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Die Demokratie demokratisieren

Deglobalisierung: In seinem neuen Buch plädiert der Politikwissenschaftler Mohssen Massarrat für den Übergang von der Konkurrenzdemokratie zur dialogisch-kooperativen Demokratie


Von Sabine Kebir

Es mag vermessen wirken, auf 312 Buchseiten einen globalen Befriedungsplan für einen “Übergang zu einer neuen Weltordnung” vorzulegen. Dieser Masterplan geht von einer Kritik an der bisherigen Kritik des Kapitalismus und Imperialismus aus, entwickelt eine neue Theorie über Macht und Machtungleichheit, analysiert Amerikas Hegemonialsystem und seine Grenzen, schlägt “revolutionäre Reformen” zu Nachhaltigkeit und Deglobalisierung vor, lotet die Möglichkeiten von Chancengleichheit und Gerechtigkeit als “Ethik der Nachhaltigkeit” aus und diskutiert Arbeitszeitverkürzung, Grundeinkommen, Ressourcenschutz für die nächsten Generationen sowie erneuerbare Energien. Schließlich wird die “Demokratisierung der Demokratie” als notwendiges Instrument der Realisierung dieser Ziele dargelegt.

Gelungen ist dies einer großartig integrierten Kollektivarbeit, die der Freitag-Lesern bestens bekannte Mohssen Massarrat als Professor an der Universität Osnabrück zwischen 1999 und 2003 geleitet hat. Acht Semester durchgehalten haben Studierende und Doktoranden, obwohl Anträge auf Forschungsgelder ans Land Niedersachsen, die DFG und andere Institutionen scheiterten.

Viele kühne Gedanken, die man teilweise aus Spezialistenmund bereits kennt, werden hier ergänzt und zusammengefügt und erscheinen, weil ihre gegenseitige Abhängigkeit betont wird, weniger abstrakt und realisierbarer als in isolierter Form. Denn ohne perspektivische Menschheitssolidarität hinsichtlich der Rohstoffressourcen, des Umweltschutzes, aber auch der individuellen Lebenschancen wird es keinen Frieden geben. Zugleich sind dies die konkreten Felder, auf denen sich die “Demokratie demokratisieren” muss.

Der qualitative Sprung, der dem Osnabrücker Modell gelingt, entspringt aus der Kritik an verbreiteten politökonomischen Theorien von Ernest Mandel, Rosa Luxemburg, David Harvey und Alex Callinicos. Sie erweisen sich bei aller Scharfsichtigkeit als beschränkt, weil sie den Kapitalismus letztlich mechanisch aus ökonomischen Akkumulationsprozessen erklären und dem Proletariat eine quasi magische Fähigkeit zum Umsturz dieser Verhältnisse zuschreiben. Flagrant unterbelichtet bleibt die Rolle von politischen Institutionen der Machtausübung, die eine nicht zu unterschätzende kulturelle Dimension hätten. Denn trotz globaler Krisen und Kriege, Massenarbeitslosigkeit, Hunger, Terrorismus und Naturzerstörung finden systemtranszendente Konzepte über kleine linke Gruppen hinaus keine Resonanz.

Die kulturelle Übermacht des Neoliberalismus speist sich nicht nur über ökonomische Akkumulation und verschiedene Formen von Gewalt, sondern auch aus sozialen und kulturellen Ressourcen. Schon seit den siebziger Jahren verloren sowohl die Ideen von sozialistischer Kooperation als auch von keynesianischer Solidarität an Einfluss. Dafür gelang es den reichen Welteliten, das kulturelle Aufbegehren der Achtundsechziger hinsichtlich verkrusteter staatlicher, gewerkschaftlicher und familiärer Strukturen in den eigenen Wertekanon zu integrieren und sie “in Gestalt von Liberalisierung, Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung in den Dienst der neoliberalen Globalisierung zu stellen.”

Als potentielle Katalysatoren eines globalen Richtungswechsels sehen die Osnabrücker die Europäer. Sie könnten der Energieverschwendung und der imperialistischen Hybris der USA ein Ende setzen, wenn sie sich nicht mehr als deren Vasallen aufführen würden und auf die Angebote vieler Rohstoffländer eingingen, den Euro als Grundlage neuer Handelsbeziehungen in einer polyzentrischen Welt einzusetzen. Freilich müsste auch die Entwicklung alternativer Energien nicht als Profitmaschinerie konzipiert, sondern prinzipiell allen Völkern zugänglich sein. Nur so werden sich bevölkerungsreiche Rohstoffländer entschließen, durch Begrenzung ihrer Fördermengen den Verbrauch von nichtregenerierbaren Energiequellen weltweit zu reduzieren. Massarrat hält das deutsche Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) für ein Vorbild für Europa und die Welt.

Die Osnabrücker fordern “Deglobalisierung”. Nicht nur dem weltweit freien Verkehr von Kapital müssten Grenzen gesetzt werden, sondern auch der rein profitorientierten Verlagerung von Produktionsstätten und Arbeitskräften. Stattdessen wären die Binnenentwicklung der Volkswirtschaften und die innerstaatlichen Finanzkreisläufe zu sichern. Notwendig sind Landreformen, Bildungsinitiativen, Umwelt- und Nachhaltigkeitsprogramme sowie Wirtschaftssysteme, deren private und öffentliche Sektoren von der Zivilgesellschaft kontrolliert werden. Diese muss sich ermächtigen, die Monopolisierung von natürlichen und gesellschaftlichen Ressourcen zu verhindern und echte Chancengleichheit zu sichern. Eine solche Demokratieentwicklung kann sich nur in den Gesellschaften selbst vollziehen und legitimieren.

Die Existenz zahlreicher NGOs belegt, dass die Staaten weder im Innern noch in ihrem Verhältnis zueinander ihre wichtigsten Aufgaben lösen. Wiewohl Massarrat NGOs als Keim einer neuen globalen Zivilgesellschaft ansieht, warnt er, dass sie durchaus in Gefahr staatlicher und privater Manipulierung stehen und ihre am Allgemeinwohl orientierte Zielstellung verlieren können.

Das Osnabrücker Modell plädiert für ein Bündnis von Linken, Sozialdemokraten, Grünen und antiglobalistischer Bewegung. Es könnte mit Reformen von WTO, IWF und einem globalen Marshallplan soziale und ökologische Mindeststandards setzen. Das bedeute jedoch nicht das Ende des Kapitalismus, sondern würde sogar einen neuen Schub weltweiter Kapitalakkumulation auslösen. Erneute Initiativen würden nötig, um die Unterordnung der menschlichen Grundbedürfnisse wie Sicherheit, Fairness, Solidarität, Gerechtigkeit unter die Kapitalgesetze und deren zentralisierte Entscheidungsstrukturen abzuschaffen.

Mohssen Massarrat: Kapitalismus, Machtungleichheit, Nachhaltigkeit. Perspektiven revolutionärer Reformen, VSA, Hamburg 2006, 312 S., 18,80 EUR

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   44 vom 02.11.2007. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

06. November 2007

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