Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Otto Umfrid - als “Friedenshetzer” verspottet und verachtet

Gedanken zum 100. Todestag am 23. Mai 2020

Von Michael Schmid

Otto Umfrid war zu Beginn des letzten Jahrhunderts ein im In- und Ausland renommierter Pazifist und im Jahr 1914 sogar für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Der 1857 im württembergischen Nürtingen geborene evangelische Pfarrer widersetzte sich dem damaligen geistigen Klima der Aufrüstung vor dem Ersten Weltkrieg.

In seiner ersten Pfarrstelle im Schwarzwald ab 1884 lernt Otto Umfrid die unhaltbare Lage der kleinen Landarbeiter kennen. Als er 1890 Pfarrer in Stuttgart wird, in einer ausgesprochenen Arbeitersiedlung, der ärmsten Kirchengemeinde in Württemberg, erfährt er vom beinahe unbeschreiblichen sozialen Elend der Industriearbeiter seiner Zeit. Für ihn ist klar: "Die Armut aus der Welt zu schaffen, ist unsere Aufgabe - gerade auch die der Christen".  Unerschrocken tritt er als einer der wenigen Pfarrer öffentlich für ein "Evangelium von einer nicht zu fernen besseren Zeit" für das "hartarbeitende und schwergedrückte … Volk" ein. Damit eckt er an in einem konservativen Umfeld und beim Versuch, eine in der sozialen Frage schlafende Kirche zu wecken. Ein Konsistorialrat (heute Oberkirchenrat) macht ihm unmissverständlich klar, "man suche in der Kirche die Ruhe in Gott und nicht soziale Reformideen".

Umfrid wird immer klarer, dass die soziale und die Friedensfrage untrennbar zusammenhängen. In der Innen- wie Außenpolitik verhindern Machtinteressen friedliche Konfliktlösungen. In einer Zeit zunehmender Militarisierung und Aufrüstung gewinnt für ihn nun die Friedensfrage absolute Priorität: "Der größte Jammer unserer Zeit ist der beständige Kriegszustand, in dem wir leben. Vom Frieden wird geredet; aber was ist das für ein Frieden, in dem die Völker bis an die Zähne gewappnet einander gegenüberstehen!"

Der Wechsel vom "sozialen Ruhestörer" zum Friedenskämpfer vollzieht sich endgültig, als er 1894 in die Deutsche Friedensgesellschaft (DFG) eintritt. Neben der Verkündung in den Kirchen wird nun der aktive Einsatz für den Frieden "außerhalb des Schattens der Kirche" in zunehmendem Maß zum zweiten, unveräußerlichen Pol eines glaubhaften, christlichen Engagements in der Welt. Später erinnert er sich an seine Reden für die DFG: "Dann ging ich, oft mit Aufbietung der letzten Kraft, manchmal an einem Sonntagnachmittag, nachdem ich schon zwei bis drei Gottesdienste gehalten hatte, ins Land hinaus, um dort den Frieden zu predigen."

In der Tat, Umfrid ist zum stärksten Motor der 1892 von Alfred Fried und Bertha von Suttner gegründeten DFG geworden. Durch seine Vortragsreisen gründen sich fast 20 Ortsgruppen im damaligen Württemberg. Seine Organisationsarbeit gedeiht so gut, dass die Geschäftsstelle der DFG im Jahre 1900 von Berlin nach Stuttgart verlegt wird. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs bleibt die süddeutsche Landeshauptstadt das Zentrum des organisierten Pazifismus in Deutschland. Otto Umfrid wird im selben Jahr zum Vizepräsident der Deutschen Friedensgesellschaft bestimmt und bleibt in dieser Position bis zu seinem Tod. Rund 600 Aufsätze, Polemiken und Rezensionen verfasst er für Tageszeitungen und Zeitschriften.

Mit seinem Glauben, "dass jedes echte Christentum aufs Schärfste gegen den Brudermord, wie er im Krieg ausgeübt zu werden pflegt, protestieren müsse", stößt Umfrid bei der Regierung ebenso auf scharfen Widerstand wie bei den so genannten "Kriegstheologen", die die Aufrüstungspolitik theologisch untermauern. Zu den alltäglichen Erfahrungen der "Friedenspfarrer" gehören bald gesellschaftlicher Boykott und Diffamierung in der Öffentlichkeit, Pressekampagnen und Denunziationen. So wird Otto Umfrid zum Beispiel 1897 nach einem Vortrag in der damals noch jungen Garnisonsstadt Münsingen auf der Schwäbischen Alb von einem Pfarrerskollegen der "agitatorischen Friedenshetze" bezichtigt. Daraufhin wird die Kirchenleitung aktiv und erteilt ihm einen Verweis - eine scharfe, selten verhängte Disziplinarmaßnahme. Umfrids Vorgesetzter macht ihm deutlich, dass ihn "seine agitatorische Thätigkeit für die sogenannte Friedensbewegung in Gesellschaft und Situationen bringe, die weder seiner noch seines Amtes würdig seien". Doch auch durch diesen Verweis für seine Friedensaktivitäten lässt sich Umfrid nicht von seinem Engagement abbringen.

Die Botschaften der von Umfrid und seinen Mitstreitern verfassten Friedensaufrufe bleiben aktuell, wie der Aufruf aus dem Frühjahr 1913: "Aber die Tatsachen zeigen, daß, da alle Kulturstaaten das gleiche tun, die Kriegsgefahr so nicht vermindert wird, weil gerade die immer drückendere Last des bewaffneten Friedens, verschärft durch Haß und Mißtrauen der Völker untereinander, zur blutigen Entscheidung drängen kann, die wiederum nicht das Ende, sondern den Anfang erneuten Wettrüstens bedeuten würde."

Umfrid gehört zu den wenigen, die sich nicht von der Kriegsbegeisterung und dem nationalen Rausch anstecken lassen, der nach Beginn des Krieges ganz Deutschland erfasst. Obwohl es ihm körperlich und psychisch schlecht geht. Mit den Augen hat er schon lange Probleme, 1913 erblindet er völlig, was mit dem vorzeitigen Ausscheiden aus dem Pfarramt verbunden ist. Dennoch hält er während der Kriegsjahre weiterhin Vorträge, nimmt regelmäßig an Konferenzen in neutralen Ländern teil und ist weiterhin publizistisch tätig. Da die Zensurstellen seine Schriften im Deutschen Reich verbieten, muss er in der Schweiz veröffentlichen.

Otto Umfrid verbringt seine letzten Jahre mit Frau und Töchtern in Lorch. Gegen Ende seines Lebens muss er wegen schweren Depressionen in die Heilanstalt Winnenden, wo er am 23. Mai 1920 stirbt. Seine Beerdigung, zu der nur wenige Menschen kommen, findet auf dem Stuttgarter Pragfriedhof statt. Schon kurz nach Beendigung des Ersten Weltkriegs ist Otto Umfrid nahezu vergessen.

Seine Kinder führen sein geistiges Erbe fort. Die drei Töchter ergreifen pädagogische und soziale Berufe, Grete wirkt publizistisch für den Friedensgedanken. Der Sohn Hermann wird ebenfalls Pfarrer, setzt sich bei den Religiösen Sozialisten, im Internationalen Versöhnungsbund und bei Friedenskongressen für Demokratie und Pazifismus ein. Er wird ebenso wie sein Vater von Stuttgarter Oberkirchenräten der Evangelischen Landeskirche schikaniert. Als er nach den Gründen fragt, wird ihm unumwunden mitgeteilt, "als Sohn eines Pazifisten sei er seinem Vorgesetzten ein Dorn im Auge." Hermann Umfrid lässt sich nicht beirren und führt seine Friedensarbeit fort. Als es im März 1933 in Niederstetten, wo er Pfarrer war, von der SA zu Judenpogromen kommt, verurteilt er dies und sagt mutig in einer Predigt: "Was gestern in dieser Stadt geschehen ist, das war nicht recht." Das verzeihen ihm die Nazis nicht. Er wird von der NSDAP verhaftet und misshandelt. In dieser Situation rückt auch noch die Stuttgarter Kirchenleitung von Hermann Umfrid ab und rügt ihn. Er kann den Druck durch anhaltende und handgreifliche Anfeindungen irgendwann nicht mehr ertragen und setzt in einer Verzweiflungstat am 21. Januar 1934 seinem Leben ein Ende. Von den Nazis in den Tod getrieben, wird er im Grab seines Vaters auf dem Stuttgarter Pragfriedhof bestattet.

Otto Umfrid heute?

Als ich in den Jahren 1977 bis 1980 in Umfrids Geburtsstadt Nürtingen lebte, war mir der Name Otto Umfrid wie wohl fast allen Nürtingern überhaupt kein Begriff. Erst ein paar Jahre später habe ich dann über die Umfrid-Biografie "Für eine Welt ohne Krieg" von Christof Mauch und Tobias Brenner sowie durch einen Vortrag der beiden Autoren etwas von Umfrid mitbekommen. In Nürtingen hat sich später etwas geändert. Insbesondere anlässlich Umfrids 150. Geburtstags im Jahr 2007 wurde in seiner Geburtsstadt mit einer Ausstellung und einer Podiumsdiskussion an den Pazifisten erinnert. Die Kreuzkirche war bis auf den letzten Platz gefüllt. "Nürtingen ist stolz auf Otto Umfrid" bekannte der Stellvertreter des Oberbürgermeisters bei der Ausstellungseröffnung. Ein Bekenntnis, das über viele Jahrzehnte sehr verpönt gewesen wäre. Manche Saat geht spät auf.

Leider konnte die in Stuttgart für 23. Mai 2020 geplante Gedenkveranstaltung zu Otto Umfrids 100. Todestag wegen der Corona-Krise nicht durchgeführt werden. Dennoch: Die Evangelische Landeskirche in Württemberg, die Evangelische Kirchengemeinde Stuttgart-Nord haben gemeinsam mit der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) am Grab von Otto Umfrid auf dem Pragfriedhof in Stuttgart einen Kranz aufgestellt. In der Erlöserkirche, der früheren Kirche Otto Umfrids, fand ein Gedenkgottesdienst statt. Zudem hat Oberkirchenrat Professor Dr. Ulrich Heckel in einer Stellungnahme erklärt, dass Otto Umfrid von der Evangelischen Landeskirche in Württemberg als inhaltlich vollumfänglich rehabilitiert gilt. Das bedeutet, dass sein scharfer Verweis, den er von der Kirchenleitung 1897 für seine Friedensaktivitäten bekommen hat, als aufgehoben betrachtet werden kann. Dies geschieht alles spät, sehr spät. Aber zumindest würdigt die Evangelische Kirche heute Umfrid als einen "wichtigen Wegbereiter der evangelischen Friedenstheologie und Friedensethik".

Ich meine, wir brauchen solche Vorbilder wie Otto Umfrid, um von ihnen zu lernen und uns durch ihren Kampf für den Frieden, ihren Kampf ohne Gewalt ermutigen zu lassen. Es kann auch helfen zu sehen, welche Probleme Pazifisten wie Otto Umfrid hatten, als "Friedenshetzer" verspottet, verachtet, verfemt und verkannt in ihrem Engagement für den Frieden. Umfrid war sich übrigens sehr bewusst, dass es eine Aufgabe von Generationen ist, den Krieg abzuschaffen. Deshalb gelte es, aus "Liebe zu den Kindern, zu den Enkeln … die Bäumchen anzupflanzen, deren Früchte erst das Enkelkind genießen soll; denn die Utopien von gestern sind die Wirklichkeiten von morgen".

Michael Schmid ist seit 1978 Mitglied in der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), wie die von Otto Umfrid früher stark mitgeprägte älteste deutsche Friedensorganisation heute heißt. Mitglieder unterzeichnen folgende Grundsatzerklärung: "Der Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Ich bin daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und an der Beseitigung aller Kriegsursachen mitzuarbeiten."

Dieser Text ist eine erweiterte und aktualisierte Fassung eines erstmalig im "Materialheft für die Ökumenische FriedensDekade 2008" veröffentlichten Artikels.

Weblinks:

Video: Gottesdienst zum 100. Todestag von Otto Umfrid

 

Otto Umfrid: "Die Utopien von gestern sind die Wirklichkeit von morgen"

Veröffentlicht am

25. Mai 2020

Artikel ausdrucken

Weitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von