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Ein amerikanisches Geheimnis

USA: Der Fall des Soldaten und Taliban-Gefangenen Bowe Bergdahl erinnert daran, dass es in der Army schon immer Deserteure gab – trotz aller patriotischer Mythen

Von Konrad Ege

Fahnenflucht gehört im US-Militär zum Alltag, aber man spricht nicht viel darüber, weil es am Tapferkeitsmythos kratzt und zum Nachdenken über Kriege anregt. Nicht zuletzt über die Frage, ob der Mensch wirklich dafür gemacht ist, seine Artgenossen auf Befehl gezielt zu töten. So tut man sich derzeit schwer mit Bowe Bergdahl aus Idaho, fünf Jahre lang der einzige US-Kriegsgefangene in den Händen der Taliban. Bergdahls Geschichte beginnt im März 2009 mit Barack Obamas großer Afghanistan-Rede. Die Lage sei nicht gut, erklärt der Präsident. 2008 sei „das tödlichste Jahr für amerikanische Streitkräfte in Afghanistan“ gewesen. Insgesamt 21.000 neue Soldaten sollten nun für Verstärkung sorgen. Der 23-jährige Bowe Bergdahl ist einer davon.

Im März 2009 wird er auf einen Außenposten von nur 25 Mann in der Provinz Paktika versetzt, knapp 100 Kilometer von der Grenze zu Pakistan entfernt. Drei Monate später verschwindet Bergdahl, angeblich ohne Helm und unbewaffnet, doch mit Kompass und Wasserflasche. Details sind unklar. Heute ist Bergdahl wieder in den USA, ausgetauscht gegen fünf Häftlinge aus dem Straflager Guantanamo. Diese Woche hat das Pentagon einen Generalmajor beauftragt, Vorwürfen nachzugehen, Bergdahl sei desertiert.

In einer Nation, in der ein Zivilist dem Soldaten gewöhnlich sagt, er danke ihm für seinen Dienst, und in der das Vertrauen auf Uniformen an das der Berliner auf den Hauptmann von Köpenick erinnert, hat Fahnenflucht etwas sehr Schmutziges und wird gern mit dem Adjektiv feige versehen. Allerdings hat Desertieren auch eine lange Tradition in den US-Streitkräften.

Der moralische Kompass

Schon beim Bürgerkrieg des Nordens gegen den Süden (1861–1865) setzten sich Soldaten scharenweise ab. Der damalige Präsident Abraham Lincoln sah sich einen Monat vor Kriegsende genötigt, eine Amnestie zu verkünden. Im Zweiten Weltkrieg desertierten etwa 50.000 amerikanische und rund 100.000 britische Soldaten, ermittelte der US-Historiker Charles Glass in seinem 2013 erschienenen Buch The Deserters. A Hidden History of World War II.

Im Irak- und Afghanistankrieg waren insgesamt 2,5 Millionen US-Soldaten im Einsatz. Auch in der heutigen Berufsarmee gibt es sie noch – Männer und Frauen in Uniform, die aus persönlichen und manchmal politischen Gründen nicht mehr können oder wollen. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums sind seit dem Jahr 2000 Tausende Soldaten, Marineinfanteristen und Matrosen jährlich desertiert. Selbst im superpatriotischen Jahr 2001, als die New Yorker Zwillingstürme einstürzten, seien mehr als 9.000 Männer und Frauen in Uniform nicht mehr zum Dienst angetreten. Die meisten Desertationen sind unspektakulär, geschehen nicht an der Front, sondern zu Hause, die Soldaten gehen einfach nicht mehr hin. Viele Fälle enden administrativ mit unehrenhafter Entlassung. Für das US-Militär gilt als Deserteur, wer mehr als 30 Tage unautorisiert abwesend ist und die Absicht hat, nicht zurückzukehren.

Einer der Deserteure in George W. Bushs Irak-Krieg und -besetzung (2003 – 2011) war Joshua Key aus Guthrie in Oklahoma, der 2003 in Falludscha, Ramadi und in Al-Qaim an der irakisch-syrischen Grenze zum Einsatz kam. Key hat seine Erinnerungen niedergeschrieben als „Geschichte eines ganz gewöhnlichen Soldaten, der weggegangen ist vom Krieg im Irak“. Auf Heimaturlaub habe er festgestellt, dass sein moralischer Kompass nicht mehr funktioniere unter dem Stress, Soldat einer ungewollten Besatzung und ständig in Gefahr zu sein. Offiziere hätten den Einheiten eingeredet, alle Iraker seien Feinde, auch die Zivilisten. Daraufhin hätten US-Soldaten Iraker bestohlen. Diese zu verprügeln, sei keine große Sache gewesen. „Und es war ein Leichtes, sie zu töten. Wir waren Amerikaner im Irak, und wir konnten tun, was wir wollten.“ Key floh nach Kanada.

Eddie Slovik aus Detroit war bei seiner Hinrichtung ein Jahr älter als Bowe Bergdahl beim Verlassen seines Postens, Ende Januar 1945 im verschneiten Sainte-Marie-aux-Mines, einem Dorf in den Vogesen. Zwölf Soldaten schossen auf den an einen Pfahl gebundenen Slovik. Der Soldat war zum Tod verurteilt worden wegen Fahnenflucht. Die Öffentlichkeit erfuhr Details erst 1954 durch William Bradford Huies The Execution of Private Slovik. Der Verurteilte hatte sich in Frankreich von seiner Einheit entfernt. Er kam zurück, und es wäre fast noch gegangen; Soldaten verirrten sich gelegentlich an der Front. Doch Slovik reichte eine schriftliche Erklärung nach: Er habe unter Feuer große Angst ausgestanden, er habe gezittert und nicht mehr aufstehen können, heißt es in der von Huie veröffentlichten Aussage. Schickte man ihn wieder nach vorn, würde er wegrennen. General Dwight Eisenhower lehnte als Oberkommandierender Sloviks Gnadengesuch ab.

Slovik war der einzige US-Deserteur, der im 20. Jahrhundert hingerichtet wurde. Es war eine schlechte Zeit für Gnade: General Eisenhowers Truppen hatten gerade große Verluste in der Ardennen-Schlacht hinnehmen müssen.

Die zerstörten Männer

Ansonsten zeigte die Institution Militär kein übermäßiges Interesse, die Sache mit den Fahnenflüchtigen groß aufzubereiten. Es sah einfach nicht gut aus. Im Zweiten Weltkrieg war das Thema tabu für US-Medien. Viele Deserteure seien Frontsoldaten gewesen, die schwere Gefechte durchgemacht hatten, schreibt der Historiker Glass. Zwar habe General George Patton „die Feiglinge“ alle erschießen wollen, doch andere Generäle hätten eingesehen, dass es produktiver sei, die verlorenen Schafe wieder einzureihen. „Die zerstörten Männer mit beratenden Worten, einem warmen Essen, sauberer Kleidung und einer Ruhepause zu versorgen, würde sie eher zu ihrer Pflicht zurückbringen als Drohungen mit dem Erschießungskommando.“ 2.864 Deserteure wurden im Zweiten Weltkrieg vor US-Militärrichter gestellt, die meisten bekamen Haftstrafen.

Die Filmrechte an The Execution of Private Slovik erwarb übrigens Frank Sinatra. Mit Rücksicht auf seinen Freund John F. Kennedy, einen Politiker, der ganz nach oben wollte, ließ der Hollywood-Star das Projekt dann aber fallen. Schließlich wurde das Buch 1974 fürs Fernsehen verfilmt, mit Martin Sheen in der Titelrolle.

Am 20. Januar 1977 wurde Jimmy Carter – von 1946 bis 1953 Marine-Offizier – US-Präsident. Einen Tag später machte er bekannt: Um das Land „nach dem Vietnamkrieg zu heilen“, begnadige er alle jungen Männer, die gegen die Wehrpflichtgesetze verstoßen hätten – indem sie ins Ausland flüchteten oder sich der Registrierung entzogen. Hunderttausende waren von der Amnestie betroffen. Dennoch protestierten die Vietnam Veterans Against the War: Carter tue in Wirklichkeit nichts für Deserteure und die vielen Soldaten, die unehrenhaft entlassen worden seien, weil sie sich „gegen den Krieg und gegen den Rassismus im Militär eingesetzt hatten“.

Das Schicksal der Kameraden

Vietnam war aus Sicht der militärischen Führung ein Desaster, eine Revolte der seinerzeit noch größtenteils wehrpflichtigen Soldaten. Es gab Befehlsverweigerungen, Fahnenflucht, selbst bewaffnete Angriffe von Mannschaften auf Offiziere. 1971 seien 18 Prozent der Soldaten AWOL gewesen – Absent Without Leave (nicht autorisierte Abwesenheit vom Dienst) –, heißt es in einer Untersuchung über den US-amerikanischen Soldatenwiderstand. Als Präsident Richard Nixon 1973 die Wehrpflicht abschaffte, sollte das die Dynamik in den Streitkräften verändern. Heutige US-Soldaten haben sich für die Karriere entschieden, sie sind besser ausgebildet, zuverlässiger aus Sicht der Offiziere und älter als die früheren Wehrpflichtigen, und viele haben Familie.

Was war wirklich los mit Bowe Bergdahl? Noch hat er selbst nichts gesagt. In E-Mails, die schon vor zwei Jahren im Magazin Rolling Stone abgedruckt wurden, äußerte sich Bergdahl kurz vor seinem Verschwinden sehr negativ zu Afghanistan. Die Menschen dort bräuchten Hilfe, doch die USA seien das „verlogenste Land der Welt“, das die Afghanen verachte. Er habe genug, „die Zukunft ist zu gut, als dass man sie mit Lügen vergeudet“. Bergdahl wird zum nationalen Rorschachtest. In Rupert Murdochs Fernsehsender Fox empören sich die Kommentatoren. Rechte Webseiten triefen vor Hass. Auf Seiten der Friedensbewegung sieht man Bergdahl als einen der Aufrechten, der seinem Gewissen gefolgt sei und als Gefangener viel gelitten habe. Und wenn er ein Deserteur sei, dann ein ehrenvoller, der sich einem Krieg widersetzt habe.

Eines will man nicht sein als Soldat in der heutigen Berufsarmee: Ein blue falcon, wie der militärsprachliche Euphemismus für buddy fucker lautet, für einen, der auf Kosten seiner Kameraden handelt und sich nicht um die Konsequenzen seines Tuns kümmert. Insofern sind manche Vorwürfe gegen Bergdahl bitter: Der habe gewusst, dass sein Verschwinden das Leben der Soldaten in seiner Einheit gefährde, schrieb ein Afghanistan-Veteran, immerhin habe man den Vermissten gesucht. Auch ein Mann aus Bergdahls damaligem Bataillon meldete sich zu Wort: Bei der intensiven Suche nach Bergdahl seien mehrere Soldaten umgekommen. Bowe Bergdahl habe gewusst, dass Vermisstenmeldungen umfassende und gefährliche Hilfsaktionen nach sich ziehen.

Quelle: der FREITAG vom 30.06.2014. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Konrad Ege und des Verlags.

Veröffentlicht am

30. Juni 2014

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