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Noam Chomsky: “Löscht alle Wilden aus!” - Gaza 2009 (Teil 3)

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Von Noam Chomsky, 20.01.2009 - ZNet

Der Zeitpunkt der Invasion war wahrscheinlich mit Rücksicht auf die bevorstehenden israelischen Wahlen gewählt. Wie der israelische Kommentator Ran HaCohen vorrechnete, gewann Ehud Barak, der in den Meinungsumfragen weit zurückgelegen hatte, in den ersten Tagen des Mordens pro 40 getöteter Araber einen Parlamentssitz hinzu.

Das könnte sich jedoch jetzt ändern. Nachdem die Verbrechen über das hinausgingen, das die sorgfältig orchestrierte Propagandakampagne Israels vertuschen konnte, begannen selbst langjährige israelische Falken die Sorge zu äußern, die Schlächterei werde Israels "Seele und Ruf zerstören - auf den Fernsehschirmen der ganzen Welt, überall in der internationalen Gemeinschaft und vor allem in Obamas Amerika" (Ari Shavit). Besonders besorgt war Shavit über Israels "Granatenbeschuss einer Einrichtung der Vereinten Nationen … am selben Tag, an dem der UN-Generalsekretär in Jerusalem zu Besuch ist", eine Aktion, der seiner Meinung nach "mehr als aberwitzig" war.

Hier sind einige Details angebracht. Bei der genannten "Einrichtung" handelte es sich um den UN-Komplex in Gaza Stadt, in dem sich auch das UNWRA-Lagerhaus befand. Laut Auskunft von UNWRA-Direktor John Ging vernichtete das Bombardement "Hunderte von Tonnen dringend benötigter Nahrung und Medizin, die heute an Schutzräume, Krankenhäuser und Speisezentren geliefert werden sollten". Zur gleichen Zeit zerstörten Militärschläge zwei Stockwerke des Al-Quds-Krankenhauses, das in Brand geriet, und ein weiteres, vom Palästinensischen Roten Halbmond betriebenes Warenlager. Wie AP berichtete, wurde das in dem dicht besiedelten Viertel Tal-Hawa gelegene Krankenhaus von israelischen Panzern zerstört, "nachdem Hunderte von verängstigten Bewohnern der Stadt dort Schutz vor den in das Viertel eindringenden israelischen Bodentruppen gesucht hatten".

Aus den schwelenden Trümmern des Krankenhauses gab es nichts mehr zu bergen. "Sie beschossen das Gebäude, das Krankenhaus, und es begann zu brennen. Wir versuchten, die Patienten und die Verwundeten und alle, die dort waren, zu evakuieren. Feuerwehrleute kamen und löschten das Feuer, das erneut lichterloh aufflammte, worauf sie es wieder löschten und es ein drittes Mal zu brennen anfing", so der Sanitäter gegenüber Ahmad Al-Haz AP. Bald kam der Verdacht auf, dass die Intensität des Brands durch weißen Phosphor verursacht worden war und dass dieser auch bei etlichen weiteren Bränden und schweren Brandverletzungen eine Rolle gespielt hatte.

Nachdem die Beendigung des intensiven Bombardements eine Untersuchung ermöglichte, wurden diese Vermutungen von Amnesty International bestätigt. Während seine Verbrechen in vollem Schwange waren, hatte Israel klugerweise sämtlichen Journalisten, darunter auch den israelischen, den Zutritt verweigert. AI stellte nun fest, die Anwendung von weißem Phosphor gegen Zivilisten im Gazastreifen sei "eindeutig und unbestreitbar", und der wiederholte Gebrauch dieser Substanz in dicht bevölkerten Zivilgebieten sei "ein Kriegsverbrechen". AI-Mitarbeiter stießen auf "verstreut zwischen Wohngebäuden herumliegende" immer noch brennende Reste von weißem Phosphor, die "die Bewohner und ihre Häuser weiterhin gefährdeten", besonders Kinder, "in dem vom Krieg hinterlassenen Abfall herumstochern und die damit verbundenen Gefahren nicht kennen". AI zufolge war eines der Hauptziele der Phosphorangriffe das erwähnte UNRWA-Gelände, wo der israelische "weiße Phosphor unmittelbar neben einigen Tanklastern aufschlug und ein gewaltiges Feuer entfachte, das etliche Tonnen an humanitären Hilfsgütern vernichtete", nachdem die israelischen Behörden "die Zusicherung gegeben hatten, dass keine weiteren Angriffe auf den Komplex mehr unternommen werden würden". Am selben Tag "traf eine Granate mit weißem Phosphor das Al-Quds-Krankenhaus in Gaza Stadt und löste ebenfalls ein Feuer aus, das das Krankenhauspersonal zur Evakuierung der Patienten zwang … Wenn weißer Phosphor mit Haut in Verbindung kommt, kann er sich tief durch die Muskeln hindurch und bis in den Knochen hinein fressen, wo er weiter schwelt, solange er Zugang zu Sauerstoff hat." Ob das nun die Absicht oder nur Ergebnis extrem skrupelloser Gleichgültigkeit war - das verbrecherische Resultat ist unvermeidlich, wenn solche Waffen bei Angriffen auf Zivilisten eingesetzt werden.

Es wäre jedoch ein Fehler, sich gar zu sehr auf Israels grobe Verletzungen des jus in bello zu konzentrieren, der Gesetze also, die Praktiken unterbinden sollen, die zu grausam sind. Die Invasion selbst ist das weitaus schlimmere Verbrechen. Selbst wenn Israel diese grässliche Verwüstung mittels Pfeil und Bogen angerichtet hätte, würde es sich immer noch um einen kriminellen Akt von extremer Niedertracht handeln.

Aggressionen haben immer einen Vorwand: in diesem Fall den, angesichts der Raketenangriffe der Hamas sei, wie Barak es formulierte, Israels Geduld "erschöpft" gewesen. Diesem endlos wiederholten Mantra zufolge hat Israel das Recht, Gewalt anzuwenden, um sich zu verteidigen. Diese These ist zumindest teilweise haltbar. Die Raketenangriffe sind in der Tat kriminell, und es stimmt, dass ein Staat das Recht hat, sich gegen solche Angriffe zu verteidigen. Aber daraus folgt noch nicht, dass er auch ein Recht besitzt, sich mit Gewalt zu verteidigen. Das ginge weit über jedes akzeptierte oder zu akzeptierende Prinzip hinaus. Nazi-Deutschland hatte nicht das Recht, Gewalt anzuwenden, um sich gegen den Terror der Partisanen zu verteidigen. Die Ermordung eines deutschen Botschaftssekretärs in Paris durch Herschel Grynszpan rechtfertigt nicht die "Reichskristallnacht". Die Briten hatten kein Recht, sich gewaltsam gegen den (sehr realen) Terror der für die Unabhängigkeit kämpfenden amerikanischen Kolonisten zu wehren oder in Reaktion auf den Terror der IRA irische Katholiken zu terrorisieren - und als sie schließlich vernünftigerweise damit begannen, die Ursachen für den legitimen Zorn über Missstände anzugehen, hörte der Terror auf. Letztlich geht es hier nicht um "Verhältnismäßigkeit", sondern um die Wahl des Handlungswegs überhaupt: Gibt es eine Alternative zur Gewalt?

Jeder Rückgriff auf Gewalt muss durch sehr gute Gründe gerechtfertigt werden, und wir müssen uns fragen, ob diese im Fall der Politik Israels, jeden Widerstand gegen sein seit über 40 Jahren andauernden tägliches kriminelles Vorgehen im Gazastreifen und im Westjordanland zu ersticken, tatsächlich vorliegen. Vielleicht kann ich hier zitieren, was ich in einem in der israelischen Presse erschienenen Interview zu Olmerts "Konvergenzplänen" für das Westjordanland gesagt habe: "Die USA und Israel dulden keinerlei Widerstand gegen diese Pläne und behaupten stattdessen lieber in offenkundigem Widerspruch zu den Fakten, es gebe ‚keinen Partner’, während sie Programme vorantreiben, die weit in die Vergangenheit zurückreichen. Wir sollten uns daran erinnern, dass der Gazastreifen und das Westjordanland anerkanntermaßen eine Einheit bilden, so dass, wenn Widerstand gegen die amerikanisch-israelischen Annexions- und Kantonisierungspläne im Westjordanland legitim ist, dasselbe auch für den Gazastreifen gilt."

Der palästinensisch-amerikanische Journalist Ali Abunimah hat darauf hingewiesen, dass "aus dem Westjordanland keine Raketen auf Israel gefeuert werden, Israels extralegale Tötungen, Landraub, Siedlerpogrome und Entführungen während des Waffenstillstandes aber dennoch keinen einzigen Tag lang aufgehört haben. Die westlich unterstützte Palästinensische Nationalbehörde unter Mahmoud Abbas hat sämtliche Forderungen Israels gebeugt. Unter dem stolzen Blick US-amerikanischer Militärberater hat Abbas ‚Sicherheitstruppen’ zusammengestellt, die im Dienste Israels den Widerstand bekämpfen sollen. Nichts davon hat auch nur einen einzigen Palästinenser vor Israels unerbittlicher Kolonisierungspolitik bewahrt" - dank der unerschütterlichen Unterstützung der USA. Der angesehene palästinensische Parlamentsabgeordnete Dr. Mustapha Barghouti fügt hinzu, nach dem von großem Rummel und erhebender Rhetorik über das Frieden und Gerechtigkeit begleiteten Annapolis-Gipfel der Bush-Administration seien Israels Angriffe auf die Palästinenser scharf eskaliert und allein im Westjordanland um fast 50 % angestiegen, begleitet von einem beschleunigten Ausbau der Siedlungen und einer rasch wachsende Zahl der israelischen Checkpoints. Dieses kriminelle Vorgehens war ganz offensichtlich keine Reaktion auf Raketen aus dem Gazastreifen, während es sich, wie Barghouti plausibel argumentiert, in Wirklichkeit genau umgekehrt verhalten könnte.

Die Reaktionen auf Verbrechen einer Besatzungsmacht können als ebenfalls kriminell und politisch dumm verurteilt werden, aber niemand, der keine Alternative offerieren kann, hat das moralische Recht, solche Urteile zu fällen. Das gilt ganz besonders für alle US-Amerikaner, die sich durch ihre Worte, ihre Taten oder ihr Schweigen für eine direkte Beteiligung an Israels fortgesetzten Verbrechen entscheiden - und zwar umso mehr, als es vollkommen offensichtliche gewaltlose Alternativen gibt, die allerdings den Nachteil haben, dass sie ein Ende der illegalen Expansionsprogramme Israels voraussetzen.

Israel verfügt über ein sehr wirksames Instrument der Verteidigung: Es kann sein kriminelles Vorgehen in den besetzten Gebieten beenden und sich dem seit langem bestehenden internationalen Konsens über eine Zweistaatenlösung anschließen, dessen Umsetzung die USA und Israel mehr als dreißig Jahren blockiert haben, seit die USA 1976 erstmals ihr Veto gegen eine UN-Sicherheitsratsresolution einlegten, die eine politische Lösung genau dieser Art vorsah. Ich werde hier nicht ein weiteres Mal die unrühmliche Bilanz Revue passieren lassen, aber es ist wichtig, sich darüber klar zu sein, dass die hartnäckige Ablehnung einer solchen Lösung durch die USA und Israel heute sogar noch extremer ist als früher. Inzwischen ist die Arabische Liga sogar noch über diesen Konsens hinausgegangen und hat eine vollständige Normalisierung der Beziehungen zu Israel vorgeschlagen. Hamas hat wiederholt eine Zweistaatenlösung gemäß dem internationalen Konsens gefordert. Auch der Iran und die libanesische Hisbollah haben klargestellt, dass sie jede von den Palästinensern akzeptierte Lösung respektieren werden. Die USA und Israel stehen hier, und das sind nicht nur Worte, ganz und gar isoliert da.

Ich möchte dazu nur kurz auf einige wichtige Details hinweisen. 1988 schloss sich der Palästinensische Nationalrat formell dem internationalen Konsens an. Die von US-Außenminister James Baker unterstützte Reaktion der damaligen Shamir-Peres-Koalitionsregierung bestand in der Feststellung, es könne keinen "zusätzlichen palästinensischen Staat" zwischen Israel und Jordanien geben (da Jordanien ja per Diktat der USA und Israels bereits ein palästinensischer Staat war). Das Oslo-Abkommen von 1993 zog potentielle nationale Rechte der Palästinenser nicht in Betracht, und in den Folgejahren wurde die Gefahr, dass diese in irgendeiner bedeutsamen Form realisiert werden könnten, durch den ständigen Ausbau der illegaler Siedlungen durch Israel systematisch minimiert. Auch 2000, im letzten Amtsjahr von Präsident Clinton und Premierminister Barak, wurde der Siedlungsbau beschleunigt fortgesetzt, und vor diesem Hintergrund standen dann in Camp David Friedensverhandlungen statt.

Nachdem er Yassir Arafat die Schuld am Scheitern der Camp-David-Verhandlungen zugeschoben hatte, ruderte Clinton zurück und erkannte, dass die Vorschläge der USA und Israels zu extrem gewesen waren, um für irgendeinen Palästinenser annehmbar zu sein. Im Dezember 2000 präsentierte er seine "Parameter", die vage waren, aber doch den Palästinensern mehr entgegenkamen. Er verkündete, beide Seiten hätten die Parameter, wenn auch nicht ohne Vorbehalte, akzeptiert. Diese trafen sich dann im Januar 2001 im ägyptischen Taba, wo sie einem Abkommen sehr nahe kamen und, wie sie auf der abschließenden Pressekonferenz sagten, ein solches innerhalb weniger weiterer Tage hätten erreichen können. Doch die Verhandlungen wurden von Ehud Barak vorzeitig abgebrochen. Diese Woche in Taba bildet die eine Ausnahme in über 30 Jahren amerikanisch-israelischer Ablehnungspolitik. Es gibt keinen Grund, weshalb die Verhandlungen nicht an diesem Punkt wieder aufgenommen werden könnten.

Die offiziell verbreitete, erst jüngst von Ethan Bronner wiederholte Version besagt dagegen, dass "viele ausländische Beobachter sich an Ehud Barak als den Premierminister erinnern, der 2000 mit seinen Friedensangeboten an die Palästinenser weiter ging als jeder israelische Politiker zuvor, nur um dann das Abkommen scheitern und in einem gewaltsamen palästinensischen Aufstand untergehen zu sehen, der ihn am Ende die Macht kostete. Es ist durchaus wahr, dass "viele ausländische Beobachter" dieses Ammenmärchen glauben, und zwar aufgrund der Praktiken, die Bronner und etliche seiner Kollegen als "Journalismus" bezeichnen.

Es wird derzeit häufig behauptet, eine Zweistaatenlösung sei mittlerweile nicht mehr durchsetzbar, da jeder Versuch der IDF, die Siedler aus den besetzten Gebieten zu entfernen, zum Bürgerkrieg führen würde. Vielleicht stimmt das ja, aber es ist keinesfalls die ganze Wahrheit. Statt die illegalen Siedler mit Gewalt zu exmittieren, könnte die IDF sich einfach hinter die Grenzen Israels zurückziehen, wo immer diese durch Verhandlungen genau etabliert werden mögen. Die Siedler jenseits dieser Grenze würden dann vor der Wahl stehen, entweder ihre subventionierten Häuser zu verlassen und nach Israel zurückzukehren oder unter palästinensischer Hoheit zurückzubleiben. Genau dasselbe galt auch für das sorgfältig inszenierte "nationale Trauma" im Gazastreifen 2005, das so derart verlogen war, dass auch viele israelische Kommentatoren sich darüber lustig machten. Damals hätte es genügt, wenn Israel angekündigt hätte, die IDF werde sich zurückziehen, und die Siedler, die bis dahin für ein komfortables Leben im Gazastreifen subventioniert worden waren, wären still in die bereitstehenden Lastwagen gestiegen und in ihre neue, ebenfalls subventionierten "Heimat" im Westjordanland abgereist. Aber das hätte keine Gelegenheit für tragikgeschwängerte Fotos von leidenden Kindern und pathetische Deklamationen zum Thema "Nie wieder!" gegeben.

Der Schluss aus all dem ist, dass Israel im Unterschied zu den all den ständig wiederholten Behauptungen kein Recht auf Gewaltanwendung zur Abwehr der Raketenangriffe aus dem Gazastreifen zu hat, selbst wenn man diese als terroristische Verbrechen betrachtet. Warum das so ist, ist nicht schwer zu verstehen. Der Vorwand für den israelischen Angriff hält keiner Prüfung stand.

Dann gibt es auch noch die engere Frage, ob Israel kurzfristige friedliche Alternativen zur Gewalt zur Verfügung stehen, um auf die Raketen aus dem Gazastreifen zu reagieren. Eine solche kurzfristige Alternative wäre die Zustimmung zu einem Waffenstillstand. Diese hat Israel gelegentlich auch gegeben, nur um ihn dann umgehend zu verletzen. Das jüngste und für die jetzige Krise relevante Beispiel ist der Waffenstillstand vom Juni 2008. Dieser sah die Öffnung der Grenzübergänge vor, um "den Import aller Güter zu ermöglichen, die bis dahin nicht oder nur eingeschränkt in den Gazastreifen gebracht werden konnten". Israel stimmte dem formell zu, verkündete dann aber sofort, es werde sich nicht an das Abkommen halten und die Grenzen nicht öffnen, bis die Hamas Gilad Shalit, einen israelischen Soldaten, den Hamasmilizen im Juni 2006 gefangen genommen hatten, freigelassen hätte.

Auch der beständige Strom von Anklagen wegen der Gefangennahme Shalits ist, selbst wenn man von Israels eigener langer Geschichte von Entführungen absieht, unverfrorene Heuchelei. In diesem besonderen Fall könnte das gar nicht offensichtlicher sein. Einen Tag, bevor Hamas Shalit gefangen nahm, drangen israelischen Soldaten nach Gaza Stadt vor, entführten zwei Zivilisten, die Gebrüder Muammar, und brachten sie nach Israel, wo sie sich den Tausenden von anderen dort festgehaltenen Gefangenen zugesellten, von denen Berichten zufolge fast tausend ohne Anklage einsitzen. Die Entführung von Zivilisten ist ein wesentlich schwereres Verbrechen als die Gefangennahme eines Soldaten einer angreifenden Armee, aber im Unterschied zu dem Aufruhr, der um Shalit gemacht wurde, wurde darüber kaum berichtet. Das einzige, was als Hindernis für den Frieden in Erinnerung bleibt, ist die Gefangennahme Shalits, ein weiterer Hinweis auf den Unterschied zwischen Menschen und "zweibeinigen Tieren". Natürlich sollte Shalit freigelassen werden - im Rahmen eines fairen Gefangenenaustauschs.

Nach der Gefangennahme Shalits überschritten die gnadenlosen militärischen Angriffe Israels auf den Gazastreifen definitiv die Grenze von der Brutalität zum Sadismus. Dennoch muss daran erinnert werden, dass Israel bereits zwischen diesem Vorfall und seinem Abzug aus dem Gazastreifen im September 2005 mehr als 7.700 Granate auf den nördlichen Gazastreifen abgefeuert hatte, was jedoch praktisch keinen Kommentar auslöste.

Nach Ablehnung des Waffenstillstands vom Juni 2008, den es erst formell akzeptiert hatte, erhielt Israel seine Belagerung des Gazastreifens aufrecht. Hier sollte darauf hingewiesen werden, dass jede Belagerung ein Kriegsakt ist. Tatsächlich hat Israel selbst immer auf einer noch strikteren Auslegung dieses Prinzips beharrt: Die Behinderung des Zugangs zur Außenwelt sei selbst dann, wenn sie noch keine Belagerung darstelle, ein Kriegsakt, massive Gewaltanwendung rechtfertige. Die Unterbindung der Durchfahrt israelischer Schiffe durch die Straße von Tiran war Teil des Vorwands für die (gemeinsam mit Frankreich und England durchgeführte) israelische Invasion Ägyptens 1956 und die Anzettelung des Krieges von 1967 durch Israel. Die Belagerung des Gazastreifens ist, bis auf die gelegentliche Bereitschaft der Besatzer, sie ein wenig zurückzunehmen, vollständig, nicht nur partiell, und fügt der Bevölkerung des Gazastreifens weitaus mehr Schaden zu als die Schließung der Straße von Tiran seinerzeit Israel. Die Unterstützer der Doktrinen und Taten Israels sollten daher eigentlich kein Problem damit haben Raketenangriffen aus dem Gazastreifen auf israelisches Territorium zu rechtfertigen.

Aber hier sind wir natürlich wieder bei dem Prinzip angelangt, das jede Argumentation annulliert: Das hier sind wir, und die da sind sie.

In der Zeit nach Juni 2008 erhielt Israel seine Belagerung nicht nur auf, sondern übte dabei extreme Härte aus. Es ging sogar so weit, die UNRWA an der Erneuerung ihrer Vorräte zu hindern, "so dass wir, als der Waffenstillstand zusammenbrach, nicht mehr genug Nahrung für die 750.000 Menschen hatten, die von uns abhängig sind", wie UNWRA-Direktor John Ging gegenüber BBC sagte.

Trotz der israelischen Belagerung gingen die Raketenangriffe scharf zurück. Zum Zusammenbruch des Waffenstillstands kam es durch einen israelischen Einfall in den Gazastreifen am 4. November, bei dem sechs Palästinenser getötet wurden, was zu einem Raketenhagel auf Israel (bei dem niemand verletzt wurde) führte. Vorwand für den Angriff war die angebliche Entdeckung eines Tunnels im Gazastreifen durch Israel, der möglicherweise dazu gedacht gewesen sei, einen weiteren israelischen Soldaten gefangen zu nehmen. Wie etliche Kommentatoren bemerkten, ist dieser Vorwand völlig absurd. Falls dieser Tunnel überhaupt existierte und bis zur Grenze reichte, hätte Israel ihn mit Leichtigkeit genau dort blockieren können. Aber wie üblich wurde der lächerliche Vorwand Israels für glaubwürdig befunden.

Was war der Grund für den israelischen Überfall? Wir haben keine internen Zeugnisse über den israelischen Planungsprozess, aber wir wissen, dass der Angriff kurz vor bereits anberaumten Gesprächen zwischen Hamas und Fatah in Kairo erfolgte, die, wie der britische Korrespondent Rory McCarthy berichtete, auf "die Beilegung ihrer Differenzen und die Schaffung einer einzigen, geeinten Regierung" abzielten. Das wäre das erste Treffen zwischen Fatah und Hamas seit dem Bürgerkrieg von Juni 2007, der mit der alleinigen Kontrolle der Hamas über den Gazastreifen endete, und sicher auch ein wichtiger Schritt zur gemeinsamen Entwicklung diplomatischer Anstrengungen gewesen. Die Geschichte israelischer Provokationen mit dem Ziel, die Gefahr diplomatischer Lösungen abzuwehren, ist lang; einige davon habe ich bereits erwähnt, und dies könnte ein weiteres Beispiel sein.

Der Bürgerkrieg, der zur Kontrolle der Hamas über den Gazastreifen führte, wird im Allgemeinen als ein Militärputsch der Hamas hingestellt, der ein weiteres Mal deren bösartiges Wesen demonstriert. Die Wirklichkeit sieht ein wenig anders aus. Der Bürgerkrieg wurde von den USA und Israel angezettelt und stellte den plumpen Versuch eines Militärputschs dar, der das Resultat der freien Wahlen zunichte machen sollte, die die Hamas an die Macht gebracht hatten. Das ist spätestens seit dem detaillierten und wohl dokumentierten Bericht von David Rose in Vanity Fair im April 2008 öffentlich bekannt, der beschreibt, wie Bush, Rice und der Stellvertretende Nationale Sicherheitsberater Elliot Abrams "eine unter Kommando des starken Mannes der Fatah Muhammad Dahlan stehende bewaffnete Truppe unterstützten, damit einen blutigen Bürgerkrieg im Gazastreifen auslösten und Hamas am Ende stärker machten als je zuvor". Der Bericht wurde kürzlich im Christian Science Monitor vom 12. Januar 2009 erneut bestätigt. Autor des CSM-Artikels war Norman Olson, der 26 Jahre lang im Auslandsdienst arbeitete, davon vier Jahre im Gazastreifen und vier Jahre in der US-Botschaft in Tel Aviv, und danach stellvertretender Koordinator für Terrorismusbekämpfung im US-Außenministerium war. Olson und sein Sohn dokumentieren im Detail die Winkelzüge, mit denen das Außenministerium versuchte, sicherzustellen, dass sein Kandidat, Abbas, die Wahlen vom Januar 2006 gewinnen würde - wonach die Wahlen als Triumph der Demokratie gefeiert worden wären. Nachdem dieser Versuch der Wahlmanipulation gescheitert war, sattelte das Außenministerium auf die Bestrafung der Palästinenser und die Bewaffnung Muhammad Dahlan, kommandierten Miliz um, aber "Dahlans Schläger traten zu schnell in Aktion", und ihr Putschversuch wurde durch einen Präventivschlag der Hamas vereitelt, was noch viel härtere Maßnahmen der USA und Israels zur Bestrafung der ungehorsamen Bevölkerung des Gazastreifens auslöste. Angesichts solcher Fakten ist die offizielle Parteilinie natürlich akzeptabler.

Nachdem Israel so im November 2008 den Waffenstillstand vom Juni (soweit dieser überhaupt existierte) gebrochen hatte, verschärfte es die Belagerung des Gazastreifens weiter, was noch schlimmere Folgen für die Bevölkerung nach sich zog. Laut Sara Roy, der führenden akademischen Spezialistin zum Gazastreifen, riegelte "Israel am 5. November sämtliche Grenzübergänge zum Gazastreifen ab, womit es die Zufuhr von Nahrungsmitteln, Medizin, Brennstoff, Kochgas und Teilen für die Wasserversorgungs- und Sanitärsysteme drastisch reduzierte und zeitweise ganz unterband". Im Lauf des Novembers "gelangten durchschnittlich nur 4,6 Lastwagen mit Nahrungsmitteln pro Tag von Israel aus in den Gazastreifen, während es im Oktober im Durchschnitt noch 123 Lastwagen täglich waren. Ersatzteile für die Reparatur und Wartung von Wasserversorgungs- und Abwassersystemen sind seit einem Jahr nicht mehr durchgelassen worden. Wie die Weltgesundheitsorganisation WHO gerade berichtete, ist mittlerweile die Hälfte der Ambulanzwagen des Gazastreifens funktionsunfähig" - und die übrigen wurden bald zu Zielscheiben des israelischen Angriffs. Das einzige Kraftwerk des Gazastreifens war aus Mangel an Brennstoff zur Einstellung des Betriebs gezwungen und konnte diesen nicht wieder aufnehmen, weil es an den Ersatzteilen mangelte, die seit acht Monaten im israelischen Hafen Ashdod festsaßen. Im Shifaa-Krankenhaus im Gazastreifen führte die Elektrizitätsknappheit zu einem 300prozentigen Anstieg an Verbrennungsfällen, die auf den Versuch, elektrische Energie durch Holzfeuer zu ersetzen, zurückzuführen waren. Außerdem unterband Israel den Import von Chlor, was dazu führte, dass in Gaza Stadt und im Norden des Gazastreifens der Zugang zu Wasser auf sechs Stunden alle drei Tage beschränkt war. Im Fall palästinensischer Opfer israelischen Terrors werden die menschlichen Konsequenzen schlicht ignoriert.

Nach dem israelischen Angriff vom 4. November griffen beide Seiten verstärkt zur Gewalt (wobei alle Todesopfer Palästinenser waren), bis der Waffenstillstand am 19. Dezember formell endete und Premierminister Olmert die massive Invasion des Gazastreifens autorisierte.

Einige Tage zuvor hatte Hamas die Rückkehr zum ursprünglichen Waffenstillstandsabkommen vom Juni, an das Israel sich nicht gehalten hatte, vorgeschlagen. Der Historiker und frühere hohe Beamte der Carter-Administration Robert Pastor leitete den Vorschlag an einen "wichtigen Repräsentanten" der IDF weiter, doch von Israel kam keine Antwort. Der Leiter des israelischen Inneren Sicherheitsdiensts Shin Bet wurde am 21. Dezember 2008 von israelischen Quellen mit der Aussage zitiert, Hamas sei an einer Fortsetzung des "Ruhezustands" interessiert, während der militärische Flügel der Organisation seine Konfliktvorbereitungen fortsetze.

"Selbstverständlich gab es eine Alternative zum militärischen Vorgehen zur Unterbindung der Raketenangriffe", sagte Pastor im Hinblick auf die engere Frage der derzeitigen Gazakrise. Außerdem gab es auch noch eine selten diskutierte viel weiter reichende Alternative, nämlich die Zustimmung zu einer die gesamten besetzten Gebiete umfassenden politischen Lösung.

Der langjährige israelische diplomatische Korrespondent Akiva Eldar berichtet, kurz vor Beginn der israelischen Invasion von Samstag, dem 27. Dezember 2008, habe "der Vorsitzende des Politbüros der Hamas Khaled Meshal auf der Website ‘Iz al-Din al-Qassam’ erklärt, er sei nicht nur zu einer ‘Einstellung aller Kriegshandlungen’ bereit - sondern schlage außerdem vor, zu der noch vor dem Wahlsieg und der späteren alleinigen Machtübernahme der Hamas ‚Rafah-Vereinbarung’ von 2005 zurückzukehren. Diese legte eine gemeinsame Verwaltung des Grenzübergangs Rafah durch Ägypten, die Europäische Union, das Präsidialamt der Palästinensischen Nationalbehörde und Hamas" fest und sah, wie oben erwähnt, die Öffnung der Grenzübergänge für verzweifelt dringlich benötigte Güter vor. Eine der Standardbehauptungen der vulgäreren Apologeten israelischer Gewalttaten (hier des Herausgebers des New Yorker David Remnick) lautet, die Israelis hätten mit ihrem jüngsten Angriff "wie in so vielen Fällen in den letzten fünfzig Jahren - dem Libanonkrieg von 1982, der als ‚Eiserne Faust’ bezeichneten Reaktion auf die Intifada von 1988, dem Libanonkrieg von 2006 - […] auf unannehmbare Terrorakte mit der Entschlossenheit reagiert, furchtbaren Schmerz zuzufügen und dem Feind eine Lehre zu erteilen". Wie bereits diskutiert, kann die Libanoninvasion von 2006 nur durch extrem zynische Argumente gerechtfertigt werden. Remnicks Bezug auf die grausame Reaktion auf die Intifada von 1988 ist zu widerlich, um eine Diskussion zu verdienen; eine wohlwollende Interpretation wäre, dass sich in ihr nur erstaunliche Unwissenheit widerspiegelt. Doch Remicks Charakterisierung der israelischen Libanoninvasion von 1982 ist weit verbreitet, ein bemerkenswerter Erfolg unablässiger Propaganda, angesichts dessen an einige Fakten erinnert werden sollte.

Es ist unstrittig, dass vor der israelischen Invasion von Nord bis Süd ein Jahr lang Ruhe an der israelisch-libanesischen Grenze herrschte, zumindest was die libanesische Seite betraf. Im Lauf dieses gesamten Jahres hielt sich die PLO skrupulös an einen von den USA ausgehandelten Waffenstillstand, ungeachtet zahlreicher israelischer Provokationen, zu denen auch Bombardements mit etlichen zivilen Opfern gehörten, die vermutlich die Absicht verfolgten, irgendeine Reaktion zu provozieren, die dann zur Rechtfertigung der bereits sorgfältig geplanten israelischen Invasion benutzt werden konnte. Das Beste, was Israel in dieser Hinsicht erreichen konnte, waren zwei schwache, lediglich symbolische Reaktionen. Daraufhin griff es den Libanon unter einem Vorwand an, der zu absurd war, um ernst genommen zu werden.

Die Invasion des Libanon hatte absolut nichts mit "unannehmbaren Terrorakten" zu tun, obwohl unannehmbare Akte sehr wohl eine Rolle spielten: nämlich solche auf diplomatischer Ebene. Das war schon damals klar. Kurz nach dem Beginn der US-unterstützten Invasion schrieb der führende israelische Palästinenser- und Palästinawissenschaftler Yehoshua Porat, der keineswegs eine Taube ist, die erfolgreiche Einhaltung dieses Waffenstillstands durch Arafat sei "in den Augen der israelischen Regierung eine regelrechte Katastrophe" gewesen, da sie den Weg zu einer politischen Lösung geöffnet habe. Die israelische Regierung hoffte, die PLO werde in den Terrorismus zurückfallen und damit selbst die Gefahr zunichte machen, dass sie "ein legitimer Verhandlungspartner für zukünftige politische Abkommen" werden könnte.

In Israel verstand man all das sehr gut, und es war kein Geheimnis. Premierminister Yitzhak Shamir erklärte, Israel sei aufgrund einer "furchtbaren Gefahr" in den Krieg gezogen, die allerdings "weniger militärisch als politisch" gewesen sei, was den brillanten israelischen Satiriker B. Michael zu dem Kommentar veranlasste, damit sei "der dürftige Vorwand einer militärischen Bedrohung oder einer Gefahr für Galiläa erledigt": Wir "haben die politische Gefahr gebannt", indem wir rechtzeitig einen Erstschlag landeten; jetzt "gibt es Gott sei Dank niemanden mehr, mit dem wir reden können". Auch der Historiker Benny Morris bestätigte, dass die PLO sich an den Waffenstillstand gehalten hatte, und erklärte, die Ursache für die "Unvermeidlichkeit des Krieges" sei die "PLO als politische Gefahr für Israel und dessen Kontrolle über die besetzten Gebiete" gewesen. Auch andere haben diese unstrittigen Tatsachen offen anerkannt.

In einem Kommentar zur jüngsten Gazainvasion Israels auf der ersten Seite der New York Times erläutert deren Korrespondent Steven Lee Meyers, der Angriff habe "in gewisser Weise […] Ähnlichkeit mit dem gewagten Spiel, das Israel 1982 im Libanon spielte und verlor, [als] es dort einmarschierte, um die Bedrohung durch die wachsende Macht Yassir Arafats zu beseitigen". Das ist richtig, wenn auch nicht ganz so, wie Meyers es meint. 1982 wie 2008 ging es für Israel darum, die Gefahr einer politischen Lösung zu eliminieren.

Damals setzten die Propagandisten Israels darauf, dass die westlichen Medien und Intellektuellen das Märchen schlucken würden, Israel reagiere ja nur auf die auf Galiläa einprasselnden Raketen und damit auf "unannehmbare Terrorakte". Und ihre Hoffnung wurde nicht enttäuscht.

Es geht hier nicht darum, dass Israel keinen Frieden will: Jeder will Frieden, immer, sogar Hitler. Die Frage ist nur, unter welchen Bedingungen. Der zionistischen Bewegung war von Anfang an klar, dass die beste Strategie zur Erreichung ihrer Ziele darin bestehen würde, politische Abkommen zu blockieren und unterdessen unauffällig vor Ort Fakten zu schaffen. Selbst Vereinbarungen wie die von 1947, denen sie gelegentlich zustimmte, wurden von der zionistischen Führung als zeitweilige Schritte zur weiteren Expansion betrachtet. Die Libanoninvasion von 1982 war ein dramatisches Beispiel für die verzweifelte Angst vor der Gefahr diplomatischer Lösungen. Danach unterstützte Israel zunächst einmal die Hamas, um der weltlich orientierten PLO und ihren beunruhigenden Friedensinitiativen das Wasser abzugraben. Ein weiterer erinnernswerter Fall sind die Provokationen Israels gegen Syrien vor dem Krieg von 1967, die darauf angelegt waren, eine syrische Reaktion auszulösen, die als Vorwand zur Gewaltanwendung und zur Aneignung von noch mehr Lande verwendet werden konnte. Laut dem damaligen Verteidigungsminister Israels Moshe Dayan gingen mindestens 80 % der damaligen Grenzzwischenfälle auf diese Provokationsstrategie zurück.

All das hat eine sehr lange Tradition. So beschreibt die offizielle Geschichte der vorstaatlichen jüdischen Militärtruppe, Haganah, die Ermordung des religiösen jüdischen Dichters Jacob de Haan 1924, der der Verschwörung mit der traditionellen jüdischen Gemeinde (dem "Alten Yishuv") und dem Arabischen Hochkomitee gegen die neuen jüdischen Einwanderer und ihre Siedlungspläne beschuldigt wurde. Und seitdem hat es etliche weitere Beispiele gegeben.

Dieses Bestreben zur Verhinderung eines politischen Ausgleichs folgte natürlich genau wie die begleitenden Lügen, es gebe "keinen Friedenspartner" einer untadeligen Logik. Wie anders sollte man sich Land unterwerfen, in dem man unerwünscht ist?
Wenn Israel Expansion über die eigene Sicherheit stellt, geht das auf dieselbe Motivation zurück. Die israelische Verletzung des Waffenstillstands mit der Hamas vom 4. November ist nur eines von vielen jüngeren Beispielen.

Einer Chronologie Amnesty Internationals zufolge hatte der Waffenstillstand vom Juni 2008 "in der Lebensqualität in Sderot und anderen Dörfern in der Grenzregion zum Gazastreifen, in denen die Bewohner vor dem Waffenstillstand in ständiger Angst vor dem nächsten palästinensischen Raketenangriff lebten, zu enormen Verbesserungen geführt. Aber im benachbarten Gazastreifen bleibt die israelische Blockade dennoch in Kraft, und die Bevölkerung dort hat bisher vom Waffenstillstand kaum profitiert." Doch offensichtlich wurde der Sicherheitsgewinn für die in der Nähe des Gazastreifens gelegenen Dörfer durch die Notwendigkeit aufgewogen, diplomatischer Schritte, die Barrieren gegen die Expansion im Westjordanland errichten könnten, zu durchkreuzen und jeden verbleibenden Widerstand in Palästina niederzuschlagen.

Diese höhere Bewertung der Expansion Israels vor der Sicherheit seiner Bürger wurde seit Israels schwerwiegender, mit Unterstützung von US-Außenminister Kissinger getroffener Entscheidung von 1971 besonders klar, das vom ägyptischen Präsidenten Sadat gemachte Angebot eines umfassenden Friedensvertrags, der den Palästinensern gar nichts geboten hätte - ein Abkommen, dass die USA und Israel dann acht Jahre später in Camp David dennoch annehmen mussten, nachdem eine weiterer Krieg Israel 1973 an den Rand der finalen Katastrophe gebracht hatte. Ein Friedensvertrag mit Ägypten hätte jeder wesentlichen Bedrohung der Sicherheit Israels ein Ende gemacht, aber die Bedingung dafür war ein quid pro quo, das Israel partout nicht akzeptieren wollte, da es dafür seine umfangreichen Siedlungsprogramme im nordöstlichen Sinai hätte aufgeben müssen. Damals wie heute war Sicherheit weniger wichtig als Expansion. Überzeugendes Beweismaterial für diesen Schluss findet sich in der exzellenten Studie über die Sicherheits- und Außenpolitik Israels von Zeev Maoz, Defending the Holy Land.

Heute wären für Israel Sicherheit, Normalisierung der Beziehungen zu den arabischen Nachbarstaaten und Integration in die Region erreichbar. Stattdessen es zieht es für jedermann sichtbar illegale Expansion, Konflikt und die ständige Anwendung von Gewalt vor, was nicht nur verbrecherisch, mörderisch und destruktiv ist, sondern auf lange Sicht auch seine eigene Sicherheit unterminiert. So schreibt der US-Militär- und Nahostspezialist Andrew Cordesman, dass Israel zwar sicherlich den wehrlosen Gazastreifen zermalmen könne, andererseits aber "weder Israel noch die USA von einem Krieg profitieren können, der bei einer der klügsten und gemäßigtsten Stimmen der arabischen Welt, dem saudischen Prinzen Turki Al-Faisal, [eine bittere] Reaktion wie seine Erklärung vom 6. Januar provoziert, nach der ‚die Bush-Administration [Präsident Obama] ein widerliches Erbe und eine unhaltbare Positionierung zu den Massakern und dem Blutvergießen an unschuldigen Menschen im Gazastreifen hinterlassen hat … Genug ist genug, heute sind wir alle Palästinenser und sind bereit, uns in der Nachfolge derer, die in Gaza gestorben sind, für Gott und Palästina zu opfern".

Eine der weisesten Stimmen Israels, Uri Avnery, beschreibt die Lage nach einem militärischen Sieg Israels folgendermaßen: "Was ins Bewusstsein der Welt eingebrannt sein wird, wird das Bild Israels als ein blutbeflecktes Monstrum sein, das jederzeit zu Kriegsverbrechen bereit ist und sich an keinerlei moralische Beschränkungen hält. Das wird ernste Konsequenzen für unsere langfristige Zukunft, unsere Geltung in der Welt und unsere Aussichten auf Frieden und Sicherheit haben. Letzten Endes ist dieser Krieg auch ein Verbrechen gegen uns selbst, ein Verbrechen gegen den Staat Israel."

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Avnery damit Recht hat. Israel verwandelt sich sehenden Auges in das vielleicht meistgehasste Land der Welt und verliert allmählich auch die Unterstützung der Bevölkerung im Westen, darunter auch die der jüngeren amerikanischen Juden, die seine unablässigen schockierende Verbrechen wohl kaum noch lange hinnehmen werden. Vor einigen Jahrzehnten schrieb ich, diejenigen, die sich gern als "Unterstützer Israels" bezeichneten, seien in Wirklichkeit Unterstützer der moralischen Erosion und wahrscheinlich am Ende auch der physischen Zerstörung Israels. Leider wird dieses Urteil von Jahr zu Jahr plausibler.

Und während diese Jahre verstreichen, sehen wir schweigend einem seltenen geschichtlichen Ereignis zu, nämlich dem, was der verstorbene israelische Soziologe Baruch Kimmerling "Politizid" genannt hat, der Ermordung einer Nation - einer Nation, die wir zu töten helfen.

 

Noam Chomsky ist Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technologie (MIT) und hat in den 60er Jahren die Vorstellungen über Sprache und Denken revolutioniert. Zugleich ist er einer der prominentesten und schärfsten Kritiker der gegenwärtigen Weltordnung und des US-Imperialismus.

 

Quelle:  ZNet Deutschland   vom 07.02.2009. Originalartikel: "Exterminate all the Brutes": Gaza 2009 . Übersetzt von: Michael Schiffmann.

 

Veröffentlicht am

07. Februar 2009

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