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Die Guten gehen

Braindrain Der "Arabische Frühling" war sozial gesehen ein Rohrkrepierer. Abwanderung scheint weiter der einzige Ausweg

Von Sabine Kebir

Nach dem Ende des europäischen Sozialismus war der Welt ein besseres Leben versprochen worden - weil sich die Segnungen der freien Marktwirtschaft nun ungehindert globalisieren konnten. Friedlicher wurde es keineswegs, und auch der Wohlstand blieb höchst selektiv verteilt. Festzuhalten ist allerdings, dass nicht mehr nur die Reichsten eine durch gleiche Interessen und weitgehend ähnliche Kultur verbundene globalisierte Schicht bilden. Erstmals in der Geschichte ist auch eine durch ähnliche Bedürfnisse und eine Kultur der Moderne geprägte globalisierte Mittelschicht entstanden, die der Wille eint, an der neoliberalen Weltwirtschaft teilhaben zu können. Diese Mittelschicht existiert inzwischen ebenso in den Ländern Nordafrikas wie in den subsaharischen Staaten. Sie ist die Kraft, die sich am aktivsten für Demokratisierung einsetzt. Warum? Sie verfügt nicht über quasi unbegrenzte Optionen wie die wirklich Reichen, sondern lebt - wie Mittelschichten immer gelebt haben - in unsicheren Verhältnissen. Ihr Wohlstand kann - auch wenn er nicht bescheiden ist - schnell vergehen, sei es durch einen Finanzcrash oder Fehlinvestitionen in einen unberechenbaren Markt. Die Zukunft ihrer Nachkommenschaft scheint stets gefährdet.

Solange diese Mittelschicht den Eindruck hat, dass Demokratie ihre ökonomischen Interessen einigermaßen fördert, bringt sie selbst die besten Demokraten hervor. Schwindet dieser Eindruck, kann sie zur entschiedensten Verteidigerin der Demokratie werden oder sich von ihr abwenden. Sie kann in die Passivität des Prekariats absinken oder eine autoritäre Ordnung anstreben.

Pirouetten in der Wüste

Letzteres zeigt der Fall Ägypten. Der dort 2011 ausgebrochene "Arabische Frühling" erwies sich als Rebellion auf Gerechtigkeit bedachter, digital vernetzter urbaner Jugendlicher. Der Versuch, in diesem Augenblick den Sprung hin zu mehr Demokratie zu wagen, scheiterte, weil die quantitativ stärkeren Unterschichten den traditionalistisch-autoritären Weg bevorzugten. Da sich aber die islamistische Lösung (s. Glossar im Kasten) selbst für die hochgradig Prekarisierten schnell als wenig effektiv herausstellte, war es möglich, unter dem Zepter von Staatschef Fattah as-Sisi zu Verhältnissen zurückzukehren, wie sie unter dem gestürzten Hosni Mubarak geherrscht hatten. Der Rückgriff auf die autoritäre Lösung sicherte den Mittelschichten wenigstens die Teilhabe an der globalen Kultur der Moderne. Die Gleichberechtigung der Frauen wurde ebenso gewährt wie ein straffreier Zugang zu westlichen Kulturgütern. Dass formale Demokratisierung allein der Mehrheit in Ägypten nicht helfen kann, hängt mit dem relativen Mangel an Ressourcen und der Abhängigkeit von externen Geldgebern zusammen. Diese würden eine weniger liberale Wirtschaftspolitik nicht unterstützen. Solange das so ist, kann Ägypten politisch und sozial nur Pirouetten drehen. Falsch ist jedoch die Annahme, dass sich keinerlei Fortschrittspotenziale entwickeln.

Tatsächlich stellt sich die Lage in den anderen nordafrikanischen Ländern mit Ausnahme Libyens nur in Nuancen anders dar. Dass die Armee den Machtkampf zwischen islamistischer und globaler Moderne entscheidet, hat sich in den 1990er Jahren in Algerien gezeigt - es war auch in Tunesien und Marokko kaum anders, obwohl sich dort die Konfrontation beider Strömungen eher auf der politischen Bühne abspielt.

Wegen der unterschiedlichen Ressourcen differiert der Lebensstandard der verschiedenen sozialen Schichten in Nordafrika erheblich. Nirgends ist er so gesichert, dass nicht ein Teil der Bevölkerung ein "besseres Leben" in Europa anstrebt und dorthin aufbricht. Wenn eine Ärztin einer psychiatrischen Klinik in Algier mit einem Anfangsgehalt von umgerechnet 250 Euro rechnen kann, dann klingt so gut wie jedes Angebot verlockend, in Frankreich zu arbeiten. Je höher Menschen aus Nordafrika qualifiziert sind, umso eher können sie auf einen legalen Status in Europa rechnen.

Obwohl der Westen vorgibt, dass ihm das sozioökonomische Wohlergehen aller Nordafrikaner am Herzen liegt, sorgt man sich kaum um die Folgen dieses Braindrains, der auch durch das globale Migrationsabkommen unterstützt wird und den Herkunftsländern der Arbeitsmigranten schadet. Es gäbe probate Mittel, dies in Grenzen zu halten: Die Nutznießer (Unternehmen, Organisationen etc.) ausgewanderter Fachkräfte - oder diese selbst - sollten einen Ausgleich für die Ausbildungskosten zahlen.

Doch nicht nur der Braindrain, auch die Migration jener wagemutigen Schicht des afrikanischen Prekariats, das kaum ausgebildet ist, sich keine Flugtickets leisten kann und eine Passage über das Mittelmeer riskiert, trägt zur Stagnation der Herkunftsländer bei. Der US-amerikanische Afrikanist Stephen Smith schreibt: "Es sind gerade die Leute, die politisch in Afrika etwas verändern könnten, die den Weg ins Exil wählen. Deswegen glaube ich auch, dass die Migrationsströme einen realen Verlust für Afrika bedeuten. Die Auswanderer wären in ihrer Heimat nicht nur ökonomisch wichtig - auch politisch."

Entgegen der Meinung, wonach das Weltprekariat - auch Multitude genannt - durch Migration zum entscheidenden Kampf gegen die Macht der Weltmonopole ansetzt, lässt sich derzeit eher feststellen, dass Migration den Klassenkampf schwächt. Und das nicht nur, weil Allianzen zwischen autochthonem und zugewandertem Prekariat schwierig sind. Der Aufstand der Gelbwesten in Frankreich - die immerhin solidarisch genug sind, gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit für alle zu fordern - zeigt, dass der entschiedene Kampf um ein besseres Leben dort eher möglich wird, wo das Prekariat keinen Ort hat, zu dem es - mit Mut und Glück - migrieren kann.

Sklaverei in Marokko

Die Perspektiven auf ein besseres Leben in Afrika werden nicht nur durch Braindrain, sondern ebenso durch die immerhin öffentlich diskutierte Handelspolitik der EU beeinträchtigt. Die ruiniert mit hoch subventionierten Agrarprodukten afrikanische Lebensmittelproduzenten. Zusätzlich hat die EU mit dem Programm "Africa-Europe-Alliance" vielen Ländern des Nachbarkontinents Freihandelsverträge aufgezwungen, bei denen innerhalb weniger Jahre sämtliche Zollschranken fallen müssen. Zwar sollen durch private Investitionen auch zehn Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden, doch weigern sich einige Länder, dem Abkommen beizutreten. Nigeria etwa, Algerien, das unterschrieben hat, überlegt, die Unterschrift zurückzuziehen, weil bislang einfach nicht genügend private Investoren aus Europa kamen. Ein Wegfall der Einfuhrzölle für Waren aus der EU kann wegen ungleicher wirtschaftlicher Potenziale nun erst recht afrikanische Märkte zerstören. Kein Wunder, dass China den Europäern und Amerikanern bereits den Rang als größter Entwicklungshelfer abgelaufen hat - es baut in Afrika Eisenbahnen, Straßen und Häfen, die mit Rohstoffen bezahlt werden. Geld spielt eine untergeordnete Rolle, was auch die Möglichkeit von Korruption einschränkt.

Für viele Menschen aus dem subsaharischen Raum geht es nicht um den Wunsch nach besserem Leben, sondern um nacktes Überleben, was wiederum zu lebhafter Arbeitsmigration auf dem Kontinent selbst führt. Dabei spielt sich Ähnliches wie in Europa ab: Neuankömmlinge werden in bessergestellten Ländern wie Tunesien oder Marokko als billige Handlanger ausgebeutet, was bis in die Sklaverei führt. Es gibt also auch deshalb keinen Grund, die Migrationsströme zu romantisieren. Die Mehrheit der Migranten verdient so wenig, dass sie zurückgelassenen Familien kein Geld schicken kann. Und doch gibt es auch Hoffnungsvolles. In Nordafrika sind mittelständische Firmen entstanden, die sich mit Photovoltaik befassen und endlich Strom in entlegene Gegenden bringen, für die Staaten niemals ein energetisches Festnetz ausbauen werden. So steigt nicht nur die Lebensqualität, auch lokale Produktionszyklen werden belebt. Zudem eröffnen sich Experimentierfelder, um modernste Technologien einer dezentralen alternativen Energiegewinnung auszuprobieren.

Arabischer Frühling

Tunesien
Einem Aufstand muss Anfang 2011 der autoritäre Staatschef Ben Ali weichen. Die "Jasmin-Revolution" führt zu einer Magna Charta, die eine Balance zwischen Islamisten und Säkularen festschreibt.

Ägypten
Nachdem Hosni Mubarak im Februar 2011 gestürzt worden ist, übernehmen nach Wahlen die Muslimbrüder (Präsident Mursi) die Macht, werden aber im Juli 2013 von der Armee aus dem Amt geputscht.

Libyen
Staatschef Gaddafi sieht sich ab Februar 2011 landesweit mit Widerstand konfrontiert. Luftschläge von NATO-Staaten erzwingen seinen Sturz. Danach wird das Land von Clans und Chaos beherrscht.

Marokko
Zwar gibt es Anfang 2011 ebenfalls Demonstrationen, doch stellte sich König Mohammed VI. an die Spitze der Bewegung. Das Land wird modernisiert, demokratisiert und erhält eine neue Verfassung.

Quelle: der FREITAG vom 01.01.2019. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

02. Januar 2019

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