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Der “liberale Imperialismus” der Europäischen Union

Weltmächtig: Wenn die Geoökonomie an Grenzen stößt, schlägt die Stunde der geopolitischen Expansion. Die USA sind dabei Europas Hauptrivale


Von Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf

Die Geopolitik, eine Disziplin, die wegen ihrer Verwicklung in imperialistische Abenteuer des 19. Jahrhunderts und der Rechtfertigung nationalsozialistischer Expansionspolitik Jahrzehnte in Verruf war, kehrt zurück. Tatsächlich ist Geopolitik kein Thema, so lange Märkte expandieren, der Warenfluss weder an räumliche Grenzen stößt noch durch zeitliche Verzögerungen unterbrochen wird. Schließlich hat das Regelwerk der internationalen Organisationen die ökonomische Expansion (räumlich durch Ausdehnung des Weltmarktes - zeitlich durch Abbau aller institutionellen oder technischen Hindernisse der Beschleunigung) jahrzehntelang erfolgreich gefördert, ohne dabei die politische Kontrolle von Territorien durch souveräne Nationalstaaten in Frage zu stellen. Die erweiternde und vertiefende Integration der EU war ein spezifisch europäischer Modus (in der Mischung von negativer und positiver Integration) der ökonomischen Expansion, und er war erfolgreich.

Erwachsen der geoökonomischen Expansion Grenzen, müssen diese politisch reguliert werden, wenn sie nicht wie der gordische Knoten mit dem Schwert zerschlagen werden können. In dem Maße wie die Welt mit Pipelines, Schiffsrouten, Autobahnen, Bahn- oder Flugverbindungen, mit Internet und Telekommunikation und vor allem durch gewaltige Finanzströme von täglich zwei Billionen US-Dollar vernetzt wird, wächst die Bedeutung des Territoriums sowohl für politische Herrschaft und Sicherheit, als auch wegen der Versorgung mit Energien und Rohstoffen für die ökonomische Entwicklung. So muss die EU unversehens in einem geopolitischen Konfliktfeld agieren.

Denn die global ausgreifenden infrastrukturellen Systeme sind verletzlich und bedürfen des Schutzes, der immer mehr zur vorrangig militärischen Angelegenheit wird. Dabei sind die USA als “einzige Weltmacht” führend. Aus der Wahrnehmung dieser Rolle resultieren die heißen Kriege, die seit dem Ende des Kalten Krieges gegen Jugoslawien, Afghanistan und den Irak geführt worden sind und künftig geführt werden, wenn die globale Friedensbewegung sie nicht verhindern kann. An den geopolitisch begründeten Kriegen haben sich auch EU-Länder und die NATO mit ihren militärischen Eingriffspotentialen beteiligt. Aber die Kriege - insbesondere “der amerikanische Krieg gegen den Irak 2003 - war teilweise auch ein indirekter Krieg gegen die Europäische Union” (Thomas McCormick). Denn unser Kontinent konnte in ein “neues Europa” (im Bündnis mit den USA) und die Mächte des “alten Europa” gespalten werden, die sich am Überfall auf den Irak nicht beteiligt haben. Die alte Regel des “divide et impera”.

Ein “regime change” wird zur Angelegenheit der Weltinnenpolitik

Mit der EU-Erweiterung sind neue Außengrenzen gegenüber Mächten errichtet worden, die zuvor keine gemeinsame Grenze mit der EU hatten, zum Beispiel Russland (oder die Kaukasus-Region am östlichen Ufer des Schwarzen Meeres, an dessen westlichem Ufer die EU mit Bulgarien und Rumänien inzwischen “angekommen” ist). Diese Seite der imperialen Geschichte endet also auch im 21. Jahrhundert nicht: Imperien besetzen und beherrschen Territorien und nicht-territoriale Räume, sie setzen auf diese Weise Grenzen, schaffen Schutz für die Inkludierten (oder zumindest die Illusion davon) und grenzen alle anderen aus. So entsteht der Limes zwischen den Bürgern des Imperiums und den “Barbaren” außerhalb. Diese Denkfigur hat die Jahrhunderte überdauert und lebt in den neuen Definitionen der nicht zur EU gehörenden Länder wieder auf.

Doch im Unterscheid zum frühen 20. Jahrhundert versteht sich der EU-Imperialismus des 21. Jahrhunderts als “liberal” (Javier Solana) und “kosmopolitisch”, als zivilisiert und postmodern, weil er nicht versucht, die unselige Geopolitik vor dem Zweiten Weltkrieg fortzusetzen. Dieses Konzept und die Wissenschaft, die es begründet, haben sich als Rechtfertigungslehre des nationalsozialistischen Eroberungskriegs so sehr desavouiert, dass sie für einen auf Seriosität bedachten Diskurs weitgehend eliminiert blieben. Gleichwohl wurden im Sog eines “neuen Imperialismus” der USA immer wieder geopolitische Zeichen unmissverständlich gesetzt. Die Monroe-Doktrin - sie hat die geopolitische Suprematie der USA auf dem amerikanischen Doppelkontinent schon 1823 deklariert - wurde nie aufgegeben. Im Januar 1980 formulierte der damalige US-Präsident die “Carter-Doktrin”, die besagt, dass jeder Versuch einer dritten Macht, Kontrolle über die Region des Persischen Golfes zu erringen, als Angriff auf die USA gedeutet und entsprechend beantwortet werde.

Auch Zbigniew Brzezinski hat sich eindeutig geopolitischer Argumente bedient, als er Mitte der neunziger Jahre für den Zugriff der USA auf Zentralasien plädierte. Das heartland gilt in der geopolitischen Argumentation als Zentrum der terrestrischen Fläche des Planeten. Es befindet sich dieser Vorstellung gemäß in Zentralasien. Staaten mit besonderer Bedeutung für die Beherrschung einer Weltregion müssen entweder in die Pflichten eines Bündnisses - sprich: in ein hegemoniales Projekt der “einzigen Weltmacht” integriert sein - oder unterworfen beziehungsweise zu einem regime change durch aktive Intervention veranlasst werden. Im Empire gibt es das Außen nicht mehr - regime change ist demnach eine Angelegenheit der Weltinnenpolitik. Dieser bemächtigen sich die dazu aufgerufenen Mächte des charming circle, um der unfriedlichen Welt Frieden aufzuherrschen. Mit Waffen, versteht sich, wie denn sonst? Die Frage nach den Ursachen des Unfriedens verschwindet hinter dem Hurra-Imperialismus der “Weltinnenpolitiker” eines Empire, das ja kein “außen” mehr kennt, aber offenbar auch keine (ökonomischen) Krisen, innere (politischen) Widersprüche und (sozialen) Konflikte.

Dabei empfiehlt der britische Geopolitiker MackinderMackinder lebte von 1861-1947, sein Hauptwerk war Britain and The British Seas. die Häutung der Zwiebel: Wer Osteuropa beherrscht, kontrolliert auch das zentralasiatische heartland. Die Macht, die dieses beherrscht, übt Kontrolle über den euro-asiatischen Landkomplex, das world island, aus. Und wer diese “Weltinsel” beherrscht, besitzt die Weltherrschaft. Die Einbeziehung osteuropäischer EU-Staaten in ein US-Raketensystem, die Unterstützung des Regimewechsels in Georgien, in der Ukraine und der entsprechende Versuch in Weißrussland und Zentralasien sowie die Nutzung rumänischer und polnischer Basen für die CIA-Terrorflüge können insofern als Akte des Mackinder-Drehbuchs verstanden werden. Da die USA inzwischen tatsächlich alle Transportrouten für Öl auf dem Seeweg überwachen und mit ihren Militärbasen rund um das Kaspische Meer auch die zweitwichtigste Förderregion für Öl und Gas unter ihre Kontrolle gebracht haben, lassen sich sowohl der Afghanistan- wie der Irak-Krieg als klare Vorentscheidung dafür deuten, dass die Administration in Washington entschlossen ist, die Energiekrise vorzugsweise militärisch zu lösen - auch wenn dies eine kurzsichtige und nicht einmal im ökonomischen Sinne effektive “Lösung” darstellt.

Die Ölversorgung nicht dem “freien” Spiel von Angebot und Nachfrage überlassen

Ein Streben nach Weltherrschaft wie zur Zeit des traditionellen Imperialismus im frühen 20. Jahrhundert? Selbstverständlich geht es auch heute noch um die politische Sicherung von Märkten für den Absatz der Produkte des imperialen Staates, um den Zugang von “Investoren” in die dem Weltmarkt geöffneten Regionen und um den Zugang zu Rohstoffen. Paul Bremer, Chef der Coalition Provisional Authority (CPA) in Bagdad, erklärte bereits im Mai 2003 den Irak als “open for business” und zementierte dies durch die “Orders” der CPA.

Viele Absatzmärkte sind bereits nach WTO- Reglement weit geöffnet, die Finanzmärkte liberalisiert und dereguliert. Hier hat das geoökonomische Prinzip einen unbestreitbaren Vorrang und macht gewissermaßen geopolitische Anstrengungen der Beherrschung eines Territoriums überflüssig. Der Zugang zu Rohstoffen - der dritte Grund für imperialistische Expansion, den Lenin angibt - jedoch ist umstritten, er lässt sich mit marktmäßigen Transaktionen allein nicht immer gewährleisten, besonders wenn die Grenzen der Verfügbarkeit von Ressourcen offensichtlich werden. Besonders beim Öl ist der Höhepunkt der Förderung (Peak Oil) von größter Bedeutung, erstens weil Öl der wichtigste Energieträger ist, auf den die modernen kapitalistisch-fossilistischen Ökonomien angewiesen sind, und zweitens weil nach dem Peak Oil die Angebotskurve des Öls aus physikalischen und nicht nur aus ökonomischen Gründen nach unten weist, während die Nachfragekurve aus verschiedenen Gründen steigt.

In einer solchen Situation ist es ausgeschlossen, die Ölversorgung dem “freien” Spiel von Angebot und Nachfrage zu überlassen; das Angebot kann ja gar nicht in dem Maße erhöht werden, wie die Preise steigen. So kommt die Geopolitik erneut ins Spiel, als ein “New Great Game”, als oil imperialism oder als Geopolitik von Öl, Gas und Uran. Darin ist auch die EU aktiv involviert, in Afrika, im Nahen Osten und vor allem im Kaukasus, in Zentralasien und in den Beziehungen zu Russland. Denn die “zentral-asiatische Region mit ihren bedeutenden Energiereserven kann eine wichtige Rolle spielen in der langfristigen Energieversorgung Europas”, so Außenminister Franz-Walter Steinmeier (2007). Doch Russland ist nach dem Verlust an politischer Statik während der Jelzin-Ära wieder eine ökonomische Macht. Und die ist nicht zuletzt dank des Peak Oil und des Preisschubs bei den Kohlenwasserstoffen stark genug, um eigene strategische Optionen als politische Weltmacht zu entwickeln, auch gegen die EU.

Dabei fällt als politische Rahmenbedingung ins Gewicht, dass nach dem geoökonomischen Zwischenspiel nach 1990 die plurale Welt der Globalisierung erneut zweigeteilt ist: in das “Lager westlicher Freiheiten” und die Welt der seit dem 11. September 2001 in einem globalen Krieg bekämpften “Terrornetzwerke” und “Schurkenstaaten”.

Vergangenheit europäisch, Gegenwart amerikanisch, Zukunft asiatisch

Territoriale Grenzen der Nationalstaaten oder die Schengen-Grenzen der EU dienen der Kontrolle zwischen innen und außen und setzen so die “Innerhalb-Außerhalb-Dichotomie” fort. Die Grenzen werden also nicht als durchlässige Membran verstanden, sondern eher als “flexibler Filter”. Sie spielen eine hervorgehobene Rolle bei der Regelung der Migration und der Sicherung des homelands gegen “Bedrohungen”, die häufig abstrakt bleiben. Je diffuser sie sind, desto abschreckender wirken sie. Auch im ureigensten Bereich des Handels von Waren und des Verkehrs von Kapitalien ist politische Kontrolle trotz Freihandel und Marktliberalisierung keineswegs beseitigt. Im Gegenteil; sie wird zu Gunsten der Akkumulation des Kapitals in der EU funktionalisiert.

Bei alldem ist das Verhältnis von “außen” und “innen” im Empire nicht ein für alle Mal definiert. Die strategische Konzentration der Macht ist das Projekt der US-Neokonservativen, die davon träumen, mit formeller und informeller Macht des Imperiums auch die Geschichte anhalten zu können. Europa erscheint ihnen als Macht der Vergangenheit, daher die abfällige Rede vom “alten Europa”. Die Gegenwart gehört den USA, die versuchen, sie in die Zukunft zu verlängern. Doch “if the past is ›European‹ and the present ›American‹, it seems the future is ›Asian‹ ” (so der bekannte Ökonom James Anderson aus Boston in diesem Jahr).

Die EU ist in die Globalisierung hineingewachsen und eines ihrer unverzichtbaren Elemente. Sie befindet sich heute in einer Situation imperialistischer Konkurrenz. Der Erfolg der vertiefenden und erweiternden Integration ist dafür verantwortlich, dass auch die EU eine Weltmacht geworden ist und die binäre Logik der territorialen Herrschaft zu Gunsten der ökonomischen Akteure der EU ausspielen kann. Dies wird von interessierten Kreisen als “gute Gelegenheit” genutzt, um Europas Einfluss in der Welt zu steigern und europäische Wirtschaftsinteressen außenpolitisch und militärisch - also durch (supra-)staatliche Machtentfaltung - zu festigen. Dazu dient die neue handelspolitische Strategie von Global Europe - competing in the world, dazu dienen auch die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die Formierung einer Schnellen Eingreiftruppe wie von battle groups, die Kern einer europäischen Armee werden könnten. Der Gegensatz zwischen “dem ökonomischen Riesen und dem politischen Pygmäen” soll überwunden werden.

Es vermischen sich demnach geoökonomische und geopolitische Dimensionen der europäischen Integration, doch ergibt sich Europas geopolitische Bedeutung in erster Linie aus seinem ökonomischen Gewicht in der globalisierten Geoökonomie. Was passiert nun, wenn dieses Gewicht die geopolitische Vormacht der USA gefährdet, etwa durch die Ablösung des Dollars als Ölwährung durch den Euro? Eine Herausforderung, die möglicherweise bedeutsamer ist als die in der “Nationalen Sicherheitsstrategie” von 2002 genannten Fälle, wonach die Vorherrschaft der USA in den Kernregionen ihres Interesses - im Nahen und Mittleren Osten, in Zentralasien, Ostafrika und Osteuropa - durch nicht-staatliche “Terror-Netzwerke” oder “Schurkenstaaten” in Frage gestellt wird.

Neben der kapitalistischen Logik der Akkumulation in der Geoökonomie gewinnt also die territoriale Logik der Geopolitik erneut Bedeutung. Und diese beiden Logiken sind nicht unabhängig voneinander, im Gegenteil. Wenn die Kapitalakkumulation floriert, kann das Kapital auf die Politik gut und gern verzichten, freilich nicht auf die repressive Seite von Politik zur Aufrechterhaltung von “Ruhe und Ordnung” im Innern wie nach außen. In der Krise und an den Grenzen der sicheren Energieversorgung allerdings wächst die Bedeutung geopolitischer Unterstützung der geoökonomischen Strategien des Kapitals. Dafür sorgen in erster Linie die Nationalstaaten, aber immer mehr kümmert sich darum auch eine regionale Macht wie die Europäische Union. Dies ist der Grund, weshalb die EU in Konkurrenz zu den USA gerät und inzwischen auch mit China, Indien und anderen Ländern aus der ehemaligen Dritten Welt zu rechnen hat, weil dort mittelfristig potente Konkurrenten heranreifen.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   43 vom 26.10.2007. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Elmar Altvater und des Verlags. Der stark gekürzte Text ist dem neuen Buch von Birgit Mahnkopf und Elmar Altvater entnommen, das Ende November 2007 unter dem Titel Konkurrenz für das Empire - Die Zukunft der Europäischen Union in der globalisierten Welt im Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, erscheinen wird.

Fußnoten

Veröffentlicht am

29. Oktober 2007

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