Ende der 50er dabei. Nachdem wir ausgeladen hatten, zeigte mir mein Vater einen Schuppen unweit des Hauptgebäudes. Er sagte, da hätten sie ganz viele kranke Menschen drin eingesperrt und Auspuffgas hineingelassen, um die Kranken zu töten. Er zeigte mir auch ein Loch in der Tür. Da habe der Doktor dem Sterben zugeschaut und die Tür erst wieder aufgemacht, als alle erstickt waren und keiner sich mehr bewegte. Dann seien sie in einem großen Ofen verbrannt worden. Er ging mit mir durch die Allee zum Friedhof und zeigte auf einen großen Erdhaufen am Hang. Da hätten sie die Asche runtergeschüttet.

Wenig später wurde im Nachbardorf Buttenhausen ein Denkmal errichtet für die ermordeten Juden. Langsam sickerte durch, dass diese Menschen den Ort noch vor wenigen Jahren maßgeblich geprägt hatten. Auf dem Weg ins Gymnasium fuhr ich jeden Tag mit dem Bus an ihren Häusern vorbei. Darin wohnten jetzt andere, die aber von der Geschichte nichts mehr wissen wollten. Darüber später mehr.

1966 wechselte ich die Schule und zog ins kirchliche Internat Michelbach/Bilz bei Schwäbisch Hall. Anfang Februar 1968 - ich war 14-jähriger Zweitklässler - da wurde ich zu meiner ersten Demonstration angestiftet. Ein älterer Mitschüler erklärte uns jüngeren, es gäbe in Berlin eine aufständische, gewalttätige Studentenbewegung, die sich bundesweit rasant ausbreite, vergleichbar mit den Nazi-Umtrieben der Dreißiger Jahre. Rädelsführer sei ein gewisser Rudi Dutschke, vergleichbar mit Adolf Hitler. Seine brandgefährliche Straßenkampftruppe trüge die Bezeichnung SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund). Das D zwischen S und S verschluckte er in seiner Ansprache so, dass wir sofort an Hitlers SS-Truppen denken mussten. Dutschke käme nun auch nach Schwäbisch Hall und bringe einen ganzen Bus voller S(D)S-Leute mit… Selbstverständlich wollten wir unseren tapferen Mitschüler nicht allein lassen im Kampf gegen die Aufrührer. Am Sonntag, den 11. Februar 1968 stand ich in unserer Schülergruppe auf der Freitreppe zur Michaelskirche mit einem großen Schild in der Hand: "Kein Krawall in Schwäbisch Hall!"

Rudi Dutschke erschien wie angekündigt mit einer bunten Schar auf dem Marktplatz unter der Freitreppe und begrüßte uns durch sein Megaphon mit der Einladung, wir sollten doch zu ihnen herunterkommen auf den Platz; wir hätten nichts zu befürchten. Unser "Führer" folgte der Einladung, nachdem er sich unserer Rückendeckung versichert hatte. Dutschke sprach mit heiserer, sanfter Stimme durch den quäkenden Lautsprecher. Akustisch verstand ich zunächst nur fremdartige Schlagwörter wie Obstruktion, Emanzipation, Opposition, Solidarität… Die Atmosphäre, die er verbreitete, war alles andere als Krawall. Unser "Führer" fing an mit Rudi Dutschke zu diskutieren und ich merkte bald, dass ich auf der falschen Seite stand. Mein Schild entsorgte ich verschämt bei der Engelsfigur mit dem Drachen im Kirchenportal, stieg die Freitreppe hinab und mischte mich unter die Demonstranten.

Auf dem Fußweg zurück nach Michelbach herrschte Konsens, dass wir im falschen Film mitgespielt hatten. Von gelebter Demokratie waren wir noch weit entfernt. Viele öffentliche Ämter waren von Alt-Nazis besetzt. Wir Schüler waren der Lehrer-Willkür ausgeliefert. Das wollten wir ändern. Wir wollten Mitverantwortung übernehmen: Schüler-Mit-Verantwortung - SMV! Dafür beteiligten wir uns an einem bundesweiten Schüler-Streik.

Im Jahr 1970 hatte ich das Glück, mit der ersten deutschen Jugendgruppe nach Israel reisen zu dürfen. Der frischgebackene Staat hatte offiziell zu einem künstlerischen Austausch mit Gleichaltrigen in Jerusalem eingeladen, und unser Internat bekam den Zuschlag. Auf diesem "Art Camp" sang ich mein erstes eigenes Lied über einen Radiosender: "Much to Do". Das Bild, das uns die Reiseleitung vom Staat Israel vermittelte, war jedoch nur die glänzende Seite einer Medaille. Palästinenser kamen darin entweder gar nicht vor, oder als Terroristen, die das jüdische Volk vernichten wollten. Ich wurde ein glühender Israel-Fan. In dieser Euphorie wankte sogar mein Vorhaben den Kriegsdienst zu verweigern. Ich ließ mir Informationsmaterial von der Bundeswehr schicken und dachte darüber nach, mich für zwei Jahre zu verpflichten. Die Abfindung hätte für ein dickes Motorrad und eine Weltreise gereicht. Ich war beeindruckt von einem Kampfjet mit Namen Starfighter. Je mehr aber davon abstürzten, desto schneller zerbröckelten auch meine Überlegungen. Bildberichte aus Vietnam dokumentierten die Sinnlosigkeit von Krieg auf das schrecklichste. Mir wurde bewusst, dass die Spirale des Horrors keine Naturkatastrophe ist. Sie wird von Menschen ausgedacht, befohlen, in die Tat umgesetzt und am Laufen gehalten.

Das Lied "The Universal Soldier" von Buffy Saint Marie - Donovan sang es zur Gitarre - dieses Lied habe ich damals auswendig gelernt und tausendmal gesungen. Es war mir Evangelium und Glaubensbekenntnis in einem. Nein, ich wollte kein Soldat werden, kein Handlanger und kein Kanonenfutter für Kriegstreiber, die aus Gier nach der Macht ihre Mitmenschen in Elend und Verderben stürzen. Und ich hatte das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Aber Recht haben und Recht bekommen sind zwei verschiedene Dinge. Auf die so genannte Gewissensprüfung mit ihren perfiden Fangfragen musste ich mich auch gewissenhaft vorbereiten. Die Auseinandersetzung hatte Erfolg, und meine Verweigerung wurde in erster Instanz anerkannt. Bei zwei Zivildienststellen hatte ich mich schon beworben, als mein Musterungsbescheid im Briefkasten lag. Eingestuft als "Ersatzreserve 2" war ich nur "eingeschränkt tauglich" und wurde nicht eingezogen. Der Grund dafür waren zwei Nierenoperationen - von der letzten hatte ich noch Blut im Urin.

Nach dem Abitur meldete ich mich zur Aufnahmeprüfung an der Stuttgarter Kunstakademie, bestand auch diese Prüfung und konnte sofort mit dem Studium für das Lehramt an Gymnasien beginnen. Ein gutes Zubrot zur immer knappen Kasse verdiente ich mit Straßenmusik. So etwas gab es in Stuttgart bis dato noch nicht. Die Polizei führte mich ab; ich erhielt meinen ersten Strafbefehl: "Sie haben gebettelt, indem Sie sangen und Gitarre spielten…" 1 Tag Freiheitsentzug oder 25 Mark. Während ich noch Details meiner Haftstrafe aushandeln wollte, hatte mein Vater das Geld bereits überwiesen. Die Eltern waren in Kenntnis gesetzt worden, weil ich mit 20 noch nicht volljährig war.

1979, im Jahr meines Staatsexamens kam in meinem Eigenverlag die dritte und meistverkaufte LP heraus: "lang braucht zom komma". Wegen der großen Nachfrage und der zahlreichen Konzerte, Funk und Fernsehsendungen beschränkte ich meinen Lehrerberuf auf einen Tag in der Woche: Montag. Vormittags unterrichtete ich 6 Stunden am Keppler-Gymnasium, abends 2 Stunden an der Pädagogischen Hochschule in Reutlingen. Diese Hochschule war ein lebendiger Ort mit politischer Diskussion und reger Kulturszene. Hier tagten die Aktionsgruppen der Anti-Atom- und Friedensbewegung. 1980 beteiligte ich mich an einer gewaltfreien Kirchenbesetzung in Reutlingen und Stuttgart. Bundesweit waren wir in mehreren Dutzend Kirchen aktiv, um den Widerstand gegen das geplante Atommüll-Endlager in Gorleben zu unterstützen. Die Bewegung hatte eine neue Partei ins Leben gerufen - die Grünen. Mit meinen Liedern durfte ich die Wahlkampf-Lokomotive spielen. Vielleicht war mein Gesang sogar das Zünglein an der Waage zum Einzug in den Landtag mit knappen 5,1 Prozent.

Im Dunstkreis der Reutlinger PH verbreitete sich auch das Gerücht, im Wald bei Großengstingen lagerten Atomwaffen. Im Jahr 1981, ich war soeben Vater von Zwillingen geworden und aus meiner WG mit der jungen Familie in ein altes Bauernhaus gezogen, da gab es keine Zweifel mehr über den Ernst der Lage. Die Schwäbische Alb wurde auf den Atomkrieg vorbereitet. Schon seit Mai 1963 war in der Eberhard-Fink-Kaserne bei Großengstingen ein Raketenartilleriebataillon stationiert. Im Kohlhäule, einem nahe gelegenen Waldstück, lag das dazu gehörige "Sondermunitionslager Golf". Es hatte etwa die Größe eines Fußballplatzes. Gelagert wurden zunächst die atomaren Sprengköpfe für die Kurzstreckenrakete Sergeant. Nach 1975 waren es Nukleargefechtsköpfe für Lance-Raketen mit einer Reichweite von 70 Kilometern. Die Bunker waren von einem Feldweg aus frei einsehbar, aber mit drei Wachtürmen, Panzersperren, drei Stacheldrahtwänden und Todesstreifen, unterirdischen Mikrofonen, einem so genannten Maulwurfgang mit Gefechtständen, einer Hundestaffel, Flutlicht, Lautsprecheranlage etc. gesichert. Die Grenze zur DDR war ein Gartenzaun gegen diese Installation. Zugänglich war sie über eine Versorgungsstraße. Wenn man die wenigstens eine Woche lang blockieren würde - rund um die Uhr - mit möglichst vielen Menschen - das wäre ein Signal!

Im ganzen Land bildeten sich so genannte Bezusgruppen, in denen die gewaltfreie Aktion diskutiert, einstudiert und schließlich auch umgesetzt wurde. Im Sommer 82 kamen ca. siebenhundert Menschen zu drei Zeltlagern in die Engstinger Gegend, im 6-stündigen Schichtwechsel setzten sich immer neue Gruppen von 6-8 Personen auf besagte Straße und blockieren die Zufahrt zum Atomwaffendepot. Am 5. August, um 6 Uhr war meine Gönninger Bezugsgruppe an der Reihe - lauter LehramtsbewerberInnen. Noch am Vorabend hatten wir verabredet, dass sich sieben von uns hinsetzen, und etwa ebenso viele unterstützend daneben stehen. Als es ernst wurde, saß ich mit Helmut Ratfelder zu zweit da. Alle anderen hatten sich in der Nacht dagegen entschieden - aus Angst vor Berufsverbot. Aber es war für Ersatz gesorgt. Als gegen sieben Uhr ein Militärlaster angefahren kam, eskortiert von Polizeifahrzeugen, saß ich mit ca. sechs anderen singend auf der Straße. Trotz mehrfacher Aufforderung die Zufahrt freizugeben, blieben wir sitzen und wurden von je zwei Polizisten weggetragen.

Im Jahr darauf, 1983 fanden wir uns im Münsinger Amtsgericht wieder. Richter Rainer hatte sich auf eine Art Fließbandverfahren eingerichtet; an jedem Prozesstag wurden mehrere Personen abgeurteilt. Der Ablauf war immer der gleiche: Verlesen des Strafbefehls durch den Staatsanwalt, erfolglose Verteidigungsreden der Angeklagten, Verurteilung zu 20-30 Tagessätzen wegen gewalttätiger Nötigung. Bevor ich selbst an der Reihe war, hatte ich mehrfach Gelegenheit diesen Verhandlungen beizuwohnen. Dabei fiel mir auf, dass der gelangweilte Staatsanwalt seinen Text, der ja die Grundlage der Verurteilung und der Strafe sein sollte, dass er diesen Text schlichtweg unverständlich vor sich hin nuschelte: "Du Stuutsunwultschuft buschuldugt suu…" Kein Mensch konnte ihn verstehen. Ich fand sein Verhalten derart unwürdig, dass ich mir für meine Verhandlung vornahm, dieses besondere Stück Deutscher Literatur einmal laut und deutlich in den Raum zu stellen. Ich lernte es auswendig und komponierte eine Musik dazu für Singstimme und Drehleier. So vorbereitet ging ich in meine Gerichtsverhandlung.

Die Drehleier wurde am Eingang vorübergehend beschlagnahmt. Es könnte ja eine Waffe sein. Der Saal war voll, und das Programm lief genau nach Plan: Auf das Genuschel des Staatsanwalts hin fragte mich der Richter, ob ich dazu Stellung beziehen wolle. Ja, aber es gäbe da ein Problem. Im Saal habe wohl kaum jemand den Herrn Staatsanwalt verstanden, weshalb ich das soeben Gesagte noch einmal wiederholen möchte. Und ich sang den Strafbefehl zur Erheiterung des Publikums - nicht aber des Richters. Der verließ fluchtartig den Saal, wandte sich kurz noch einmal um und verkündete: "Die Verhandlung ist unterbrochen". Dann ließ er die Tür ins Schloss fallen. Der Staatsanwalt blieb sitzen, folgte meinem Vortrag mit geöffnetem Mund bis zum Schluss und belehrte danach alle Anwesenden - diesmal aber deutlich artikulierend: "Gerichtssprache ist Deutsch und nicht gesungen!" Der Satz ging durch die Presse und wurde u.a. in der "Frankfurter Rundschau" als Überschrift zitiert.

Der Tübinger Rechtsanwalt Jürgen Hemeyer zog ein Musterverfahren durch alle Instanzen bis vor das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Hier wurde im Jahr 1995 entschieden, dass unsere gewaltfreie Aktion den Tatbestand der Nötigung nicht erfüllt. Es handele sich lediglich um eine Ordnungswidrigkeit, welche inzwischen verjährt sei. Wir hatten Glück, denn spitzfindige Juristen haben mittlerweile abenteuerliche Konstruktionen erfunden, mit denen friedliche Sitzblockaden doch wieder als "Nötigung mit Gewalt" interpretiert und entsprechend verurteilt werden. Wo der Staat aber den Boden des Rechts verlässt, da wird der zivile Ungehorsam zur heiligen Pflicht, sagte Mahatma Gandhi, und ich pflichte ihm bei. Dennoch wollte ich nicht mein ganzes Leben mit Gerichtsverfahren zubringen. Zusammen mit Hetti Droste zu Vischering aus Tübingen organisierte ich monatliche Mahnwachen vor der Engstinger Kaserne mit mehr oder weniger fantasievollen Aktionen, Lesungen und Musik.

Für Sonntag, den 7. Mai 1989 hatte ich zu einem Gottesdienst mit anschließender Musikblockade aufgerufen. Ein solcher Aufruf beinhaltete grundsätzlich auch Mitteilungen an den Kasernenkommandanten und an die Polizei. Nichts sollte überraschend oder im Geheimen passieren, alles war transparent und öffentlich. Ich mietete einen Lastwagen mit Hebebühne zum Transport der Verstärkeranlage, eines Stromaggregats und meiner Instrumente. Den Konzertflügel stellte ich mitten auf die Straße vor den Haupteingang der Kaserne, Tor 1 und begleitete die Choräle zum Gottesdienst mit Pfarrer Gerhard Bergius. Anstatt die Veranstaltung zu räumen, hatte die Polizei ein Umleitungsschild aufgestellt. Der Verkehr wurde durch eines der beiden Nebentore gelenkt. Vor dem Haupttor gab es einen Chorworkshop und Musik bis zum Einbruch der Dunkelheit. Die Nebentore wurden unterdessen blockiert und bei Bedarf auch polizeilich geräumt. In einer Konzertpause erreichte mich die Kunde, Tor 2 sei wieder geräumt worden und keiner säße mehr davor. Ich wollte es genau wissen, ging selber zu Fuß hin und setzte mich mutterseelenallein mitten in die knapp 4 Meter breite Einfahrt. Bald kam ein Mannschaftswagen voller Soldaten. Der Platz reichte nicht aus, um an mir vorbeizufahren. "Rübe ab" hörte ich aus dem Wagen gegen mich fluchen. Man funkte nach Polizei. Zwei Beamte waren schnell zur Stelle. Einer von ihnen erklärte dem aufgebrachten Fahrer, er müsse den Umweg durch den Wald nehmen. Dort gäbe es noch einen Noteingang, das Tor 3. Diese Einfahrt hier, Tor 2 sei momentan nicht passierbar, weil Herr Felder sein Demonstrationsrecht ausübe.

Schließlich bekam ich Ablösung von dem einsamen Posten und ging wieder zu meiner Veranstaltung am Haupteingang. Dort stand ein mir bislang unbekannter Mann in Lederjacke, mittelgroß, sportliche Gestalt, freundlich strahlender Blick. Er hatte auf mich gewartet und fragte mit sächsischem Akzent, ob ich Lust hätte im Juni in Leipzig aufzutreten. Er sei der Wonni, und Pfarrer dort an der Lukaskirche, wo er regelmäßig Konzerte mit oppositionellen Liedermachern veranstalte. Ohne zu überlegen nahm ich die Einladung an - ohne zu ahnen, dass mein Leipziger Gastspiel ein bescheidener Beitrag zur deutschen Wiedervereinigung werden sollte. Wonni, der Gastgeber war kein geringerer als Christoph Wonneberger. Was heute als "Friedliche Revolution" in den Geschichtsbüchern steht, hatte er bereits Anfang der achtziger Jahre als Pfarrer in Dresden auf den Weg gebracht. Es waren die montäglichen Friedensgebete, die bald auch an anderen Kirchen der damaligen DDR stattfanden, und die er von 1986 bis Ende Oktober 1989 in der Leipziger Nikolaikirche koordinierte. Aus den Montagsgebeten wurden Montagsdemonstrationen und schließlich der Durchbruch im Herbst 1989. Aus seiner Feder - besser gesagt: aus seiner Schreibmaschine - stammt der berühmte Appell zur Gewaltlosigkeit vom 9. Oktober 1989 mit dem Satz "Wir sind ein Volk."

Anlass meines Leipziger Gastspiels war der Kirchentag im Juni 89, den die Ostkirche in Abstimmung mit den Staatsorganen veranstaltete. Kritische Töne waren hier nicht erlaubt. Parallel dazu organisierte Christoph Wonneberger in seiner Lukaskirche einen "statt-Kirchentag". Hier kamen die Oppositionsgruppen zu Wort. Gäste aus dem Westen waren Erhard Eppler und Thomas Felder mit dem Thema "nie wieder frieden kriegen". Die Kirche war brechend voll (an die tausend Menschen), die Stimmung angespannt, denn jeder dritte Besucher, so wurde gemunkelt, sei ein Stasi-Spitzel. Ich sang und berichtete von der westdeutschen Friedensbewegung. Nach dem Konzert bot ich Schallplatten zum Verkauf an, eine Kiste mit 100 Stück hatte ich dabei. Ein Mann sprach mich an, er habe sieben Jahre im Knast gesessen wegen ähnlicher Aktivitäten. Das Gespräch dauerte keine drei Minuten, da war meine Schallplattenkiste ausgeräumt, und es lagen genau 1000 Ostmark drin. Die Menschen hatten sich selbst bedient, standen um mich herum und wünschten, ich sollte unbedingt wiederkommen. Für November wurde ein neues Konzert vereinbart. Doch bis dahin hatten sich die Ereignisse überschlagen. Ich fuhr über die offene Grenze und sang in der Sakristei vor den sieben Leuten vom Veranstaltungsteam. Das Publikum glänzte durch Abwesenheit - aber auch Christoph Wonneberger war nicht mehr da. Er hatte einen Schlaganfall erlitten und seine Sprache verloren. Erst 16 Jahre später konnte er wieder öffentlich auftreten, aber nicht mehr als Pfarrer. Die Kirche hatte ihn zwischenzeitlich gegen seinen Willen in den Ruhestand versetzt.

Der Mauerfall und die Auflösung der Sowjetunion brachte auch für die Schwäbische Alb sichtbare Veränderungen: Am 09. November 1990 fuhr ich mit Hetti wieder zur Mahnwache am Atomwaffenlager nach Engstingen. Der Stacheldraht war größtenteils verschwunden, die Bunker standen sperrangelweit offen. Wir traten in das Betongewölbe und fingen an zu tanzen und zu singen - aber es klang fürchterlich! Wenige Wochen zuvor - so erfuhr ich später vom Bürgermeister - waren die Atombomben unter strengster Geheimhaltung in Kisten verpackt und von drei US-Hubschraubern in verschiedene Himmelsrichtungen ausgeflogen worden.

Auch die französische Armee beendete ihre Besatzung. Über fast ein halbes Jahrhundert waren ihre völlig überalterten Panzerkolonnen durchs Land gefahren, regelmäßig auch durch Gönningen, an meinem Haus vorbei. Selten gelang ihnen eine zügige Ortsdurchfahrt, meist standen sie im selbst verursachten Stau, weil irgendein Fahrzeug liegengeblieben war. Die schwarz qualmenden Höllenmaschinen lärmten aber weiter und hinterließen außer der verrußten Luft auch erhebliche Sachschäden. Unter dem Motto "Kein Militär durch Gönningen mehr" startete ich eine örtliche Kampagne. Viele Menschen im Dorf unterschrieben meinen Protestbrief an die französischen Kommandanten nach einem spektakulären Unfall. Was war passiert? Einem voll beladenen Panzertransporter hatten die Bremsen versagt. Mit hoher Geschwindigkeit kam er die Steige herunter ins Dorf gerollt. Weil ihm die Kurve der Hauptstraße zu scharf wurde, benutzte der Fahrer kurz entschlossen mein geradeaus weiterführendes Wohnsträßchen als Auslauf - eine kluge Entscheidung - da geht es nämlich bergauf. Den Wendemoment beobachtete ich zufällig durchs Fenster und wunderte mich über das Monster in dem engen Sträßchen. Sekunden danach hörte ich, wie es rückwärts fahrend mit seiner Sattellast die Hauswand meiner Nachbarin durchschlug. Als ich hinzu eilte, steckte der Panzer unter den Trümmern in ihrem Treppenhaus. Hätte der Fahrer die Kurve noch genommen, er wäre mitten durch den Gönninger Krämermarkt gerast. Solche Vorkommnisse waren ab 1992 Geschichte. Die Franzosen übergaben den Münsinger Truppenübungsplatz an die Bundeswehr.

Dieser Truppenübungsplatz wurde 1895 von König Wilhelm II. gegründet. 1936 wurde er auf Befehl Adolf Hitlers um die Gemarkung Gruorn erweitert, die Dorfbewohner ihrer Heimat beraubt. Nur Kirche und Schulhaus erinnern heute noch an ihr Gemeindeleben. Nach der französischen Übergabe wandte ich mich mit einer Anfrage an den damaligen Verteidigungsminister Rudolf Scharping. Ich wollte wissen, ob er diesen Raubzug, dieses nationalsozialistische Unrecht nun fortschreiben - oder rückgängig machen wolle. Scharping antwortete nie. Aber mit meinem Anliegen stand ich keineswegs auf verlorenem Posten. Zusammen mit anderen MusikantInnen und gleich gesinntem Publikum wanderte ich mehrmals von Trailfingen aus nach Gruorn, um den Ort kulturell zu beleben. Zu ihren jährlichen Pfingsttreffen kamen überlebende Bewohner und tausende auswärtiger Gäste ganz offiziell. Wenn ich aber ein Konzert anmeldete, wurde es regelmäßig verboten; und alle, die das Gelände dennoch mit mir betraten, erhielten saftige Geldstrafen. Für mein eigenes Konzert auch noch Eintritt zu bezahlen war nicht meine Sache, und so landete ich auch mal im "Hotel Doblerstraße" - so nannte man das Tübinger Gefängnis.

Die Stadt Münsingen beschäftigte seinerzeit einen Stadtarchivar, den Historiker Günter Randecker. Günter ist ein lebendiges Geschichtsbuch; er schlägt auch Seiten auf, die weh tun, wenn man sich darin vertieft. Unter anderem war er auch zuständig für das Jüdische Museum in Buttenhausen. Nach umfangreichen Recherchen in deutschen Staatsarchiven veröffentlichte er eine Liste von über hundert Namen ermordeter Juden, die bislang noch nirgends gewürdigt wurden. Es waren ehemalige BewohnerInnen jüdischer Altenheime, die in Buttenhausen gesammelt, und über Stuttgart ihrer Vernichtung zugeführt wurden. Ihnen wollte ich ein Denkmal setzen, was aber vom Buttenhausener Ortschaftsrat einstimmig abgelehnt wurde. Von Günter erfuhr ich auch, dass die Münsinger einen neuen Bürgermeister wollten - und ich meldete mich als Kandidat mit zwei Themen zu Wort: 1. Auflösung des Truppenübungsplatzes, 2. Errichtung besagten Denkmals in Buttenhausen. Mehr darüber im Internet. Der Truppenübungsplatz als Hauptarbeitgeber blieb die heilige Kuh der Münsinger, bis er 2005 gegen ihren Willen aufgelöst wurde. Beide Wahlkampfziele sind erreicht, der Stadt geht es gut.

Weitere Fässer könnte ich öffnen wie Stuttgart 21, Klima-, Flüchtlings- und Coronakrise. Habgier und Größenwahn, Lug und Trug, das große Geschäft mit der Angst - all dies vergrößert die Not, verwirrt und spaltet die Menschenfamilie samt unserer Christenheit. Dabei haben wir eine klare Weihnachts- und Osterbotschaft, die lautet: "Fürchtet euch nicht!" In diesem Sinn beschränke ich meinen heutigen Rückblick auf die kleine handvoll Erlebnisse und Aktionen, die mich bewegt haben, allen Widerständen zum Trotz. Gott sei Dank - war ich nie allein. Immer hatte ich wunderbare Menschen an meiner Seite. Nur in gegenseitiger Ermutigung, mit Humor und Respekt anders Denkenden gegenüber können wir in dieser Welt etwas bewegen. Und wenn unsere Bemühungen auch noch so oft scheitern mögen - auf die Spur kommt es an, die wir hinterlassen. Vielen Dank!

Thomas Felder, Jg. 1953, stammt aus einem evangelischen Pfarrhaus. Vom Kindesalter an wurde er mit dem Singen und Musizieren vertraut gemacht. An einem kirchlichen Internat, das er von 1966 bis 1972 besuchte, wählte er als Schwerpunkt den musisch-kulturellen Bereich. In Stuttgart und London studierte er Bildende Kunst und Anglistik und war danach einige Jahre Lehrer. Seit Beginn der 1970er Jahre ist Thomas Felder als Liedermacher tätig, im Lauf der Zeit als hauptberuflich freischaffender Künstler. Um von der kommerziellen Musikindustrie unabhängig zu bleiben und dennoch sein wirtschaftliches Auskommen zu sichern, gründete er mit der Kulturwerkstatt "Musik&Wort" ein eigenes Label. Über seine Stimme hinaus verwendet er bei öffentlichen Auftritten mit Liedern und Programmen, die vorwiegend von ihm selbst geschrieben und komponiert sind, verschiedene Musikinstrumente. In diesem Jahr feiert er sein 50-jähriges Bühnenjubiläum.

Neben seiner Tätigkeit als Künstler engagiert sich Thomas Felder auch politisch: So zum Beispiel in der Friedensbewegung, der Aufarbeitung des Holocaust, insbesondere in seiner schwäbischen Heimat, und im weiteren Kontext des jüdisch-christlichen Dialogs. Ein außergewöhnlicher Beitrag entstand z.B., als er sich im August 1982 an der einwöchigen Sitzblockade des Atomwaffenlagers Golf bei Großengstingen beteiligte und in die Schlagzeilen geriet, als er beim später erfolgenden Nötigungsprozess an Stelle einer Aussage zum Nötigungsvorwurf den Wortlaut des Strafbefehls vorsang - worauf der Richter den Saal fluchtartig verließ…

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Veröffentlicht am

21. Oktober 2020

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