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Ukraine-Krise: Im wilden Feld

Nation oder keine Nation? Russisch oder doch nicht russisch? Die historische Dimension des Ukraine-Konflikts.

Von Karl Grobe

Die Ukraine soll sich gefälligst vom Westen fernhalten und ihre inneren Angelegenheiten allein regeln. Das meinte jüngst Russlands Außenminister Lawrow. Die russische Einmischung, die zur Abspaltung der Krim geführt hat, fand er hingegen wohl ganz in Ordnung; sie folgt einer anderen - imperialen - Logik.

Die Russen seien "das größte geteilte Volk, denn 17,5 Prozent aller Russen leben außerhalb Russlands", hatte Vizepremier Dmitri Rogosin Mitte März gesagt und die Krim-Entscheidung gelobt: "Heute hat ein bedeutender Teil dieses Volkes Mut gezeigt und sich mit Russland wiedervereinigt." Die russischsprachigen Bewohner des ukrainischen Ostens und Südens können mit russischen Pässen ausgestattet werden und fallen dann unter die Moskauer Militärdoktrin: Verteidigung der Interessen von Russen auch außerhalb Russlands.

In einer Situation, wie sie sich nach der Abstimmung auf der Krim und deren Anschluss an Russland entwickelt hat, sind solche Ideen brisant. Die Ukraine ist tatsächlich nicht eine monolithische Nation.

Die Sprachnation ist in jenem weiten Gebiet gewachsen, das zum ersten russischen Staat (der Kiewer "Rus") gehört hatte, aber von der mongolischen Herrschaft seit dem 13. Jahrhundert frei geblieben war. Die dort lebenden Ostslawen, in die Glaubenswelt der griechischen Orthodoxie geführt, wurden von der Rzeczpospolita beherrscht, dem polnisch-litauischen Großstaat, der religiös tolerant, aber vorwiegend katholisch war. Die ukrainische und die belarussische Sprache bildeten sich da aus dem Altrussischen heraus. Derzeitige religiöse Spannungen reichen bis in jene Zeit zurück.

Tolerantere Alternative

Weiter östlich dehnte sich im Mittelalter Land ohne zentralisierte Staatsgewalt - das "Wilde Feld", aufgesiedelt im steten Kampf gegen die Tataren von der Krim, die Territorialherrscher Polen-Litauens und die tatarischen (mongolischen) Oberherren des allmählich wachsenden Moskauer Großfürstentums. Zehntausende flohen aus der Leibeigenschaft dorthin. Die freien, bewaffneten Wehrbauern russischer und ukrainischer Sprache - genannt Kosaken - wechselten häufig die Fronten; 1654 kam es zu einem Vertrag mit Moskau, dessen 300. Jahrestag dem Moskauer Parteichef Chruschtschow den Anlass lieferte, die Krim an die damalige ukrainische Sowjetrepublik zu verschenken.

Die Halbinsel hatte zum Osmanischen Reich gehört, bevor Russland sie im späten 18. Jahrhundert eroberte und einen großen Teil der krim-tatarischen Bevölkerung vertrieb; das war eine der ersten ethnischen Säuberungen in der Region. Danach wanderten russische Bauern, Handwerker und Staatsbedienstete ein. Sewastopol wurde sehr bald zum Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte. Die Minderheit der Krim-Tataren wurde 1944 unter Stalin verbannt und durfte erst in den 80er Jahren heimkehren. Ihre Gegnerschaft zur russischen Mehrheit auf der Halbinsel ist ein Spannungsfaktor eigener Art.

Nach der russischen Eroberung der südlichen Steppen, des Wilden Feldes wanderten auch dorthin Hunderttausende Russen aus, teils für Kolonisationsprojekte angeworben, teils auch auf der Flucht vor der bis 1861 dauernden Leibeigenschaft. Die junge Hafenstadt Odessa fügte eine starke Dosis Weltoffenheit und Toleranz hinzu, darunter die Emanzipation von Juden.

So unterschied sich die russische Bevölkerung des ukrainischen Südens von Anfang an von der des alten Moskowien. Die seit Katharina der Großen betriebene Ansiedlung mitteleuropäischer Bauern verstärkte den eigenen Charakter der Südukraine noch. Schließlich brachte die Industrialisierung des Donezgebiets mit seinen reichen Bodenschätzen einen gewaltigen neuen Schub russischer Zuwanderer, aber auch von Ukrainern.

Gift für die Zukunft

Unter Katharina expandierte Russland auch nach Westen, auf Kosten Polens. Die Rzeczpospolita ging unter, Polen wurde zwischen Österreich, Preußen und Russland aufgeteilt. Dabei wurde Galizien österreichisches Kronland mit polnischer Bevölkerungsmehrheit, einem starken ukrainischen Bevölkerungsanteil (damals Ruthenen genannt), zahllosen bitterarmen jüdischen Kleinstädten oder Vierteln und schließlich aus Deutschland geworbenen Kolonisten. Unter österreichischer Herrschaft war - anders als in Russland - der Gebrauch der ukrainischen Sprache legal, und so wurde Lemberg (heute Lwiw) zum Ort einer ruthenischen kulturellen Renaissance, dann auch nationalistischer Bewegungen.

Dieses Geflecht brach unter der Last von zwei Weltkriegen, der Nazi- und der Sowjet-Diktatur zusammen - aber seit der Unabhängigkeit der Ukraine (1991) wird es wiederbelebt. Die regionalen Unterschiede sind verständlicherweise immens; an ihnen rankt sich unter anderem der Separatismus einiger ostukrainischer Gruppen und Bewegungen hoch, der dem russischen Nachbarn sehr gefällt.

In der Westukraine hingegen - die ja nur historisch kurze Zeit unter sowjetischer Herrschaft stand - werden äußerst zweifelhafte Figuren zu Nationalhelden stilisiert, die gemeinsame Sache mit den Nazis machten und antisemitische wie antipolnische Pogrome verantworteten. Nach 1945 kämpften sie noch einige Jahre als Partisanen gegen die Sowjets.

Für ihre Anhänger sind sie damit Heroen und Märtyrer; die faschistische Ideologie und Aktivität übersehen ihre heutigen Gefolgsleute. Noch sind diese eine kleine Minderheit. Doch der Separatismus im Donbass und die Abspaltung der Krim führt ihnen Argumente zu, die Gift für die Zukunft sind.

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 08.04.2014. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Karl Grobe.

Veröffentlicht am

13. April 2014

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