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Warum wir näher an Kings Auffassung von Gewaltfreiheit heranrücken müssen

Gewaltfreiheit ist nicht nur die Abwesenheit von Gewalt, sondern bedeutet, dass wir die Initiative gegen Gewalt und Ungerechtigkeit ergreifen und daran arbeiten, den Schaden wiedergutzumachen.

Von Kazu Haga

Das Folgende ist eine bearbeitete Fassung eines Kapitels aus Kazu Hagas neuem Buch Healing Resistance: A Radically Different Response to Harm mit Erlaubnis der Parallax Press.

In der Gewaltfreiheit nach King, dem Gedankengut, das aus den Lehren Martin Luther Kings entwickelt wurde, gibt es eine Unterscheidung zwischen einer mit Bindestrich geschriebenen Gewalt-Freiheit und einer Gewaltfreiheit ohne Bindestrich. "Gewalt-Freiheit" besteht aus zwei Begriffen: "frei (von)" und "Gewalt". Wenn wir das Wort so schreiben, heißt das nur: Abwesenheit von Gewalt. Solange ich also "nicht gewalttätig bin", praktiziere ich Gewalt-Freiheit. Das ist allerdings das größte Missverständnis von [der eigentlichen] Gewaltfreiheit, das es gibt.

Ich wohne im gemischtesten Stadtteil von Oakland; dort gibt es eine Mischung von schwarzen, Latino- und asiatischen Bewohnern zu etwa gleichen Teilen. Als ich eines Tages in meiner Wohnung Mittagsruhe hielt, weckte mich ein Paar, das sich unter dem Fenster meiner Wohnung im 2. Stockwerk anschrie. Ich entschloss mich, aufzustehen und zu gucken, was es gab. Eine Frau lag am Boden, wurde geschlagen, weinte und schrie um Hilfe. Ich sprang auf, zog die Schuhe an und rannte die Treppe runter. Als ich an Ort und Stelle war, standen schon etwa 15 Nachbarn dort, aber sie sahen nur zu, wie die Frau geschlagen wurde, und unternahmen nichts, um ihr zu helfen. Es gelang mir, den Kampf abzubrechen und die beiden dazu zu bringen, auseinanderzugehen. Der Mann kochte vor Wut und die Frau weinte. 

Meine Nachbarn, die nur zusahen, praktizierten "Gewalt-Freiheit": Weder boxten sie noch traten sie. Sie waren buchstäblich "nicht gewalttätig". Dieses Beispiel zeigt aus der King’schen Perspektive den Unterschied, den ein kleiner Bindestrich ausmacht. Daran sehen wir, was für ein großes Missverständnis entstehen kann, wenn wir denken, dass es bei Gewaltfreiheit lediglich um die Abwesenheit von Gewalt ginge. Wenn wir mit Gewaltfreiheit "nicht gewalttätig" meinen, können wir uns hinter dem Schleier der Gewalt-Freiheit verstecken und dabei über Gewaltanwendung hinwegsehen.

Zuschauer sein ist leicht. Wir sehen, wie die Obdachlosigkeit zunimmt, und wir nehmen eine andere Straße. Wir sehen, wie unbewaffnete Schwarze von der Polizei getötet werden, und beschuldigen die Opfer. Wir hören von vielen Selbstmorden unter den LGBTQ-Jugendlichen und wir unternehmen diesbezüglich wenig oder gar nichts. Wir lesen Berichte über die Klimakrise und überlassen es der nächsten Generation, damit fertigzuwerden. Wir sehen, wie unsere Gemeinden und die Erde tagtäglich zerstört werden und wir stehen nur rum und gucken zu.

Bei Gewaltfreiheit geht es nicht darum, nichts zu tun. Es geht darum, was wir gegen die Gewalt und die Ungerechtigkeit tun, der wir in unserem Herzen, unseren Häusern, unseren Stadtvierteln und in unserer gesamten Gesellschaft begegnen. Es geht darum, die Initiative gegen Gewalt und Ungerechtigkeit zu ergreifen. Bei Gewaltfreiheit geht es um Tun und nicht um Tatenlosigkeit.

Negativer Frieden

Dieses Missverstehen von Gewaltfreiheit führt zu einem gefährlichen Missverstehen von Frieden. Dem Missverstehen von Gewaltfreiheit entsprechend, kann die Forderung nach einem missverstandenen Frieden ein Akt der Gewalt sein. Am 3. Februar 1956 wurde Autherine Lucy zur ersten schwarzen Studentin, die an der Universität von Alabama studierte. In den Tagen ihrer Ankunft brachen dort Unruhen aus. Ein Mob von über tausend Menschen umringte das Auto, in dem sie fuhr, und einige stiegen aufs Autodach.

Die Universität reagierte damit, dass sie Lucy ausschloss. Die Verantwortlichen argumentierten, Lucys Anwesenheit bedeute eine Bedrohung der Sicherheit der Uni. In den darauf folgenden Tagen hörte der Aufruhr auf. In der Lokalzeitung lautete die Schlagzeile: "Heute ist es wieder ruhig in Tuscaloosa. Auf dem Gelände der Universität von Alabama herrscht wieder Frieden."

"Es herrscht Frieden." An was für eine Art Frieden dachten die Autoren dabei wohl?

Etwa einen Monat später hielt King als Reaktion auf die Schlagzeile eine Predigt mit dem Titel: "Wenn Frieden widerwärtig wird". Darin sagte er: Der Frieden, den die Zeitung nennt, ist kein wirklicher Frieden. Er sagte: "Das ist die Art Frieden, die alle Menschen guten Willens hassen. Es ist die Art Frieden, die widerwärtig ist. Es ist die Art Frieden, die dem allmächtigen Gott in die Nase stinkt." Das waren starke Worte des Mannes, der kurz darauf den Friedensnobelpreis bekommen sollte. Als King von einem "auf flaue Selbstgefälligkeit herunter gekochten Frieden" sprach, meinte er das, was der Friedenserzieher Johan Galtung "negativen Frieden" nennt. Dieser Frieden bedeutet Abwesenheit von Spannungen auf Kosten von Gerechtigkeit. King sagte dann: "Frieden ist nicht lediglich die Abwesenheit von Spannung, sondern die Anwesenheit von Gerechtigkeit."

Oftmals betrachten wir den Frieden als Ruhe und Stille. Wir beschwören Bilder herauf, wie wir den Sonnenuntergang an einem tropischen Strand beobachten, wie wir im Wald an einem Bach meditieren, von Weihrauch und Duftkerzen. Das kann genauso problematisch sein wie die Vorstellung, dass Gewaltfreiheit bedeute, nicht gewalttätig zu sein. Ich garantiere Ihnen, dass es in dem Moment, als die Atombombe auf Hiroshima abgeworfen worden war, wirklich still war. Haben wir also Frieden geschaffen? Wenn mir jemand ins Gesicht schreit und ich ihn aufhalte, indem ich ihn bewusstlos schlage, habe ich dann gerade Frieden geschaffen?

Kurzfristig ist es einfacher, die Probleme unter den Teppich zu kehren und sich mit einem billigen, aber letztlich nicht nachhaltigen negativen Frieden zu begnügen.

So lächerlich das klingt, auf diese Weise versucht unsere Gesellschaft, Frieden zu schaffen, weil wir Frieden so gründlich missverstehen. Dieses Missverständnis ermöglicht uns, einen Krieg damit zu rechtfertigen, dass er Frieden schaffen solle. Wenn wir einfach alle Terroristen töten, werden wir Frieden haben. Diese Auffassung rechtfertigt die Militarisierung der Polizei. Wenn wir alle Demonstranten einsperren, werden unsere Straßen ruhig und friedlich sein. Es rechtfertigt auch Massenverhaftungen. Wenn wir alle bösen Menschen einsperren, werden unsere Städte friedlich sein.

Negativer Frieden herrscht in vielen unserer Beziehungen: zu Hause, am Arbeitsplatz, in Glaubensgemeinschaften und in Institutionen. Oft wird negativer Frieden durch ein allgegenwärtiges und unausgesprochenes Einverständnis darüber geschaffen und aufrechterhalten, dass es als unangenehm empfunden wird, wenn ein Konflikt auftaucht. Mein Heimatland Japan hält sich auf nationaler Ebene an diese Art negativen Friedens. Angehörige unserer Kultur haben die Neigung, konfliktscheu zu sein. Man lehrt uns, es sei ehrenwert, Konflikte zu vermeiden, sich zu ducken und alles zu ertragen. Es gilt als unhöflich, schwierige Themen anzusprechen, die zu Spannungen führen könnten, weil wir damit anderen eine Last aufbürden würden. Es ist unhöflich. Also ertragen wir alles Mögliche.

Japan ist vielleicht eine der hinsichtlich Gewaltverbrechen sichersten Nationen der Welt und, von außen betrachtet, sieht es friedlich aus. Aber wir haben auch eine der höchsten Selbstmordraten der Welt. Zu lernen, Schwierigkeiten im Leben mit Würde zu ertragen, kann durchaus eine positive Eigenschaft sein, aber wenn das dazu führt, dass eine ganze Nation versucht, einfach nur Trauma und Isolation zu ertragen und ein sinnloses Leben zu führen, wenn Menschen gelehrt werden, sich nicht gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung auszusprechen und sich nicht zu rühren, ist das Unterdrückung. So sieht negativer Frieden aus.

Ich habe einmal gehört, dass jemand dieses Phänomen als "Tyrannei der Höflichkeit" bezeichnet hat. In Unternehmen wird uns gesagt, wir sollen sexuelle Belästigung nicht zur Sprache bringen, denn das "würde einen Konflikt verursachen". In unseren Kirchen wird uns gesagt, wir sollen die Verwendung von Kirchengeldern nicht in Frage stellen, denn das sei "unangemessen". Also tun wir weiterhin unaufhörlich so, als gäbe es keine Probleme.

Wir erleben das überall in der Gesellschaft. Rassismus? Kein Problem mehr; die einzigen Menschen, die noch über Rassismus reden, sind die Rassisten! Das Patriarchat? Schauen Sie sich all die Frauen an, die heute große Unternehmen leiten! Die Armut? Mit der Wirtschaft stand es nie besser! Sehen Sie sich nur die Börse an!

Kurzfristig ist es leichter, die Probleme unter den Teppich zu kehren und sich mit einem billigen, aber letzten Endes nicht nachhaltigen negativen Frieden zu begnügen. Etwas ganz anderes ist es, gegen Gewalt die Initiative zu ergreifen und auf einen positiven Frieden hinzuarbeiten, einen Frieden, in dem es Gerechtigkeit für alle gibt. Dazu ist es notwendig, dass wir den Schleier über der Ungerechtigkeit heben und daran arbeiten, den Schaden wiedergutzumachen.

Beunruhigende Selbstgefälligkeit

Wenn wir Frieden mit der Abwesenheit von Spannungen gleichsetzen, entfernen wir uns tatsächlich weiter vom positiven Frieden, wie King ihn gefordert hat. In seinem Brief aus dem Gefängnis von Birmingham schrieb er: "Es mag ziemlich schockierend klingen, wenn ich das Schaffen von Spannungen als etwas bezeichne, das zur Arbeit des gewaltlosen Widerstandsführers gehört. Aber ich muss gestehen, dass ich keine Angst vor dem Wort ‚Spannung’ habe. Ich bin ganz und gar gegen gewalttätige Spannungen, aber es gibt eine Art konstruktiver gewaltfreier Spannung, die für das Wachstum notwendig ist."

Als Reaktion auf den von Polizisten begangenen Mord an Freddie Gray brach 2015 in der Stadt Baltimore ein Aufstand aus. An den Gewalttaten beteiligten sich auch einige Mitglieder der christlichen Gemeinde von Baltimore. Gebäude wurden angezündet, Autofenster wurden zertrümmert. Der ehemalige Star der Baltimore Ravens, Ray Lewis, flehte die Demonstranten an, "die Gewalt zu beenden".

Wenn wir jedoch mit Gewaltfreiheit Gewalt und Ungerechtigkeit bekämpfen, stören wir nicht den Frieden, sondern die Selbstzufriedenheit.

Als Trainer für Gewaltfreiheit bin ich durchaus nicht der Meinung, dass das Anzünden von Gebäuden die effektivste Taktik wäre, um einen dauerhaften Wandel herbeizuführen, aber gleichzeitig enttäuscht mich Lewis’ Aufforderung. Es liegt eine besondere Ironie in seinem Aufruf an die Demonstranten, "die Gewalt zu beenden". Denn genau das versuchten die Demonstranten ja. Beim Aufstand in Baltimore ging es nicht nur um die Ermordung von Freddie Gray. Er war eine Reaktion auf 500 Jahre Gewalt gegen Menschen afrikanischer Herkunft in diesem Land. Die Menschen gingen auf die Straße, weil sie die Gewalt, die so lange Zeit gegen ihre Gemeinschaft ausgeübt worden war, satt hatten.

King hat einmal gesagt: "Ein Aufstand ist die Sprache der Menschen, auf die keiner hört". Unruhen sind letzten Endes ein Schrei von Gemeinschaften nach Frieden, den sie nie hatten. Unterdrückte verurteilen, weil sie sich gegen Jahrhunderte der Gewalt wehren, heißt, den größeren Kontext der Gewalt ignorieren, gegen die sie sich wehren. Es ist die unvermeidliche Reaktion einer Gemeinschaft, deren Schmerz Jahrhunderte lang nicht anerkannt wurde.

Die Aufforderung an die Demonstranten der Bewegung Black Lives Matter nach den letzten Tötungen durch die Polizei, "friedlich" zu bleiben, kann durchaus Unterdrückung genannt werden. Es ist eine Aufforderung zum Frieden, die als Euphemismus dient für "hört auf, euch zu beklagen" und "bleibt, wo ihr seid". Frieden ist chaotisch. Gerechtigkeit ist laut. Wenn wir erwarten, dass Friedenschaffen in einer so gewalttätigen Gesellschaft wie den Vereinigten Staaten ein sauberer, ruhiger und leiser Prozess sein wird, wird es für uns ein böses Erwachen geben.

Echte Friedensförderung verlangt, dass wir lernen, mit unseren Familien und der Gesellschaft über Dinge zu sprechen, über die eigentlich niemand sprechen will. Es kann notwendig sein einzugreifen, Autobahnen zu blockieren oder andere Widerstandsaktionen durchzuführen. Wenn wir das tun, schaffen wir nicht erst einen Konflikt, sondern wir bringen nur den bereits bestehenden Konflikt an die Oberfläche, damit er angegangen werden kann.

King wurde in seinem kurzen Leben 29mal verhaftet. In vielen dieser Fälle wurde er wegen "Störung des öffentlichen Friedens" angeklagt. Denken Sie einen Augenblick lang darüber nach! Lassen Sie das auf sich wirken!

Das geschieht auch heute noch vielen Aktivisten. Wenn wir Gewalt und Ungerechtigkeit mit Gewaltfreiheit bekämpfen, stören wir aber nicht den Frieden, wohl aber die Selbstzufriedenheit. Wir stören die Normalisierung der Gewalt. Wir stören den negativen Frieden. Wenn große Obdachlosenlager als normal angesehen werden, müssen wir etwas dagegen tun. Wenn wir eine Schulabbrecherquote von 50 Prozent an Highschools in Städten akzeptieren, müssen wir etwas dagegen tun. Wenn wir in ein Gefängnissystem mit einer Rückfallquote von 83 Prozent investieren, müssen wir etwas dagegen tun. Wenn Unternehmensinteressen unseren Planeten zerstören und die Lebensgrundlagen künftiger Generationen gefährden, müssen wir etwas dagegen tun.

Der Straftatbestand der "Störung des öffentlichen Friedens" sollte aus dem Strafgesetzbuch dieses Landes gestrichen werden und wir sollten endlich lernen, in wahrem positivem Frieden zu leben. Wir können nicht etwas "stören", das gar nicht existiert. Wenn wir uns auf die schwere Arbeit der Gewaltfreiheit einlassen und uns für sozialen Wandel einsetzen, stören wir nicht den Frieden, sondern wir kämpfen für ihn.

Kazu Haga ist Trainer in Gewaltfreiheit nach M.L. King in Oakland, Kalifornien. Der in Japan geborene Kazu Haga beteiligt sich seit seinem 17. Lebensjahr an vielen Bewegungen für sozialen Wandel. Er führt regelmäßig Trainings mit Jugendlichen, Inhaftierten und Aktivisten durch. Er ist Gründer und Koordinator der East Point Peace Academy und im Vorstand von Communities United for Restorative Youth Justice, PeaceWorkers und des OneLife Institute.

Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler

Quelle: Waging Nonviolence . Originalartikel: Why we need to move closer to King’s understanding of nonviolence . Eine Vervielfältigung oder Verwendung des Textes in anderen elektronischen oder gedruckten Publikationen ist unter Berücksichtigung der Regeln von Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0) möglich.

Veröffentlicht am

28. Januar 2020

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