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Europas lange Heilung

Von Karl Grobe

Angela Merkel weiß und sagt, wer vor 70 Jahren den Krieg begonnen hat; sie weist aber auch auf die Vertreibung Deutscher hin. Lech Kaczynski sieht Polen durch den sowjetischen Einmarsch am 17. September 1939 tödlich getroffen. Wladimir Putin gesteht manche Untat des damaligen Diktators Stalin ein, hält dessen Strategie aber für grundsätzlich richtig.

Drei Sprecher am Dienstag in Danzig, drei von einander verschiedene Wahrnehmungen. Zu einer Versöhnung der Ansichten konnte es bei diesem Anlass noch nicht reichen. Russlands Premier möchte das den Fachleuten überlassen. Doch zu handeln obliegt den Politikern. Die müssen Lehren aus der Geschichte beherzigen - und die übersteigen die nationale Wahrnehmung.

Es war Krieg seit September 1939; aber der sprengte die bis dahin gängige Kriegserfahrung: Es war gewollte Vernichtung. Vernichtung von Menschen, Dörfern, Städten, Werkstätten. Doch die Verbrechen lassen sich, bei aller Ungeheuerlichkeit, die ihnen gemeinsam ist, nur bedingt miteinander vergleichen.

Zwei Ortsnamen versinnbildlichen die Dimensionen und die Unterschiede. Katyn und Chatyn. Bei Katyn, nicht weit von Smolensk im westlichen Russland, brachte Stalins Geheimdienst im Frühjahr 1940 rund 15.000 polnische Offiziere ums Leben, die sich in Sicherheit vor den Nazi-Truppen wähnten; "Nationalisten und Konterrevolutionäre" vernichtete die Sowjetdiktatur in allen Gebieten, die ihr durch den Pakt Stalins mit Hitler zugefallen waren.

Eine Spur Scheinheiligkeit

Das Dorf Chatyn nahe der belarussischen Hauptstadt Minsk ist eines von 5293 Dörfern, die von Nazi-Tätern in Uniform und in Zivil ausgelöscht wurden. Es symbolisiert eine weitere, verstandesmäßig kaum mehr fassbare Dimension der Vernichtung, die planmäßige (und in Auschwitz, Belzec und anderen Orten mit industrieller Präzision betriebene) Tötung von "Untermenschen". Jeder fünfte polnische Bürger, jeder vierte Belarusse ist diesem singulären Verbrechen zum Opfer gefallen. Der Holocaust insbesondere hat historisch und in seiner Amoralität noch ganz andere Ausmaße als das Verbrechen von Katyn.

Die Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg kann sich also weder auf das Datum 1. September noch auf den 17. September allein beziehen. Der Zusammenhang beider Daten jedoch steht. Stalins Regime nahm sich, noch während Polens Armee gegen die deutschen Aggressoren kämpfte, opportunistisch jenen Teil Polens, den Hitler ihm zwei Jahre zuvor diktatorenfreundlich zugestanden hatte.

Nun gilt aber die 1939 im Geheimprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt definierte Grenze bis heute; russischen Argumentationen, die sich auf unter ungleichen Bedingungen ratifizierte Nachkriegsverträge beziehen, haftet eine Spur Scheinheiligkeit an, weil sie die Vor-Geschichte ebenso ausblenden wie der von Putin vorgebrachte Hinweis auf die russisch-polnische Waffenbrüderschaft, die an jenem Septembertag 1939 ja eben nicht bestanden hat.

Geschichtsrevisionistische Legenden schaffen Gefahren

Die Erinnerung an den entscheidenden Beitrag der Sowjetunion zum Sieg über das NS-Reich schmälert es nicht, wenn ehrlich auch über das andere gesprochen wird. Im Moskau der gegenwärtigen Stalin-Halbrenaissance mag das keine Konjunktur haben; aber geschichtsrevisionistische Legenden schaffen Gefahren, gleich ob sie in deutscher, russischer oder polnischer Sprache erzählt werden.

Die Lehre aus der kriminellen Kriegsgeschichte kann sich auch nicht in Reueerklärungen erschöpfen. Sie kann nur politisch sein, oder sie ist umsonst gezogen. Politisch: Einigkeit Europas, über die Grenzen der gegenwärtigen Union und der einzelnen Staaten hinaus, im Geist der Koexistenz (nein, der Begriff ist nicht abgewertet), in der Anerkennung historischer Verbrechen, im Bewusstsein der über die Jahrtausende denn doch größeren kulturellen, im übrigen vorgegeben geografischen Gemeinsamkeit ist die Voraussetzung, auf der allein Frieden stehen kann.

Polen und Russland, Polen und Deutschland müssen ebenso selbstverständlich respektierte Nachbarn werden, wie es etwa Frankreich und Deutschland längst sind. Zur Erinnerung: Es war die polnische Arbeiterorganisation Solidarnosc, die vor fast 30 Jahren das stalinistische System nachhaltig zertrümmerte.

Damals hat die Zukunft Europas begonnen. Bis zur Heilung der Wunden, die dieser Kontinent sich im vorigen Jahrhundert zufügte, braucht es freilich Zeit und Toleranz. Und viel Arbeit.

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 01.09.2009. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Karl Grobe.

Veröffentlicht am

02. September 2009

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