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Wohlstand nur für die Gebildeten

Merkel wirbt für Gerechtigkeit, hat aber für die sozial Schwächeren nicht ein einziges Angebot in der Tasche

Von Christoph Butterwegge

"Wohlstand für alle" versprach Ludwig Erhard und legte mit seinem gleichnamigen Buch im Jahr 1957 den Grundstein für die Soziale Marktwirtschaft, obwohl seine Kernthesen eher unsozial anmuten. Der spätere Bundeskanzler plädierte darin für eine mit der Wirtschaftspolitik aufs Engste verzahnte Sozialpolitik, die der volkswirtschaftlichen Produktivität und der Währungsstabilität nicht zuwiderlaufen dürfe. Erhard, auf den sich heute fast alle Politiker der etablierten Parteien berufen, stellte die marktwirtschaftliche Ordnung in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, nicht ohne von den Bürgern "private Initiative, Selbstvorsorge und Eigenverantwortung" zu verlangen.

Ein gutes halbes Jahrhundert später verspricht die Bundeskanzlerin der Berliner großen Koalition auf dem Scheitelpunkt eines Konjunkturaufschwungs, der durch die momentane Weltfinanzkrise endgültig ins Gegenteil zu kippen droht, "Bildung für alle" und lädt zu einem entsprechenden Gipfel nach Dresden ein. Wenn Angela Merkel dort die "Bildungsrepublik" ausruft, ist das im Grunde eine gesellschaftspolitische Bankrotterklärung ihrer Partei. Denn weder hat der Wohlstand bisher sämtliche Bürgerinnen und Bürger erreicht, noch können hehre Worte der Kanzlerin darüber hinwegtäuschen, dass die Ziele sehr viel bescheidener geworden sind, obwohl der in Deutschland jährlich erzeugte Reichtum (Bruttoinlandsprodukt) seither enorm gestiegen ist. Die von Angela Merkel ausgegebene Parole "Bildung für alle" gaukelt zudem ein höheres Maß an Egalität vor, während sich der wachsende Wohlstand auf immer weniger Menschen beschränkt.

Erhard ging noch wie selbstverständlich davon aus, dass sich im materiellen Wohlstand lebende Menschen ausreichend bilden. "Wohlstand für alle" war für ihn denn auch ein politisch ehrgeizigeres Ziel als "Bildung für alle". Letztere wäre höchstens dann mehr, würde daraus in der modernen "Wissensgesellschaft" automatisch eine bessere Wohlstandsposition resultieren. Zu den Menschen, die mit ihrer Hände Arbeit so wenig verdienen, dass sie sich und ihre Familie kaum ernähren können, gehören freilich mitnichten nur schlecht Ausgebildete. Längst haben Fachkräfte geringer Qualifizierte aus vielen Jobs verdrängt, und zwar selbst im Niedriglohnsektor, der hierzulande immer breiter wird.

Bildung hat durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt sowohl für die Wirtschaftsentwicklung eines Landes als auch für die Berufsaussichten der Menschen erheblich an Bedeutung gewonnen, ohne sich deshalb zu einem Bürgerrecht entwickelt zu haben, als das sie der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf schon Mitte der sechziger Jahre betrachtete. Noch immer sorgt ein gegliedertes Sekundarschulsystem, das die meisten OECD-Länder nicht mehr kennen, bereits nach wenigen Schuljahren für eine soziale Selektion und verhindert, dass alle Kinder - unabhängig von ihrer Herkunft - eine gute Bildung erhalten. Nach wie vor wird durch dieses Schulsystem Armut "vererbt". Die soziale Auslese des Bildungssystems wird aber von den meisten Gipfelteilnehmern gar nicht in Frage gestellt, verteidigen sie doch anders lautenden PISA-Ergebnissen zum Trotz die hierarchische Gliederung des deutschen Sekundarschulwesens und die Privilegierung des Gymnasiums, das ein borniertes Bürgertum am liebsten ganz allein für den eigenen Nachwuchs reservieren möchte. Indem sozial Schwache in der Schule benachteiligt werden, setzt sich eine Armutsspirale in Gang: Diese jungen Menschen fassen auf einem flexibilisierten Arbeitsmarkt nicht oder nicht sofort Fuß. Kinder aus armen Familien besuchen oft keine weiterführende Schule oder verlassen sie ohne Abschlusszeugnis.

Die "Bildungsrepublik" sei der beste Sozialstaat, sagt unsere Bundeskanzlerin. Während Erhard die Wirtschafts- gegen die Sozialpolitik ausgespielt hatte, konstruiert Merkel einen Gegensatz zwischen Bildungs- und Sozialpolitik. Gleichzeitig rühmt sie sich, die Staatsquote auf den niedrigsten Stand seit der Vereinigung 1989/90 reduziert zu haben. Wer eine Bildungsrepublik schaffen will, müsste jedoch die öffentlichen Investitionen im Bereich der Kultur, der Wissenschaft und der Forschung erhöhen, statt sie unter dem OECD-Länderdurchschnitt zu belassen. Merkel bemüht die Formel vom "Bündnis der Stärkeren mit den Schwächeren in der Gesellschaft", ohne für die Letzteren irgendein konkretes Bildungsangebot zu unterbreiten. Eine bloße Neuauflage der sogenannten Exzellenzinitiative, die das Ziel verfolgt, Eliteuniversitäten nach angloamerikanischem Vorbild zu schaffen, verwirklicht gerade nicht "Bildung für alle", schafft vielmehr günstige Sonderbedingungen und Privilegien für wenige Spitzenforscher ebenso wie bessere Ausgangsbedingungen für möglichst zahlungskräftige "Kunden", als die Studierende heute firmieren.

Unglaubwürdig wird, wer die Bildung als Sozialpolitik etikettiert und gleichwohl von der Kita über Schule und Weiterbildung bis zur Universität alle Bereiche privatisieren und kommerzialisieren möchte. Erst kürzlich hat der Bundestag das Kinderförderungsgesetz beschlossen, in dem privat-gewerbliche Träger von Tageseinrichtungen mit Gewinnabsichten eine staatliche Finanzierungsgarantie erhalten. Sie kalkulieren ihr Personal nach Effizienzkriterien oder sind nur für wenige bezahlbar. In einem solchen Bildungssystem stoßen Kinder bloß noch auf Interesse, wenn sie oder ihre Eltern als zahlungskräftige Kunden gelten. Man würdigt Bildung zu einer Ware wie jede andere herab und betrachtet sie gleichzeitig als politische Wunderwaffe im Kampf gegen die Kinderarmut, ohne den darin liegenden Widerspruch auch nur zu erkennen.

Christoph Butterwegge lehrt als Professor Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt sind seine Bücher Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland, Rechtspopulismus, Arbeitswelt und Armut sowie Neoliberalismus. Analysen und Alternativen erschienen.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   42 vom 16.10.2008. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

22. Oktober 2008

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