Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Michael Schmid: “Festung Deutschland” oder “Festung Europa” sind keine humanen Konzepte

Redebeitrag am Weltflüchtlingstag bei Protestkundgebung gegen Afghanistan-Abschiebungen am 20. Juni 2018 in Gammertingen

"Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V."  hat am 20. Juni 2018 die 8. Protestkundgebung gegen Abschiebungen nach Afghanistan in Gammertingen (Landkreis Sigmaringen) organisiert. Gleichzeitig wurde am Weltflüchtlingstag ganz generell auf das Schicksal von geflüchteten Menschen aufmerksam gemacht. Nachfolgend dokumentieren wir Ausschnitte einer bei dieser Veranstaltung von Michael Schmid gehaltenen Rede. 

Von Michael Schmid

In Afghanistan herrscht weiterhin Krieg, Terror, Armut und Korruption. Afghanistan ist nicht sicher. Nirgendwo. Das macht nicht zuletzt der neue Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Afghanistan deutlich, der jetzt endlich mit rund einjähriger Verspätung vorgelegt wurde. Dieser Bericht nähert sich der Realität in Afghanistan so langsam an.

Aufgrund dieses Berichts erwartet die Menschenrechtsorganisation PRO ASYL eine Änderung der Entscheidungspraxis für Afghan*innen: Die pauschalisierte Ablehnung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit dem Verweis auf sogenannte inländische Schutzalternativen innerhalb Afghanistans lässt sich nicht mehr aufrechterhalten. Der Lagebericht zeige, dass es nirgendwo sicher sei.

Bekanntlich ist in den letzten beiden Jahren die Ablehnung afghanischer Asylsuchender rapide gestiegen - in der Regel wird die Ablehnung begründet mit dem Hinweis, Verfolgte hätten an einem anderen Ort in Afghanistan Schutz finden können. Damit muss jetzt endlich Schluss sein. Und wir fordern, dass aufgrund des neuen Lageberichts in den letzten Jahren abgelehnte Anträge von Asylsuchenden aus Afghanistan neu bewertet werden müssen. Damit wäre ein Großteil der Klagen vor den Verwaltungsgerichten gegen die Ablehnungsbescheide überflüssig, die eine große Belastung für alle Beteiligten darstellen.

Da es in näherer Zukunft allerdings eher unwahrscheinlich ist, dass dies geschieht, müssen die Betroffenen weiter gegen Ablehnungsbescheide klagen. Und für Afghanen sind die Aussichten auf Erfolg vor Gericht auch nicht gerade gering. Im letzten Jahr wurden 61% ihrer Klagen positiv entschieden.

Weitere positive Zeichen sind vielleicht darin zu sehen, dass sich möglicherweise die Einschätzung des baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshofs Mannheim in Bezug auf afghanische Geflüchtete ändert, indem festgestellt wird, dass gerade alleinstehende Afghanen besonders gefährdet sind. Und auch die Richter am Verwaltungsgericht Sigmaringen geben sich nach meinem Eindruck große Mühe, um zu begründen, warum nach Afghanistan nicht abgeschoben werden kann. Sie haben sich jetzt gerade die Afghanistan-Expertin Friedericke Stahlmann zu einem Gespräch eingeladen. Diese geht von desaströsen Verhältnissen am Hindukusch aus, in die hinein nicht abgeschoben werden darf.

Empörend finde ich, dass Kanzlerin Merkel trotz der desaströsen Lage in Afghanistan, die im eigenen Lagebericht aufgezeigt wird, so nebenher eiskalt erklärt, dass nun wieder uneingeschränkt nach Afghanistan abgeschoben werden könne. Geht es nach der Kanzlerin, sollen also nicht einmal mehr die Einschränkungen gelten, dass nur "Straftäter", "Gefährder" und "Identitätsverweigerer" abgeschoben werden, sondern alle. Diese Rigorosität, mit der Kanzlerin Merkel das Ende jeglichen Abschiebestopps nach Afghanistan erklärt hat, die finde ich zutiefst empörend und menschenfeindlich!

Der nächste Abschiebeflug nach Kabul soll nach gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen nun Anfang Juli stattfinden.

Um es noch einmal sehr deutlich zu sagen: Wer in ein solches Land abschiebt, handelt zutiefst unverantwortlich und nimmt den Tod und Verletzungen der Betroffenen billigend in Kauf. Und "wer afghanische Flüchtlinge abschiebt, kann alle abschieben", stellt Thomas Seibert von medico international völlig zurecht fest. "Das ist das Ende des Flüchtlingsschutzes".

Es waren doch die Erfahrungen während der Nazi-Diktatur, die nach dem 2. Weltkrieg zu einem modernen Flüchtlingsrecht führten. Hintergrund waren damals die Millionen von Flüchtlingen in Deutschland und Europa. Es waren Erfahrungen, dass sich andere Staaten weigerten, Juden aufzunehmen, und damit unzählige Menschen in den sicheren Tod getrieben wurden. Zum Beispiel war 1938 in der von den USA initiierten Konferenz in Evian zur Frage der Aufnahme jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland, an der 32 Staaten teilnahmen, kein einziger dieser Staaten bereit, Juden aus Deutschland aufzunehmen. Die Konferenz wurde ergebnislos beendet. Zu einer Zeit, als die Auswanderung von Juden aus Deutschland noch möglich gewesen wäre, blieben ihnen die Grenzen verschlossen.

Und wenn man dieser Tage die Irrfahrt des Rettungsschiffes Aquarius im Mittelmeer beobachtet hat, das zwischen Malta und Italien hin und her pendeln musste, um über 600 Geflüchtete in einen sicheren Hafen zu bringen und dem das Anlegen verweigert wurde, dann erinnert das an die Irrfahrt der St. Louis im Jahr 1939. Diese Irrfahrt der St. Louis ist eines der traurigsten Kapitel der Nazi-Zeit, weil 937 fast ausnahmslos deutsche Jüdinnen und Juden schon gerettet schienen, als sie sich im Mai 1939 mit der St. Louis von Hamburg nach Kuba auf den Weg machten. Fast alle Passagiere hatten gültige Papiere der US-Einwanderungsbehörde oder Touristenvisa nach Kuba. Doch dann durften in Kuba nach langen Verhandlungen nur 29 Menschen von Bord gehen. Und in den USA überhaupt niemand. Das Schiff musste schließlich mit 918 Verbliebenen nach Europa zurückkehren, obwohl ihnen damit der sichere Tod drohte. Die Passagiere wurden schließlich in Antwerpen auf Belgien, die Niederlande, Großbritannien und Frankreich verteilt. Ein Jahr später hatte die deutsche Wehrmacht diese Länder unter Kontrolle. 254 Passagiere der St. Louis wurden schließlich im Holocaust ermordet.

Es waren also solche schrecklichen Erfahrungen, die dazu führten, dass 1948 von den Vereinten Nationen die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" verabschiedet und verkündet worden ist. 1951 ist auf einer UN-Sonderkonferenz die "Genfer Flüchtlingskonvention" beschlossen worden. Mit dieser neuen Menschenrechtspolitik war und ist die Überzeugung verbunden, dass alle Menschen Teil der Menschheit sind, somit also Teil von uns. Jeder Mensch hat das Recht, als Mensch zu leben!

Dieser Flüchtlingsschutz droht nun, auf kalte Art und Weise einfach beendet zu werden. Wir werden nachher noch mehr dazu hören.

Ich habe vorher gesagt, wer nach Afghanistan abschiebt, kann alle abschieben. Es geht also darum, Afghaninnen und Afghanen, die in unser Land geflüchtet sind, zu schützen. Und es geht gleichzeitig um den Flüchtlingsschutz ganz allgemein. Deshalb fordern wir gemeinsam mit Menschenrechtsorganisationen wie PRO ASYL, amnesty international und medico international und Teilen der Kirchen einen uneingeschränkten Abschiebestopp nach Afghanistan.

Heute, am 20. Juni, ist auch der von den Vereinten Nationen 2001 eingerichtete Weltflüchtlingstag. An diesem Tag wird weltweit mit zahlreichen Aktionen auf das Schicksal der Flüchtlinge aufmerksam gemacht. Der gestern veröffentlichte neue Bericht des UN-Flüchtlingskommissariats macht deutlich: Während in Deutschland die Zahlen neu ankommender Schutzsuchender drastisch gefallen sind, gibt es weltweit immer mehr Flüchtlinge. Krieg, Gewalt und Verfolgung haben die Zahl der Menschen auf der Flucht auf ein Rekordniveau steigen lassen - im fünften Jahr in Folge. Ende des vergangenen Jahres waren nach den Kriterien des UNHCR 68,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Das sind fast drei Millionen mehr als 2016 (65,6). Hinter diesen nüchternen Zahlen stehen Einzelschicksale von Menschen, deren Leben völlig auf den Kopf gestellt wurde und die sich auf eine gefährliche Reise begeben haben, um Schutz vor Gewalt und Krieg zu suchen.

Am heutigen Weltflüchtlingstag möchten wir hier mit unserer Protestkundgebung unsere Solidarität mit Flüchtlingen aus Afghanistan zum Ausdruck bringen, aber auch mit allen anderen geflüchteten Menschen. Wir würdigen ganz besonders die Stärke, den Mut und die Widerstandsfähigkeit, die Menschen auf der Flucht täglich aufbringen. Gleichzeitig soll der Weltflüchtlingstag uns alle aber auch ermutigen, sich für Flüchtlinge einzusetzen: für bessere Lebensbedingungen und ein bestmögliches Zusammenleben von Geflüchteten und einheimischer Bevölkerung.

Wir haben 2015 im kurzen "Sommer der Migration" eine tolle Willkommen- und Unterstützungsbewegung in unserem Land zugunsten von geflüchteten Menschen erlebt. Aber bald darauf hat eine unerträgliche öffentliche Schmutzkampagne, ein regelrechter Überbietungswettbewerb der Hetze gegen Geflüchtete und Migrant*innen eingesetzt, der sich in den vergangenen Monaten immer weiter zuspitzt. Die Stimmung wird immer aufgeheizter, Flüchtlinge und ihre Unterstützer*innen werden zunehmend auf übelste Weise diffamiert. Mit der Rede vom "gefährdeten Rechtsstaat" in Ellwangen, über die "Anti-Abschiebe-Industrie", vom "BAMF-Skandal" über "Asylschmarotzer" und "Asyltourismus", von der "Islamisierung" bis zu den "Gefährdern" wird Stimmung gemacht.

Die politischen Debatten über Migration und Flucht werden seit Monaten von rechts befeuert und dominiert. Gleichzeitig ist eine Politik auf dem Vormarsch, die auf Isolation, Ausgrenzung und Abwehr setzt und dabei Menschenrechte und demokratische Grundwerte missachtet. Der Rechtspopulismus verändert unser Land und ist eine Gefahr für die Demokratie. Der größte Erfolg der AfD war nicht unbedingt ihr Einzug in den Bundestag, sondern "dass man sich in diesem Land wieder hemmungslos menschenverachtend geben und äußern kann…" (Stephan Lessenich, Professor für Soziologie in München).

Ich glaube, es ist noch eine Mehrheit in unserer Gesellschaft, die Migration als gesellschaftliche Wirklichkeit anerkennt. Und es sind sehr viele, die solidarisch mit Menschen auf der Flucht sind. Das ist nicht naiv und realitätsfremd. Im Gegenteil. Aber es ist wichtig, dass diejenigen, die Demokratie, Menschenwürde und Menschenrechte verteidigen, die sich einsetzen gegen rechtspopulistische Menschenfeindlichkeit, für eine menschenfreundliche und offene Gesellschaft, öffentlich sichtbar und hörbar werden.

Heribert Prantl ist Journalist und Autor, er gehört der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung an und leitet das Meinungsressort bei der Süddeutschen Zeitung. Prantl gilt als engagierter Verteidiger eines liberalen und weltoffenen Rechtsstaats. Wir hören nun einen Kommentar von ihm, der kürzlich in der Süddeutschen Zeitung mit dem Titel "Europa macht für Flüchtlinge dicht" erschien.

"Europa macht für Flüchtlinge dicht" und "Ende des Flüchtlingsschutzes in Europa" stellt Heribert Prantl fest. Wir sollten das glasklar sehen: Bei dem heftigen Streit um die Flüchtlingspolitik in der Bundesregierung sind sich die Streitparteien völlig einig darin, die Außengrenzen Europas möglichst völlig gegenüber geflüchteten Menschen abzuschotten. Auch die fälschlicherweise für flüchtlingsfreundlich gehaltene Kanzlerin hat da eine eiskalte Haltung. Die Debatte ist derart verroht, dass es lediglich noch darum geht, ob Deutschland seine eigenen nationalen Grenzen im Alleingang dichter macht, weil europäische Konzepte angeblich zu lange brauchen oder ob dies eben mit den europäischen Partnern geschehen soll. Aber "Festung Deutschland" oder "Festung Europa" sind keine humanen Konzepte. Wir dürfen eine inhumane europäische Flüchtlingspolitik nicht hinnehmen.

Gestern ist ein bemerkenswerter Aufruf "Solidarität statt Heimat" veröffentlicht worden, ein Aufruf gegen Rassismus in der öffentlichen Debatte. Er ist inzwischen bereits von über 3.000 Menschen unterzeichnet worden - und er kann gerne weiter unterzeichnet werden kann. Dieser Aufruf endet mit der Aufforderung:

"Mit Zuschauen und Schweigen muss endlich Schluss sein: Wir werden Rassismus und Entrechtung konsequent beim Namen nennen. Wir werden uns dem neuen völkischen Konsens entziehen und uns allen Versuchen entgegenstellen, die Schotten der Wohlstandsfestung dicht zu machen. Unsere Solidarität ist unteilbar - denn Migration und das Begehren nach einem guten Leben sind global, grenzenlos und universell."

Weblinks:


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Veröffentlicht am

21. Juni 2018

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