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Krieg gegen Flüchtlinge

Der geplante EU-Militäreinsatz zur Verhinderung der Einreise von Flüchtlingen über das Mittelmeer wird vermutlich militärische Operationen auf libyschem Territorium umfassen. Dies berichtet die britische Tageszeitung "The Guardian", der ein umfangreiches Strategiepapier für die Intervention vorliegt. Demnach sollen, um Schiffe oder Treibstofflager von Fluchtunternehmern zu zerstören, auch Landinterventionen in Libyen erlaubt werden. Unter anderem kämen Einsätze militärischer Spezialkräfte in Frage, heißt es in dem EU-Dokument, das "Kollateralschäden" unter Zivilisten ausdrücklich nicht ausschließt.

Während der Einsatz sich offiziell gegen "Schmuggler" richtet, zielt er faktisch darauf ab, jegliche Flucht über das Mittelmeer zu verhindern: Die Nutzung der Dienste illegaler Fluchtunternehmer ist für Flüchtlinge derzeit die einzige Möglichkeit, aus Nordafrika nach Europa zu gelangen. Wie Außenminister Frank-Walter Steinmeier bestätigt, ist der Einsatz inzwischen beschlossene Sache. Kritiker warnen, die in Nordafrika festsitzenden Flüchtlinge befänden sich bereits jetzt in einer katastrophalen Situation; ihre Lage werde sich durch die Intervention noch weiter verschlimmern. Zudem könne die EU sich in bewaffnete Auseinandersetzungen mit libyschen Milizen oder sogar mit dem Islamischen Staat (IS) verwickeln.

Identifizieren und zerstören

Details zu dem geplanten EU-Militäreinsatz, mit dem die unerwünschte Einreise von Flüchtlingen über das Mittelmeer gestoppt werden soll, enthält ein 19-seitiges Strategiepapier, aus dem die britische Tageszeitung "The Guardian" zitiert. Demnach ist es erklärtes Ziel, "das Geschäftsmodell der Schmuggler zu brechen". Dazu sollen ihre Schiffe sowie weitere Fluchtinfrastruktur "identifiziert, ergriffen/beschlagnahmt und zerstört" werden, bevor Migranten sie für die Fahrt in Richtung EU nutzen. Die "Operation" sei "in starkem Maße abhängig von Aufklärung", heißt es in dem Strategiepapier; aus diesem Grund stünden zunächst eine gezielte "Überwachung sowie das Sammeln und Teilen von Geheimdienstinformationen" im Vordergrund.Ian Traynor: Migrant crisis: EU plan to strike Libya networks could include ground forces. www.theguardian.com 13.05.2015. Für das Zerstören von Schiffen und sonstiger Infrastruktur, etwa Treibstofflager, wolle man sich die Option offenhalten, zu Lande zu operieren, heißt es; die Rede ist von Aktionen "entlang der Küste, im Hafen oder gegen ankernde Schiffe". Neben Spionageeinheiten könnten unter anderem sogenannte Boarding Teams sowie militärische Spezialkräfte zum Einsatz kommen.

Risiken und Kollateralschäden

Dabei räumt die EU vielfältige Gefahren offen ein. Eine EU-"Präsenz oder die Durchführung von Aufträgen auf libyschem Territorium" werde womöglich mit "Milizen und Terroristen" konfrontiert sein, heißt es in dem Strategiepapier, das dem "Guardian" vorliegt. "Das Vorhandensein schwerer militärischer Ausrüstung (einschließlich Küstenbatterien) und militärisch handlungsfähige Milizen stellen eine robuste Bedrohung von EU-Schiffen und Flugzeugen dar, die in der Nähe operieren", warnen die Autoren. "Die Präsenz von Terroristen in der Region bildet ebenfalls eine Bedrohung. Aktivitäten zu Lande könnten in einer feindlichen Umgebung durchgeführt werden."Ian Traynor: Migrant crisis: EU plan to strike Libya networks could include ground forces. www.theguardian.com 13.05.2015. Zusätzlich zu den Gefahren für Militärs aus EU-Staaten wird explizit auf Gefahren für die Flüchtlinge hingewiesen. "Boarding-Operationen gegen Schmuggler in Gegenwart von Migranten", heißt es, "beinhalten ein hohes Risiko von Kollateralschäden einschließlich dem Verlust von Leben".

Grünes Licht

Laut Informationen des "Guardian" steht der Zeitplan für den förmlichen Beschluss über den Einsatz und dessen Beginn inzwischen fest. Demnach werden die EU-Außen- und Verteidigungsminister nächsten Montag über die Intervention entscheiden, insbesondere darüber, wo das Hauptquartier angesiedelt wird und wie die Kommandostrukturen gestaltet werden. Am Dienstag sollen die militärischen Planungen weiter vorangetrieben werden. Bereits letzte Woche berichtete die "New York Times", einem Beschluss des UN-Sicherheitsrats, der den EU-Einsatz auch auf libyschem Territorium legitimiert, stehe im Grundsatz nichts mehr entgegen.Somini Sengupta: U.N. Wants to Let Europe Use Military Force to Stop Migrant Smuggling Boats. www.nytimes.com 06.05.2015. Allenfalls Russland zögere noch, heißt es nun. Gebe Moskau kein grünes Licht, dann werde Brüssel die Intervention eben von außerhalb des libyschen Hoheitsgebiets durchführen. Nach einem Beschluss der Staats- und Regierungschefs der EU, der nächsten Monat erwartet werde, könnten die Operationen starten. Man werde sich bei alledem eng mit der NATO abstimmen, hieß es am Rande eines Verteidigungsministertreffens des westlichen Kriegsbündnisses am gestrigen Donnerstag.

Dem Tod ins Auge gesehen

Der bevorstehende EU-Einsatz wird bereits jetzt in mehrfacher Hinsicht scharf kritisiert. So ist - jenseits aller Fragen nach seiner Sinnhaftigkeit - vollkommen unklar, wie er realisiert werden soll. Viele der Boote, die für die Flucht über das Mittelmeer genutzt werden, sind simple Fischerboote, die spontan umfunktioniert werden.Patrick Kingsley: Libya’s people smugglers: inside the trade that sells refugees hopes of a better life. www.theguardian.com 24.04.2015. Will die EU nicht ganze Fischerhäfen präventiv zerstören, dann muss sie ein Boot in genau dem Moment vernichten, in dem es den angestammten Hafen verlässt und die kurze Strecke zum Aufnahmeort für die Flüchtlinge zurücklegt. Die libysche Küste, die zu diesem Zweck kontrolliert werden muss, hat eine Länge von fast 1.800 Kilometern. Abgesehen davon säßen die Flüchtlinge dann endgültig in Libyen fest. Zu Wochenbeginn hat Amnesty International einen Bericht publiziert, der die katastrophale Lage von Migranten in dem Land schildert: Sie sind dort Misshandlungen, Entführungen, Erpressungen, Folter, sexualisierter Gewalt und anderen Verbrechen krimineller Banden ausgesetzt - im großen Stil und fast ohne Aussicht, ihrem Elend zu entkommen. "Wir sahen in Libyen dem Tod ins Auge, und deshalb dachten wir, wir könnten dem Tod ebenso ins Auge sehen, indem wir versuchen, nach Italien zu gelangen", begründete eine Flüchtlingsfamilie aus Syrien gegenüber Amnesty International ihre Entscheidung, die lebensgefährliche Überfahrt über das Mittelmeer zu wagen."Libya is full of cruelty". Stories of abduction, sexual violence and abuse from migrants and refugees. Amnesty International, May 2015. Migranten, die noch in Nordafrika festsitzen, haben künftig nicht einmal mehr diese Option.

Widerstände in Libyen

Hinzu kommt, dass Operationen an Land nach gegenwärtigem Stand zwar möglicherweise mit Billigung des UN-Sicherheitsrats, aber wohl ohne die Zustimmung der libyschen Regierung stattfinden. Libyen ist - eine Folge des transatlantischen Luftkriegs zum Sturz der Regierung Gaddafi im Jahr 2011 - weitestgehend zerfallen. Der gewählten, international anerkannten Regierung, die sich nach Tobruk unweit der Grenze nach Ägypten zurückgezogen hat und keinen großen Einfluss besitzt, steht eine nicht anerkannte, islamistisch geprägte Gegenregierung gegenüber, die unter anderem Tripolis und Bengasi sowie weite Teile des Landes unter Kontrolle hat. Für die international anerkannte Tobruk-Regierung hat bereits Ende April General Khalifa Haftar erklärt, man stimme den vorgesehenen EU-Operationen auf libyschem Territorium nicht zu.Don Melvin: Libyan general: EU military action regarding migrants would be "unwise". edition.cnn.com 24.04.2015. Die nicht anerkannte Gegenregierung hat ihrerseits erklärt, auch sie wolle einen EU-Einsatz nicht hinnehmen und sich ihm gegebenenfalls entgegenstellen.Mark Micallef: Tripoli: Bombing our coast "unacceptable". www.timesofmalta.com 23.04.2015. Dass es durchaus zu einem Waffengang kommen kann, hat der Beschuss eines türkischen Schiffs am vergangenen Sonntag durch landgestützte libysche Einheiten wie auch aus der Luft gezeigt. Das Schiff befand sich Berichten zufolge auf dem Weg nach Darnah.Türkischer Frachter vor Libyen beschossen. www.spiegel.de 11.05.2015. Unklar ist, was es an Bord hatte.

Der "Islamische Staat"

Unabhängig davon wirft der Vorfall Licht auf die Tatsache, dass der geplante EU-Einsatz unter Umständen einen zweiten Kriegsschauplatz im Kampf gegen den "Islamischen Staat" (IS) eröffnen kann. In Darnah haben sich jihadistische Milizen im vergangenen Jahr dem IS angeschlossen. Ihr Erstarken verdanken sie nicht zuletzt dem Westen.

Mehr zum Thema:

Quelle: www.german-foreign-policy.com   vom 15.05.2015.

Fußnoten

Veröffentlicht am

15. Mai 2015

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