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Wo bleibt der Arabische Sommer?

Trotz allem Aufbruch hat sich an der sozialen Lage nichts verändert. So sind viele Menschen enttäuscht, auch vom Westen

Von Sabine Kebir

Auf jeden Frühling folgt ein Sommer. Aber das stimmt nur für die Meteorologie. Die Angriffe auf die westlichen Botschaften in Libyen, Ägypten, Tunesien und im Jemen sind wieder ein Beweis dafür, dass der arabische Aufbruch ins Stottern gekommen ist. Die westliche Welt hat daran keinen geringen Anteil, mit ihrer Übereile, von außen die Demokratie in die Region zu bringen, schnell und flächendeckend, als handle es sich um die Einführung einer neuen Limonadenmarke. Die Realität aber sieht anders aus, auch wenn unter der strengen Aufsicht von US-Außenministerin Hillary Clinton der islamische Frühling, der auf das Jahr 2011 folgte, sich bislang mit einigem Erfolg ein demokratisches Gesicht zu geben versuchte. An der sozialen Lage hat sich nämlich kaum etwas in den Revolutionsländern verbessert.

Ägypten: unregierbar

Überraschend positiv schien sich vor allem Präsident Mohammed Morsi in Ägypten vorzutun. Mitte Juli setzte er das gewählte, aber vom Militärrat aufgelöste Parlament mit islamistischer Mehrheit per Dekret wieder ein. Einen Monat später entließ er Verteidigungsminister Mohammed Tantawi, obgleich er als Vorsitzender des Obersten Militärrats dessen starker Mann in der Regierung war. Damit hat Morsi - zumindest formal - die Armee, die sich vor seiner Wahl zum Präsidenten erhebliche Machtbefugnisse zugeschanzt hatte, in ihre politischen Schranken verwiesen.

An der Medienfront geht es indes weniger demokratisch zu. Der Präsident verbot bereits einen regierungskritischen TV-Sender, er ließ kurzzeitig Journalisten der unabhängigen Tageszeitung Al-Dostur verhaften, und er ersetzte die Chefredakteure der staatlichen Zeitungen durch eigene Leute. Das zeigt, noch gibt es in Ägypten nicht mehr Freiheit und Toleranz als zu Mubaraks Zeit. Doch weniger wird es auch nicht geben. Die große Anzahl privater Medien, die sich schon Jahre vor der Revolution etablieren konnten, werden sich letztlich als so wenig domestizierbar erweisen wie das ganze Ägypten. Gerade weil sich die Bevölkerung auf dem schmalen Grünstreifen links und rechts des Nils sowie in dessen Delta zusammendrängt, bleibt kaum Raum für eine stärkere totalitäre Kontrolle als in früherer Zeit. Es sei denn, Morsi gelänge es, lokale islamistische Milizen zu installieren, die sich als örtliche Selbstverwaltungsorgane bezeichnen, realiter aber die Rolle einer Religionspolizei spielten. Allerdings müssten solche Milizen wie die Religionspolizei in Saudi-Arabien oder die sogenannten revolutionären Garden im Iran bezahlt werden. Dafür aber fehlen in Ägypten wohl die Mittel.

Voraussichtlich wird sich also wenig ändern in diesem Land, das die Grenze zur Unregierbarkeit - ähnlich etwa wie Indien - schon längst überschritten hat. Darin liegen sowohl Entwicklungschancen als auch die Gefahr, dass die Stagnation jedweder Entwicklung für die großen Mehrheiten weiter anhält. Unwahrscheinlich ist, dass sich deren ökonomische Lage bald entscheidend zum Positiven ändert - eine Hoffnung, die die Forderung nach Demokratie der Besetzer des Tahrir-Platzes selbstverständlich mit einschloss.

Marokko: im Übergang

Aber nichts liegt Islamisten ferner als gesetzliche Regelungen gesellschaftlicher Solidarsysteme. Sie sind Wirtschaftsliberale und haben daher bislang immer die vom Islam vorgeschriebene private Spende für die Armen propagiert und manchmal auch erzwungen. Auch da, wo sie selbst Gewerkschaften gründeten, ging es immer nur um das Einklagen eines höheren Sakkat, der freiwilligen Abgabe der Reichen an die Armen - in diesem Falle der Kapitalisten an die Arbeiter. Da in der "laizistischen" Zeit von Mubarak weder die Arbeiterklasse noch die Arbeitslosen überzeugende Erfahrungen mit öffentlichen Sozialsystemen machen konnten, haben Islamisten leichtes Spiel. Die von ihnen versprochene Lösung scheint heute vielen alternativlos.

Wegen ihrer grundsätzlich wirtschaftsliberalen Ausrichtung ändert eine islamistische Regierung an der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit der armen Mehrheiten kaum etwas - das muss man auch für Marokko feststellen. Unter dem Eindruck des 2011 ebenfalls dort mit Massenprotesten und fünf Selbstverbrennungen einsetzenden "arabischen Frühlings" hatte der König schon im Juli 2011 ein Referendum für eine Verfassungsreform auf den Weg gebracht, wonach er einen kleinen Teil seiner Autorität künftig an das Parlament abtrat. Sie sieht auch vor, den Führer der Partei mit den meisten Stimmen zum Regierungschef zu berufen, doch bislang steht das noch aus. So kam nach den Wahlen im November 2011 Abdelilah Benkirane in dieses Amt, der Chef der als gemäßigt islamistisch geltenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung. Die Protestbewegungen konnte das allerdings nicht aufhalten. Es scheint sogar, dass sich die verschiedenen unterdrückten oder benachteiligten Interessengruppen besser denn je organisieren.

Am 12. Januar 2012 demonstrierten Zehntausende für eine Demokratie ohne Islamisten, drei Wochen später kam es zu Kundgebungen für die Rechte Homosexueller, am 18. März für die Ausweitung der trotz aller königlichen Reformen in der Realität skandalös mißachteten Rechte der Frauen. Am 6. Juni und am 25. August riefen die Gewerkschaften erfolgreich mehrere zehntausend Menschen zu Demonstrationen gegen die islamistische Regierung auf, die der flagrant zunehmenden Massenarbeitslosigkeit nichts entgegengesetzt hat. Dass die beeindruckenden friedlichen Manifestationen des antiislamistischen Widerstands überhaupt stattfinden können, garantiert das Paradox der großen Machtfülle des Königs, die den Aktionsradius der Regierung nach wie vor stark einschränkt. Interessant ist, dass die Islamisten in Marokko immer wieder an der kulturellen Front angegriffen werden. Wie schon in den vergangenen Jahren trat auch im diesjährigen Ramadan eine Bewegung in Erscheinung, die in der Öffentlichkeit Essen und Trinken zelebrierte und als Bürgerrecht einforderte.

Tunesien: ohne Urlauber

Ein Kulturkampf ist auch in Tunesien ausgebrochen, seit die islamistische Partei des Wiedererwachens mit Hamadi Jebali den provisorischen Regierungschef stellt und sich die Macht mit Übergangspräsident Moncef Marzouki teilt, einem Sozialisten. Zur Zeit entwickelt sich daraus ein islamistische Banditismus, der an die neunziger Jahre erinnert. Vorrangig aus Jugendlichen bestehende Stoßtrupps verwüsten nicht nur - wie auch hierzulande bekannt geworden - Ausstellungen von Kunstwerken, die für die demokratische Zukunft des Landes werben. Wie vor zwanzig Jahren in Algerien versuchen diese Banden, mit Gewalt Ortschaften oder auch ganze Viertel der großen Städte islamisch zu disziplinieren. Viele Frauen sehen sich deshalb gezwungen, den Schleier anzulegen - so auch die im Westen bekannte Autorin Najet Adouani, die fortgesetzt von "Salafisten" bedroht und bereits tätlich angegriffen wurde.

Die zunehmende Kriminalität führt auch dazu, dass der Tourismus rasant zurückgegangen ist. Die soziale Lage der Mehrheiten und auch der Mittelschichten im ursprünglichen Kernland des arabischen Frühlings hat sich daher nicht verbessert.

Was sie von Demokratie und Menschenrechten halten, zeigten die regierenden Islamisten, als sie Ende Juni Baghdadi al-Mahmudi an Libyen auslieferten, den letzten Regierungschef Gaddafis, der wegen drohender Folter und Todesstrafe um politisches Asyl gebeten hatte. Die wahrscheinlich wegen eines günstigen Erdöl-Vertrages forcierte Abschiebung widerspricht dem arabischen Ehrenkodex und hätte in Tunesien auch noch die Unterschrift Marzoukis erfordert. Dieser erfuhr aber erst nach vollzogenem Akt davon.

Libyen: kein Ende der Gewalt

Libyen ist bislang das einzige Land des arabischen Frühlings, in dem keine islamistische Partei bei den Parlamentswahlen siegte. Die Allianz Nationaler Kräfte sicherte sich mehr als doppelt so viele Stimmen wie die Islamisten, was aber auch daran lag, dass diese im ölreichen Osten zu Boykott und Abspaltung aufgerufen hatten. Trotz klarem Wahlergebnis entsteht auch in Libyen Gewalt, die nicht nur bei den kürzlich aus Tripolis gemeldeten Bombenanschlägen als islamistisch erkennbar ist. In der vorigen Woche wurden zwei Sufi-Mausoleen in und bei Tripolis zerstört. Wie kürzlich in Mali war auch hier religiöse Intoleranz am Werk, die die Vielfalt der Volkskulturen beseitigen will. Innenminister Osama Jouili trat von seinem Posten zurück, weil er das Versagen der Sicherheitskräfte eingestehen musste. Wie katastrophal die Sicherheitslage in Libyen ist, offenbarte sich durch den verheerenden Brandanschlag auf das amerikanische Konsulat in Benghazi auch der internationalen Öffentlichkeit.

Wo bleibt der arabische Sommer? Das fragen sich heute viele in der Region, denen ein Mohammed-Filmchen egal ist: die säkularen Mittelschichten. Zwar hatten sie nichts für die verjagten Diktatoren übrig, zogen sie einer islamistischen Herrschaft aber vor. Machen die USA und der Westen weiter, die neuen Machthaber zu hofieren, und danach sieht es nach einer Woche Aufruhr in der arabischen Welt aus, dann könnten sie auch die Sympathien dieser säkularen Mittelschichten, ihren wichtigsten Verbündeten in der Region, verlieren. Mancherorts sind sie schon verloren.

Quelle: der FREITAG   vom 20.09.2012. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

21. September 2012

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