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Mohssen Massarrat: Aufruf an die Friedensbewegung - Warum kämpft Hamas trotz militärisch hoffnungsloser Unterlegenheit weiter?

Von Mohssen Massarrat

Die Hamas provoziere mit ihren Raketen gegen israelische Städte, die Hamas benütze die eigene Bevölkerung als menschliche Schutzschilde, Hamas verstecke Waffen in Wohnhäusern, in Moscheen und Krankenhäusern, sie kalkuliere zynisch die toten palästinensischen Zivilisten einschließlich deren Kinder in ihre Strategie mit ein, um durch die steigende Empörung der Weltöffentlichkeit Israel unter Druck zu setzen - je mehr Tote, desto größer der Druck. Mit diesen oder ähnlichen Mutmaßungen in nahezu allen westlichen Medien sollen Israels Kriegsverbrechen in Gaza heruntergespielt und Hamas auf die Anklagebank gesetzt werden.

Dass die eigentliche Ursache des Gaza-Krieges, der innerhalb von 6 Jahren nun zum dritten Mal stattfindet, die israelische Besatzung ist, gerät dabei völlig aus dem Blick. Ungeachtet dieser bekannten Methode der Tatsachenverdrehungen stellt sich aber die brennende Frage, warum die Hamas Israel mit Raketen beschießt, obwohl sie offensichtlich militärisch ziemlich sinnlos sind? So spricht beispielsweise Jürgen Todenhöfer, der unzweideutig für die Palästinenser Partei ergreift und Sanktionen gegen Israel anmahnt, kritisch von "Hamas’ sinnloser Ballerei". Auch ich selbst hatte mich des öfteren gefragt, ob die Hamas mit dem Raketenbeschuss nicht in Israels Falle tappt und dem Besatzerstaat den Vorwand liefert, den er braucht, um Gaza erneut mit Raketen und Panzern zu überziehen. Dadurch könnte Israel nicht nur die Hamas militärisch entscheidend schwächen, sondern auch die gesamte zivile Infrastruktur, die in den letzten Jahren in Gaza aufgebaut wurde, mit einem Schlag zerstören und dieses Stückchen Land um Jahre und Jahrzehnte zurückwerfen.

Erst durch einen Beitrag von Gideon Levy, dem Journalisten der israelischen Zeitung Haaretz, glaube ich, Hamas’ scheinbar irrationales Verhalten im gegenwärtigen Krieg begriffen zu haben. In seinem Beitrag, den die FR vom 22. Juli veröffentlichte Siehe Gideon Levy: Was will die Hamas wirklich? , Frankfurter Rundschau vom 21.07.2014., beschwört Levy die Israelis, sich die zehn Bedingungen von Hamas für einen zehnjährigen Waffenstillstand wenigstens anzuschauen. In den hiesigen "Qualitätsmedien" wird die Hamas zu einem brutalen Gegner, der keinen Frieden, sondern lediglich Krieg wolle, hochstilisiert. Hamas mache für einen Waffenstillstand die Erfüllung ihrer gesamten Forderungen zur Bedingung und hätte alle bisherigen Vorschläge abgelehnt, während gleichzeitig Israel als moderate Kriegspartei dargestellt wird, die keinen Krieg, sondern Frieden anstrebe, weil es bisher mehreren Waffenstillstandsvorschlägen zugestimmt hätte. Was man aber nicht erfährt, sind gerade die konkreten Hamas-Forderungen, die zu kennen die Weltöffentlichkeit einen Anspruch hat.

Hamas’ Bedingungen

Es war jedoch bisher lediglich der Haaretz-Journalist Gideon Levy, der seiner journalistischen Pflicht nachgekommen ist und uns die Hamas-Forderungen zugänglich gemacht hat: Freiheit für den Gazastreifen, keine Militäroperationen, zu Lande, zu Wasser und in der Luft, Abzug der israelischen Armee aus Gaza, damit palästinensische Bauern ihr Land bis an den Grenzenzaun zu Israel nutzen können, Freilassung von Palästinensern, die erst im Austausch für den israelischen Soldaten Gilat Shalit freikamen und dann bald wieder verhaftet wurden, die Beendigung der Blockade und Wiedereröffnung der Grenzen in Gaza, auch muss der Hafen und der internationale Flughafen unter die Kontrolle der UN gestellt werden, Erweiterung der Fischerei-Zone und internationale Überwachung des Grenzübergangs in Rafah, Zusage einer zehnjährigen Waffenruhe und Schließung des Luftraums in Gaza für israelischen Flugzeuge, Erlaubnis für die Einwohner des Gazastreifens für die Reise nach Jerusalem, um in der Al-Aksa-Moschee zu beten, keine Einmischung in die innerpalästinensische Innenpolitik und Regierungsbildung und schließlich die Eröffnung von Gazas Industriezone.

Levy hält diese Bedingungen nicht nur für "eine faire Grundlage" für einen Waffenstillstand, sondern er bezichtigt Israels Regierung, sie rigoros abzulehnen "selbst wenn diese Forderungen wichtig sind und langfristig den Interessen des Staates Israel entsprechen". Dagegen ziehe Israel es vor, so Levy, "die Hamas gnadenlos zu bekämpfen, und das nur aus Rache". Wie man leicht erkennen kann, stellen tatsächlich alle diese Forderungen ein Minimum für das Überleben der Palästinenser dar, die in einem Ghetto eingesperrt sind, seit ewigen Zeiten vom Zugang zur Welt abgeschnitten wurden und durch eine erbarmungslose Besatzungsmacht mittels Stromabschalten, Behinderung von Medikamenten- und Lebensmittelimporten sowie der Behinderung des Geldtransfers und durch vieles andere mehr schikaniert und drangsaliert werden. Warum sollen diese durch und durch zivile Bedingungen der Hamas für Israel unerfüllbar sein, wie Israel und seine westlichen Unterstützer dies der Weltöffentlichkeit weiß machen wollen?

Hamas’ Alternativen

Die Hamas kennt die Antwort auf diese Frage, und sie hat für diese Erkenntnis bisher einen hohen Blutzoll bezahlt. Tatsächlich steht sie vor der Alternative, entweder das Elend und ein menschenunwürdiges Leben für die 1.8 Millionen Palästinenser in Gaza und einen schleichenden Völkermord durch immer wiederkehrende Kriege Israels hinzunehmen, oder aber zur Verhinderung des schleichenden Völkermords weiterzukämpfen und dabei hinzunehmen, dass dieser Kampf bereits heute den Palästinensern viel Opfer abfordert. Ob diese Rechnung aufgeht, ist ungewiss. Hamas durchkreuzt mit ihrer Entscheidung auf jeden Fall die Taktik der israelischen Regierung, die die erste Alternative favorisiert und daher zu einem sofortigen Waffenstillstand ohne jegliche Zugeständnisse bereit ist. Die Hamas hat sich dagegen für die Standhaftigkeit und die Fortsetzung des Raketenkrieges gegen Israel entschieden, weil alle bisherigen diplomatischen und bewaffneten Versuche und gigantischen territorialen Zugeständnisse der Palästinenser nicht zu einem dauerhaften Frieden geführt haben. Was bleibt einer Befreiungsorganisation wie der Hamas, die inzwischen für die palästinensische Nationalbewegung insgesamt kämpft, auch sonst noch übrig, als weiter zu kämpfen, wo doch offensichtlich geworden ist, dass Israel - und das kann man heute mit Fug und Recht behaupten - alles daran setzt, um einen dauerhaften Frieden zu torpedieren. Dabei scheut das Besatzerland Israel vor nichts zurück, bombardiert sogar UN-Einrichtungen in Gaza und führt damit im Grunde die ganze Welt an der Nase herum.

Ich persönlich bin Pazifist aus tiefster Überzeugung, habe aber dennoch für die Fortsetzung von Hamas’ Widerstand Verständnis in der Hoffnung, dass dieser Widerstand zu einem Waffenstillstand führt, bei dem die Bedingungen der Hamas akzeptiert werden. Die Hamas handelt in meinen Augen nach der ultima ratio, nach einem Prinzip also, das der Westen als Rechtfertigung für seine in der Regel völkerrechtswidrigen Kriege ins Feld führt, das er jedoch im Bezug auf Israel nicht einmal in Erwägung zieht. Mahatma Gandhi hat seinen antikolonialistischen Kampf gegen die übermächtige Kolonialmacht England mit den Methoden des zivilen Ungehorsams gewonnen. Gandhis Weg wäre aus Sicht der Pazifisten ganz sicher der bessere Weg. Für die Palästinenser ist dieser Weg jedoch, so fürchte ich, möglicherweise schon zu spät. Hamas Bedingungen für einen Waffenstillstand sind auch Bedingungen, die alle Menschen, die Frieden wollen, sich wünschen würden.

Mohssen Massarrat (* in Teheran) ist ehemaliger Professor für Politik und Wirtschaft im Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück mit den Forschungsschwerpunkten Mittlerer und Naher Osten, Energie, Friedens- und Konfliktforschung, sowie Nord-Süd-Konflikt. Er wurde im Iran geboren und lebt seit 1961 in der Bundesrepublik Deutschland. Massarrat war Vertrauensdozent der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Heinrich-Böll-Stiftung, seit 2002 ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von Attac Deutschland.

Quelle:  Neue Rheinische Zeitung . Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Mohssen Massarrat.

Fußnoten

Veröffentlicht am

31. Juli 2014

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