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Man fragt nicht mehr

Von Gideon Levy, 18.06.2006

Wir haben aufgehört zu fragen. Die Presse, deren Job es wäre zu fragen, stellt kaum mehr Fragen; die Knesset stellt keine Fragen mehr; der Oberstaatsanwalt stellt keine Fragen mehr; der Oberste Gerichtshof fragt nicht; kaum ein Lehrer, Arzt, Student und Intellektueller stellt Fragen; die Verantwortlichen der Armee und des Verteidigungsestablishments stellen gewiss auch keine Fragen - sie fragen nie. Nichts ist symptomatischer für die Krankheit einer Gesellschaft als die Tatsache, dass die Gesellschaft aufgehört hat, Fragen zu stellen.

Sogar während einer so besonders blutigen Woche wie der vergangenen Woche, als 14 unschuldige Zivilisten getötet wurden, wurden kaum Fragen gestellt und wenn, dann nicht die richtigen Fragen. Mit schwacher Stimme wurde gefragt, warum es nötig sei, Granaten auf ein Fahrzeug mitten in Gaza zu werfen und warum eine zweite Granatladung nötig war, als es deutlich wurde, dass unschuldige Zivilisten sich um den getroffenen Wagen sammeln würden. Aber niemand fragt nach dem Unterschied zwischen dem Abschießen einer Granate mit ins Herz einer Stadt oder einem Selbstmordattentäter, der sich selbst mitten in einer andern Stadt in die Luft sprengt. Sie fragten, wer die Familie Ghalia am Strand tötet und was Israel mit den Qassams machen sollte; aber wenige fragen, was Israel unter keinen Umständen tun sollte und was geschehen würde - Gott bewahre - wenn die GRAD-Rakete im Fahrzeug auf einer sehr bevölkerten Straße explodieren sollte. Natürlich denkt keiner daran, den Kommandeur der Luftwaffe oder den Generalstabschef zu fragen, ob sie die Verantwortung für dieses Kriegsverbrechen übernehmen sollten.

Und keiner fragte nach der seit einiger Zeit hier kursierenden Debatte über die Politik der Ermordungen, ihre Rechtmäßigkeit und Moral, noch ob sie sensibel und effektiv sei. Hat sie je jemanls darüber Rechenschaft abgelegt, in wie weit das Blutvergießen (bei uns) eine Reaktion auf die Ermordungen ist? Sie fragten, wer begann mit der neuen Runde der Gewalt und antworteten im Chor: die Palästinenser. Sie schossen zuerst. Aber keiner wagte zu fragen, warum sie schießen? Sind sie geboren worden, um zu schießen, um Qassams abzuschießen?

Haben sie Freude daran? Was sind ihre Motive? Hat eine neue Runde des Kampfes begonnen, diesmal mit Qassams? Oder ist es die unmenschliche Bedingung, unter der sie leben, der Boykott, den Israel der palästinensischen Behörde auferlegt hat, und die unerträgliche Belagerung? Wir haben sie im Gazastreifen eingesperrt und internationale wirtschaftliche Hilfe abgeblockt; sie schießen, um sich von dem schweren Joch, das wir auf sie legten, zu befreien? Ist es nicht nur ein Kampf um Freiheit? Und wir fragen nicht einmal warum? Wir wagen nur zu behaupten: " sie haben begonnen."

Und warum hat Israel Mahmoud Abbas’ seit langem ausgestreckte Hand zurückgewiesen? Israel gibt wenigstens zu, dass er friedensuchend sei. Und warum haben wir nicht auf die neuen Stimmen der Hamas gehört? Was wäre wohl geschehen, wenn der Ministerpräsident seinen Kollegen Ismail Haniyeh einen Tag nach seiner demokratischen Wahl zu einem Treffen aufgefordert hätte. Wäre die Gefahr für Israel nach dem Treffen größer gewesen, als der Schrecken der Qassams und der zukünftigen Terrorakte. Das von uns gesäte Töten hat das Dokument der Gefangenen untergraben, das als Ermutigung für Israel gedacht war. Durch eine Mordkampagne und massives Bombardieren machte es Israel für Abbas praktisch unmöglich, das Referendum durchzuführen, das Ergebnisse hätte liefern können, die wiederum ein Druckmittel für Frieden hätte sein können. Und hat jemand in letzter Zeit gefragt, warum die "sichere Passage" nicht eröffnet worden ist, wie wir versprochen hatten, oder warum Gefangene, begonnen mit Marwan Barghouti, nicht auf freien Fuß gesetzt worden sind?

Ministerpräsident Ehud Olmert kehrte von einigen Reisen zu Welthauptstädten - trotz seiner Selbstüberhebung und Selbstzufriedenheit - mit leeren Händen zurück. Und nur in Israel glaubt man seiner Behauptung, der "Konvergenzplan" bringe den Frieden voran und beende die Besatzung. Keiner fragt, warum wir uns in eine Richtung bewegen sollten, gegen die die ganze Welt von Washington bis Ramallah opponiert. Man sagt uns und der Welt, dass Israel ein Jahr für Verhandlungen geben will, - und verdammt noch mal - keiner fragt, warum noch keine Versuche von Verhandlungen begonnen haben.

Israel wartet, still und gleichgültig. Jede kleine Aussicht guter Nachrichten von palästinensischer Seite wird sofort durch brutale militärische Operationen niedergetrampelt. Wir sind dabei, Hamas in den Teufelskreis der Gewalt zurückzustoßen, wie ein ranghoher Armeeoffizier, der natürlich anonym bleiben will, zugibt. Im Gazastreifen ist ein Ministerpräsident, der sagt, er wolle ein Abkommen mit Israel auf der Basis der 1967er-Grenzen erreichen; es ist ein weit reichendes Statement - so weit es ihn betrifft - und Israel antwortet mit Lebensbedrohung. In Ramallah ist der moderateste aller palästinensischen Führer - doch Israel ignoriert mehr oder weniger seine Existenz. Vor vier Jahren hat die arabische Welt eine tapfere Entscheidung getroffen: den sogenannten "Saudi-Arabischen Plan", um die Beziehungen mit Israel zu normalisieren. Es gab darüber hier nicht einmal eine ernsthafte Diskussion.

Ohne Fragen zu stellen, wird Israel moralisch kollabieren. Afrikanische Flüchtlinge verrotten im Gefängnis, eine Luftlinie wünscht nur jüdische Reisende an Bord, und in unsern Hinterhöfen kämpft eine ganze Nation gegen einen israelischen Stiefel, der immer rücksichtsloser und brutaler wird. Und über allem schwebt die schreckliche Frage: wollen wir wirklich Frieden? Wollen wir wirklich in einem gerechten und sympathischen Land leben? Oder heißt die traurige Wahrheit, dass die Gier nach Land und Macht uns blind und taub dafür gemacht hat, nicht mehr in der Lage zu sein, Fragen zu stellen?

Übersetzung: Ellen Rohlfs

Veröffentlicht am

27. Juni 2006

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