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Christlicher Widerstand gegen Rassismus, Armut und Krieg am Beispiel Martin Luther Kings

Von Heinrich Grosse Referat von Prof. Dr. Heinrich Grosse auf dem Jubiläumskongress der Initiative Kirche von unten (IKvu) vom 31.03.-02.04.2006 in Berlin.

Wenn es um "politischen Widerstand" oder auch "christlichen Widerstand" geht, denken viele Menschen in Deutschland automatisch an Widerstand gegen totalitäre Regime, gegen Diktaturen. Das liegt in diesem Jahr des Gedenkens an den mutigen Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer besonders nahe. Der Gedanke an Aktionen des Widerstands auch in einer Demokratie ist vielen fremd. Gerade deshalb ist die Erinnerung an Martin Luther King und seinen christlich begründeten Widerstand wichtig. Denn die Tatsache, dass er in einer - wenn auch in vieler Hinsicht unvollendeten - Demokratie lebte, hinderte ihn nicht an gewaltfreiem Widerstand gegen Unrechtsstrukturen.

Martin Luther King, Jr. ist inzwischen so etwas wie ein "ökumenischer Heiliger" geworden. Er zählt zu jenen zehn Menschen, die als "christliche Märtyrer des 20. Jahrhunderts" mit einer Statue an der Londoner Westminster-Abtei geehrt wurden. Bei aller öffentlichen Anerkennung Kings ist allerdings nicht zu übersehen, dass die Erinnerung an ihn gelegentlich in der Gefahr steht, Klischees zu fördern. So führt das Klischee vom "gewaltfreien Märtyrer" oft dazu, Kings politische Perspektiven zu verkürzen und seine bleibende Herausforderung an uns zu verharmlosen. An welchen Martin Luther King erinnern wir uns? Blicken wir auf sein Werk bewundernd, aber eben doch wie auf Vergangenes zurück? Oder inspiriert er uns zu mutiger Zeitgenossenschaft inmitten der bedrängenden Probleme unserer Gegenwart?

Ins Licht der US-amerikanischen Öffentlichkeit trat King im Dezember 1955, als er zum Sprecher der gewaltfreien Bürgerrechtsbewegung gegen die Rassendiskriminierung in den städtischen Bussen von Montgomery, Alabama, gewählt wurde. Die Mehrzahl der BürgerrechtlerInnen stammte aus schwarzen Kirchengemeinden. King erinnerte sie: "Tief verwurzelt in unserem religiösen Erbe ist die Überzeugung, dass jeder Mensch Erbe eines Vermächtnisses von Würde und Wert ist. Unsere jüdisch-christliche Tradition bezeichnet diese dem Menschen innewohnende Würde mit dem biblischen Begriff des ‘Ebenbildes Gottes’." Entsprechend sah King in Rassismus "Götzendienst" ("idolatry"), der auf "Verachtung des Lebens" ("contempt of life") beruhe.

Die Christen und Christinnen in der Freiheitsbewegung versuchten ihr Ziel - die Aufhebung der Rassentrennung in öffentlichen Einrichtungen - mit gewaltfreien Mitteln zu erreichen: durch Demonstrationen, Sit-ins, Gebetswachen, Geschäftsboykotts und die Überfüllung der Gefängnisse. In ihren Kirchen übten sie gewaltfreien Widerstand ein, oft mit Hilfe eines Soziodramas.

King verstand gewaltfreien Widerstand ("nonviolent resistance"; "nonviolent direct action") gegen Rassismus als "Christentum in Aktion". Gewaltfreier Widerstand, so King, will "den Gegner nicht vernichten oder demütigen. Das Ziel ist … Aussöhnung.". Er berief sich auf die Bergpredigt und betonte den inneren Zusammenhang von christlicher Feindesliebe und Gewaltfreiheit: "Die wahre Bedeutung … von Mitgefühl und Gewaltfreiheit liegt darin, dass sie uns helfen, den Standpunkt des Feindes zu sehen, seine Fragen zu hören."

In einer Rede vor seinem Mitarbeiterstab (im November 1967) bekannte King: "Ich weigere mich zu hassen. … Natürlich könntet Ihr sagen: ‘Das ist nicht praktisch. Im Leben kann keiner dem anderen etwas schenken, man muss zurückschlagen, jeder kämpft gegen jeden.’ … Ich kann darauf nur antworten, dass die Menschheit dem sog. praktischen Weg nun schon lange Zeit gefolgt ist, und das hat nur tiefer in Verwirrung und Chaos geführt. … Wir müssen damit anfangen, die Menschheit aus der langen und trostlosen Nacht der Gewalt herauszubringen. Könnte es nicht sein, dass der neue Mensch, den die Welt braucht, der gewaltfreie Mensch ist?"

Die Anwendung gewaltfreier Methoden verstand King als Befreiung von dem Zwang, die herrschenden Werte der Gesellschaft, in der er lebte, zu imitieren. Es ging ihm um die Durchbrechung des Gewaltzirkels. Er hoffte, mit gewaltfreien Aktionen den Gegner in einen politischen Lernprozess einzubeziehen. Immer wieder betonte er: Gewaltfreiheit soll die Befreiung der Unterdrückten wie der Unterdrücker bewirken.

King war keineswegs ein naiver Träumer. Er war nicht blind im Blick auf die institutionalisierte Gewalt, die Gewalt der bestehenden Verhältnisse. So wies er darauf hin, dass auch die Existenz von Ghettos oder Arbeitslosigkeit eine Form von Gewalt gegenüber den Betroffenen darstelle. Scharf kritisierte er Politiker, die, während sie den Vietnam-Krieg unterstützten, schwarze Ghetto-Bewohner zu Gewaltfreiheit mahnten. Wer Gewaltfreiheit beschwört, um bestehende Gewaltverhältnisse gegenüber kritischen Minderheiten zu verteidigen, kann sich nicht auf Martin Luther King berufen!

Im Rückblick auf die Widerstandsaktionen von Montgomery schrieb King: "Es war mehr die Bergpredigt als eine Lehre vom passiven Widerstand, die anfangs die Schwarzen von Montgomery dazu inspirierte, in würdiger Form für ihre soziale Gleichberechtigung zu kämpfen." In seinem Widerstand gegen Rassismus war King auch inspiriert von Henry David Thoreaus "Essay on Civil Disobedience" (1849). Wie Thoreau verstand King seinen Widerstand gegen die Rassendiskriminierung als "Nicht-Zusammenarbeit mit einem bösen System" ("non-cooperation with an evil system"). Er war überzeugt: "Wer das Böse ohne Widerspruch hinnimmt, arbeitet in Wirklichkeit mit ihm zusammen." "Ein ungerechtes System passiv hinzunehmen, heißt, mit ihm zusammenzuarbeiten. Dadurch werden die Unterdrückten genauso schlecht wie die Unterdrücker. Nicht-Zusammenarbeit mit dem Bösen ist eine ebenso große moralische Pflicht wie Zusammenarbeit mit dem Guten."

In einer Ansprache während des Busboykotts erinnerte King an Römer 12,2 ("Stellt euch nicht dieser Welt gleich!"): "Der Befehl, uns nicht dieser Welt anzupassen, stammt nicht nur von Paulus, sondern auch von Jesus Christus, dem entschiedensten Nonkonformisten der Welt". "Die meisten Menschen, und ganz besonders die Christen" - so King - "sind Thermometer. Sie zeigen die Temperatur der Mehrheitsmeinung an. Aber sie sind keine Thermostaten. Sie regeln und ändern die Temperatur der Gesellschaft nicht." Umso nachdrücklicher forderte King Christen und Christinnen auf, "schöpferische Nonkonformisten" zu sein, auch im Widerstand gegen Rassendiskriminierung. "Die Hoffnung auf eine sichere, lebenswerte Welt ruht auf disziplinierten Nonkonformisten, die für Gerechtigkeit, Frieden und Brüderlichkeit eintreten." "Die Rettung der Welt … wird kommen durch die schöpferische Unangepasstheit einer nicht-konformen Minderheit." "Die Gesellschaft braucht Störenfriede, um ihre Spannungen ans Licht zu bringen und ihre Bürger zu zwingen, sich der Hässlichkeit ihrer Vorurteile und der Tragödie ihres Rassismus bewusst zu werden." King forderte die Christen und Christinnen in den Kirchengemeinden auf, so nicht-angepasst zu sein wie der Prophet Amos, wie Abraham Lincoln, wie Jesus von Nazareth. King bekannte: "Ich hatte nie die Absicht, mich an die Übel der Rassentrennung und Diskriminierung anzupassen. Ich hatte nie die Absicht, mich an religiöse Frömmelei anzupassen. Ich hatte nie die Absicht, mich an wirtschaftliche Verhältnisse anzupassen, in denen vielen das Notwendigste vorenthalten wird, um wenigen Luxus zu ermöglichen. Ich hatte nie die Absicht, mich an den Irrsinn des Militarismus und die selbstzerstörerische Wirkung physischer Gewalt anzupassen." Dem entsprach Kings Kirchenverständnis: "Es ist immer Aufgabe der Kirche gewesen, Horizonte zu erweitern, dem Status quo den Kampf anzusagen und, wenn nötig, mit alten Bräuchen zu brechen." Sein christlich motivierter Widerstand war zugleich eine Auseinandersetzung mit der kirchlichen Wirklichkeit, die er vielfach vorfand: "So oft ist die Kirche eine Verteidigerin des Status quo. Weit davon entfernt, durch die Gegenwart der Kirche gestört zu werden, werden die Inhaber der Macht in einem typischen Gemeinwesen beruhigt durch die stillschweigende - und oft sogar verbale - Absegnung der Zustände, wie sie sind." "Jede Religion, die behauptet, sie kümmere sich um die Seelen der Menschen, und sich aber nicht um die Slums kümmert, in denen Menschen zugrunde gehen, um die wirtschaftlichen Verhältnisse, die ihnen den Hals zuschnüren, und um die sozialen Verhältnisse, die sie lähmen - eine solche Religion … ist von der Art, wie Marxisten sie gern sehen würden: Opium des Volkes."

In unserem Land gibt es, wenn ich es richtig sehe, eine verbreitete Politikverdrossenheit, die viele in dem Gefühl bestärkt: "Man kann ja sowieso nichts machen!" Da ist es gut, sich an King und seine christlichen (und nichtchristlichen) MitstreiterInnen zu erinnern. Sie stehen für die Erfahrung: Wo Menschen sich zusammenfinden, um in gewaltfreien direkten Aktionen Widerstand gegen Unrechtszustände zu leisten, und so Konflikte öffentlich machen, da können sie - auch als Minderheit - verändernd wirken. Natürlich bewahrt sie das nicht vor Erfahrungen des Scheiterns. Sich an King zu orientieren - könnte das nicht für uns heute heißen: Wir lassen uns nicht verhärten oder lähmen, wir versuchen weiter, mit unseren begrenzten Kräften an unserem jeweiligen Ort aktiv beizutragen zur Überwindung von Unrechtszuständen?

1967 erklärte King in einer Weihnachtspredigt: "Wir haben die Bedeutung der Gewaltfreiheit in unserem Kampf um Rassengerechtigkeit in den USA erprobt, nun aber ist für die Menschen die Zeit gekommen, Gewaltfreiheit in allen Bereichen menschlicher Konflikte zu erproben, und das bedeutet Gewaltfreiheit auf internationaler Ebene." Ich finde, diese Überzeugung Kings ist für uns in Deutschland von besonderer Aktualität. Setzt unsere Politik nicht immer stärker auf "Konfliktlösung" mit militärischer Gewalt? Wurden nicht sog. humanitäre Interventionen zynisch dazu benutzt, uns an immer mehr (m.E. verfassungswidrige) "out-of-area"-Einsätze der Bundeswehr zu gewöhnen. Mit seinem Plädoyer für Gewaltfreiheit auch auf internationaler Ebene hat King einen Weg vorgezeichnet, der der Tendenz zur Remilitarisierung der Außenpolitik diametral entgegengesetzt ist: den Weg der Rückkehr von militärischen zu (rechtzeitig angewandten!) politischen Mitteln der Konfliktlösung.

Wenn wir nach der Aktualität des von King und seinen MitstreiterInnen geübten christlichen Widerstands fragen, müssen wir auch die Äußerungen und Aktionen des "späten" King der Jahre 1966-1968 im Blick haben. Andernfalls wird aus King leicht ein harmloser "Apostel der Gewaltlosigkeit", ein von vielen Interessen vereinnahmter "Heiliger".

Als King nach schweren Ghettounruhen im Jahr 1965 eine Bilanz des ersten Jahrzehnts der Bürgerrechtsbewegung zog, musste er feststellen: An der hohen Arbeitslosigkeit und der miserablen Wohn- und Schulsituation vieler Afro-AmerikanerInnen in den Großstädten hatte die Aufhebung der Rassentrennung in öffentlichen Einrichtungen wenig oder gar nichts ändern können. Die bewährten gewaltfreien Methoden blieben hier weitgehend wirkungslos.

King verlagerte nun das Schwergewicht seiner Kritik vom Rassismusproblem auf das Problem der Armut. Er forderte eine "Revolution der Werte": "Wir müssen schnell damit anfangen, von einer sach-orientierten Gesellschaft zu einer person-orientierten Gesellschaft zu kommen. Wenn Maschinen und Computer, Profitbestrebungen und Eigentumsrechte für wichtiger gehalten werden als Menschen, wird das gigantische Trio von Rassismus, Materialismus und Militarismus nicht mehr besiegt werden können. … Eine echte Revolution der Werte wird den schreienden Gegensatz von Armut und Reichtum mit großer Unruhe betrachten."

Wenige Monate vor seinem Tod entwickelte King einen Plan zur politischen Mobilisierung aller Unterprivilegierten in den USA. Eine "Kampagne der Armen" ("Poor People`s Campaign") sollte die BürgerInnen der USA mit der Armut im eigenen Land konfrontieren. Die für das Frühjahr 1968 geplanten Aktionen massenhaften zivilen Ungehorsams ("massive civil disobedience") sollten Arme aus allen ethnischen Gruppen vereinen. Ihr Ziel war: "Macht für die Armen" ("poor people`s power"). Im Frühjahr 1968 kämpfte King noch an anderer Stelle gegen Armut und wirtschaftliche Ausbeutung: Er unterstützte streikende, unterbezahlte Arbeiter der Müllabfuhr in Memphis, Tennessee. Es war sein Glaube an die Gotteskindschaft aller Menschen, der ihn an die Spitze der Demonstrationen führte: "Wir müssen allen zeigen, dass dreizehnhundert Kinder Gottes leiden." Diese Solidarisierung mit Ausgegrenzten kostete King das Leben. An der "Kampagne der Armen" konnte er nicht mehr teilnehmen.

"Macht für die Armen" und die damit verbundene Thematisierung des Armuts- bzw. Reichtums-Problems sind auch für uns in Deutschland von großer Aktualität, denn die Aufspaltung unserer Gesellschaft in Arme und Reiche schreitet dramatisch fort.

Seit Ende des Jahres 1966 sprach King ständig von dem Zusammenhang zwischen Rassismus, Armut und Krieg: "Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Übel des Rassismus, der wirtschaftlichen Ausbeutung und des Militarismus alle zusammenhängen." Die Erkenntnis dieses Zusammenhanges führte King in die erste Reihe der Vietnamkriegsgegner.

Zunächst hatte er, obwohl er Mitglied des pazifistischen "Versöhnungsbundes" war, gezögert, offen gegen den Vietnamkrieg Stellung zu beziehen. Führende Bürgerrechtler fürchteten zu Recht, dass die politische und finanzielle Unterstützung der Bürgerrechtsbewegung durch weiße Liberale gefährdet sei, wenn King deutlich die Regierungspolitik kritisiere. Viele Afro-AmerikanerInnen hatten zudem Angst vor dem Vorwurf, keine echten Patrioten zu sein. King brach mit dieser Tradition in der Überzeugung: "Es kann eine Zeit kommen, in der Schweigen Verrat bedeutet." "Ich habe selbst jahrelang Gewaltfreiheit gepredigt: Wäre es nicht inkonsequent, wenn ich nicht gegen den Vietnamkrieg Stellung nähme?"

Genau ein Jahr vor seinem Tod erklärte King in einer eindrucksvollen Antikriegsrede in der New Yorker Riverside-Kirche: "Ich muss meiner Glaubensüberzeugung treu bleiben, mit allen Menschen zu den Kindern des lebendigen Gottes zu gehören. Diese Berufung zur Kindschaft und zur Brüderlichkeit geht über die Zugehörigkeit zu einer Rasse, Nation oder Glaubensgemeinschaft hinaus. Weil ich glaube, dass dem Vater besonders die Leidenden, Hilflosen und Verachteten unter seinen Kindern am Herzen liegen, komme ich … hierher, um für sie zu sprechen. Es ist unsere Aufgabe, für die Schwachen zu sprechen, für die, die keine Stimme haben ("to speak for the voiceless"), für die Opfer unserer Nation, für die, die sie Feinde nennt. Denn keine von Menschen angefertigte Erklärung kann diese zu weniger machen als zu unseren Brüdern" ("und Schwestern" - würden wir heute ergänzen - H.G.).

Der nachdrückliche Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Rassismus, Armut und Krieg ist auch für uns als deutsche BürgerInnen von bleibender Aktualität: Wo wir diesen Zusammenhang wahrnehmen, können wir manche gängigen Erklärungen und Konfliktlösungsstrategien für innen- oder weltpolitische Probleme nicht akzeptieren (z.B.: gegen Asylsuchende und Armutsflüchtlinge mehr Grenzpolizei, Gesetze und Gefängnisse in der "Festung Europa" und Lager in Afrika; in Konfliktzonen der sog. 3. Welt schnelle Eingreiftruppen zur Sicherung westlicher Wirtschaftsinteressen).

Von King und seinen MitstreiterInnen können wir auch lernen: Christlich motivierter Widerstand gegen Rassismus, Armut und Krieg braucht ökumenische Bündnisse.

Im Rückblick auf den Busboykott von Montgomery schrieb King: "Ein rühmenswerter Aspekt der ‘Montgomery Bewegung’ war die Tatsache, dass Baptisten, Methodisten, Lutheraner, Presbyterianer, Episkopale und andere mit dem Willen zusammenkamen, denominationelle / kirchliche Grenzen zu überschreiten. … Sie … sangen und beteten zusammen im gemeinsamen Kampf für Freiheit und menschliche Würde." In der Vereinigung "Geistliche und Laien in Sorge um Vietnam" ("Clergy and Laymen Concerned About Vietnam"), in dessen Präsidium King eintrat, engagierten sich PastorInnen, Priester, RabbinerInnen und Gemeindeglieder gegen den Vietnamkrieg. Nicht das Interesse an einer verwaltungsmäßigen oder doktrinalen Einheit der Konfessionen führte zur Bildung dieser "neuen Ökumene", sondern die praktische Auslegung des biblischen Friedenszeugnisses, die gemeinsame Vertretung der elementaren Interessen von Benachteiligten und Unterdrückten - in diesem Fall von (überwiegend nicht-christlichen) Menschen in Vietnam.

Die wohl wichtigste Aufgabe der Kirche sah King darin, "Stimme derer zu sein, die keine Stimme haben" ("to be the voice of the voiceless"). Das bedeutet: Vorrangige (wenn auch nicht ausschließliche) Aufgabe christlicher Kirchen ist die Parteinahme für Ausgegrenzte und Ohnmächtige, nicht aber die Verfolgung eigener Organisationsinteressen. Dieses Kirchenverständnis führte King auch zu dem schmerzlichen Urteil: "Für die Kirchen, … die in sozialen oder wirtschaftlichen Fragen stumm oder ängstlich sind, sind wir nicht mehr als Fremde, wenn wir auch dieselben Choräle zur Ehre Gottes singen."

Dass der in der Tradition schwarzer Baptisten  in den Südstaaten verwurzelte King ökumenisch dachte und handelte, war auch eine Konsequenz seines "Traums". King war bewegt von einem "Traum". Dieser Traum betraf zunächst nur die US-amerikanischen Schwarzen und ihre Gegner, wie es in der berühmten Rede von 1963 (im Rahmen des "Marsches auf Washington") zum Ausdruck kommt: "Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können."

Im Laufe seines dreizehnjährigen öffentlichen Wirkens (1955-1968) hat sich Kings Vision, sein Traum, ausgeweitet von dem national begrenzten Ziel der Gleichberechtigung für die Schwarzen in den USA zur Vision einer weltweiten "beloved community", eines "Welthauses", in dem alle Menschen - von den Übeln des Rassismus, der Armut und des Militarismus befreit - geschwisterlich zusammenleben. Nachdrücklich betonte King: "Ich spreche als ein Bürger der Welt (citizen of the world)". Entsprechend forderte er: "Unsere Treueverpflichtungen (loyalties) müssen ökumenisch (ecumenical) werden, sie dürfen nicht regional begrenzt (sectional) bleiben. Jede Nation muss jetzt eine sich über alle Schranken hinwegsetzende Verpflichtung gegenüber der Menschheit als ganzer entwickeln." "Unsere Treueverpflichtungen müssen über unsere Rasse, unsere Sippe, unsere Klasse und unsere Nation hinausgehen (transcend), und das bedeutet: Wir müssen eine Weltperspektive entwickeln." Diese von King geforderte "Weltperspektive" als "Verpflichtung gegenüber der Menschheit als ganzer" ist das Gegenteil einer an Profitinteressen orientierten ökonomischen Globalisierung.

Das "Haus der Welt", der "Tisch der Brüderlichkeit", die "beloved community", das "Gelobte Land", der "Auszug aus Ägypten" - diese Bilder hatten mobilisierende Kraft, weil sie den Bann der schlechten Gegenwart überwanden. Kings Traum war ein "Traum nach vorwärts" (E. Bloch).

Was hat dieser Traum mit uns, mit unserem Christ-Sein und unseren Bemühungen um Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung zu tun? Ich bin überzeugt, dass der lange Weg zu diesen Zielen angesichts vieler Ohnmachtserfahrungen und Rückschläge nur durchzuhalten ist, wenn er von einer Vision, von einem Traum im Sinne Kings inspiriert ist. Der "Kältestrom" der Analyse muss begleitet sein von dem "Wärmestrom" hoffnungsstiftender Bilder, in denen die Zukunft symbolisch vorweggenommen wird. So stellt sich uns mit der Erinnerung an Martin Luther King die Frage: Welcher Traum bewegt uns als ChristInnen, als BürgerInnen in Deutschland?

Überblickt man die dreizehn Jahre des öffentlichen Wirkens von Martin Luther King, Jr., so wird deutlich: In seinem christlich motivierten Widerstand ließ er sich immer wieder zu neuen Positionen und Aktionen herausfordern. Er war ein Mensch auf einem Weg. In Montgomery hatte er zunächst nur höfliche Behandlung der Schwarzen, nicht einmal die Aufhebung der Rassentrennung gefordert! Dreizehn Jahre später schickte er sich an, im Rahmen der "Kampagne der Armen" Aktionen massenhaften zivilen Ungehorsams am Regierungssitz zu organisieren. Während er 1964 als Friedensnobelpreisträger große öffentliche Anerkennung erfuhr, riskierte er in seinen beiden letzten Lebensjahren gesellschaftliche Ächtung wegen seiner prophetischen Kritik an den Mächtigen.

Sein christlicher Glaube machte ihn bereit, einen Preis für seinen Widerstand, für seine "schöpferische Unangepasstheit" zu zahlen: "Wir irren uns gewaltig, wenn wir meinen, Religion schütze uns vor den Schmerzen und Agonien moralischer Existenz. … Wer Christ sein will, muss sein Kreuz auf sich nehmen, mit all dem, was es an Schmerzen und Spannungen bringt." Leiden in der Nachfolge Jesu war bei King "nicht Bereitschaft, sich dem Unrecht zu beugen, sondern die Bereitschaft, die Folgen des Widerstands dagegen zu tragen." (H.-E. Bahr).

Bis 1968 registrierte der FBI 50 gegen King gerichtete Attentatspläne. Was gab King die Kraft, seinen gewaltfreien Widerstand gegen Rassismus, Armut und Krieg durchzuhalten - allen Anfechtungen, Inhaftierungen, Todesdrohungen, Misserfolgen und Selbstzweifeln zum Trotz?  Es war sein christlicher Glaube, der sich stützte auf das religiöse Erbe schwarzer ChristInnen in den Südstaaten der USA. Kings Glaube war bestimmt von der Hoffnung auf den befreienden Gott, von der Erinnerung an die prophetischen Visionen menschlichen Zusammenlebens in Gerechtigkeit (bei Amos, Hosea, Jesaja, Jeremia) und an Jesu Eintreten für "die, die keine Stimme haben". Immer wieder berief er sich auf die Exodus-Tradition von der Befreiung aus der Sklaverei; auf das Amos-Wort: "Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach." (Amos 5,24); auf das in Lukas 4,18 von Jesus zitierte Jesaja-Wort (Jes. 61,1): "Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze."

Fast vier Jahrzehnte nach Kings Tod ist seine Vision einer geschwisterlichen Weltgemeinschaft und von Gewaltfreiheit auf internationaler Ebene keine Realität. Aber wenn wir - durch die Erinnerung an ihn ermutigt - in Worten und Taten "sprechen für die, die keine Stimme haben", ist sein Traum unter uns lebendig.

Anmerkung: Die meisten King-Zitate sind entnommen: Martin Luther King, Ich habe einen Traum, hg. von Hans-Eckehard Bahr und Heinrich W. Grosse, Düsseldorf 2003

Quelle: Initiative Kirche von unten (IKvu) .

Fußnoten

Veröffentlicht am

14. August 2006

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