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Chomsky-Interview: Die Integration Lateinamerikas

Von Noam Chomsky und Bernie Dwyer - ‘Radio Havana Cuba’-Interview / ZNet 07.03.2006

Ich musste gerade an ein großartiges irisches Lied denken: ‘The West’s Awake’ 1 von Thomas Davis. Das Lied erinnert an den Aufstand der Fenians im Jahre 1798. Westirland, seit Jahrhunderten von Großbritannien beherrscht, liegt in tiefem Schlummer. Dann erwacht es plötzlich und steht gegen seine Unterdrücker auf. Kann man anfangen zu hoffen, dass jetzt auch der globale Süden erwacht?

Was sich hier abspielt, ist etwas völlig Neues in der Geschichte der Hemisphäre. Seit Eroberung durch die Spanier waren die lateinamerikanischen Länder weitgehend voneinander abgetrennt und auf die Imperialmacht hinorientiert. Zudem existiert eine scharfe Trennlinie zwischen jener kleinen Elite von Reichen und der großen, leidenden Masse der Bevölkerung. Die Eliten transferierten ihr Kapital, sie reisten, hatten einen Zweitwohnsitz und schickten ihre Kinder zum Studium in irgendein europäisches Land, mit dem ihr Staat enge Beziehungen unterhielt. Was ich sagen will, selbst das Transportwesen war auf das Ausland hin ausgerichtet: Export, Ressourcen usw..

Nun, zum erstenmal, startet eine Integration (Lateinamerikas) - und zwar sehr divers. Ein Beispiel sind Kuba und Venezuela, ein anderes der MERCOSUR. Letzterer funktioniert noch nicht sonderlich gut. Vor kurzem trat Venezuela dem MERCOSUR bei - ein großer Schritt vorwärts und ein Schritt, der von den Präsidenten Brasiliens und Argentiniens sehr begrüßt wurde.

Zum erstenmal wird die indianische Bevölkerung politisch ziemlich aktiv. In Bolivien hat sie gerade eine Wahl gewonnen - wirklich sehr bemerkenswert. In Ecuador gibt es einen starken indigenen Anteil an der Bevölkerung, selbst in Peru. Manche fordern schon eine Indio-Nation. Sie wollen die eigenen Ressourcen selbst kontrollieren. Im Grunde aber wollen viele Indios nicht einmal die Entwicklung ihrer Ressourcen. Viele können der Zerstörung ihrer Kultur, ihrer Lebensart, nichts abgewinnen - nur, damit in New York ein paar Leute in den Genuss eines Verkehrsstaus kommen.

Noch etwas kommt hinzu: Man hat begonnen, den Internationalen Währungsfonds 2 rauszukicken. In der Vergangenheit waren die USA in der Lage, unangenehme Entwicklungen - wie etwa lateinamerikanische Unabhängigkeitsbestrebungen - gewaltsam zu unterbinden. Man unterstützte einen Militärputsch oder Einmarsch, Subversion usw.. Heute funktioniert das nicht mehr so einfach. Das letzte Mal, dass es die USA versucht haben, war 2002 in Venezuela. Sie mussten sich den enormen Protesten in Lateinamerika geschlagen geben. Der Staatsstreich wurde natürlich im Land selbst vereitelt - etwas ganz Neues.

Sollten die Vereinigten Staaten ihre ökonomische Kontrollwaffe tatsächlich verlieren, so würde sie das enorm schwächen. Argentinien schafft sich den IWF praktisch gerade vom Hals - wie sie das ausdrücken -, indem es seine Schulden an ihn zurückzahlt. Das Land hatte die Regeln des Internationalen Währungsfonds befolgt - mit äußerst verheerenden Folgen. Venezuela unterstützt Argentinien, indem es einen Teil der argentinischen Schulden aufkauft.

Genauso wird wohl auch Bolivien verfahren. 25 Jahre lang hatte sich das Land streng an die Regeln des IWF gehalten. Heute ist das bolivianische Prokopfeinkommen niedriger als vor 25 Jahren. Davon will man nun loskommen. Die anderen Länder machen es ebenso. Im Prinzip ist der IWF nichts anderes als das Schatzamt der USA. Er ist eine ökonomische Kontrollwaffe. Zusammen mit der Waffe des Militärs dient der IWF zur Aufrechterhaltung der Kontrolle - eine Waffe, die zerbröselt.

All dies geschieht auf dem Hintergrund äußerst substantieller Volksbewegungen. Früher wurden solche Volksbewegungen - falls es sie überhaupt gab -, mit Gewalt, mit Staatsterror und mit ‘Operation Kondor’ (also mit einer Monstrosität nach der andern) zerschlagen. Diese Waffen stehen nun nicht mehr zu Verfügung.

Darüber hinaus hat eine Süd-Süd-Integration eingesetzt. Brasilien, Südafrika und Indien bauen Beziehungen auf.

Bei all diesen Vorgängen sind die Kräfte, die hinter den Kulissen Druck ausgeübt haben, erneut jene internationalen Organisationen des Volkes - Organisationen, wie es sie zuvor noch nie gab. Sie treffen sich einmal pro Jahr beim Weltsozialforum. Die bislang stattgefundenen WSFs haben inzwischen viele regionale Sozialforen hervorgebracht. Hier in Boston existiert auch eins - wie an vielen Orten. Hierbei handelt es sich um machtvolle, historisch beispiellose Massenbewegungen - im Grunde ist es die erste echte Internationale. Immer war vonseiten der Linken ja von ‘Internationalen’ die Rede, nur, dass es sie nie gab. Aber das hier ist der Beginn einer Internationalen.

All diese Entwicklungen sind extrem wichtig. Für die Planer auf US-Seite sind sie ein wahrer Alptraum. Ich meine, die Monroe-Doktrin existiert mittlerweile seit 180 Jahren. Aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg waren die USA mächtig genug, sie durchzusetzen - sieht man von angrenzenden Regionen einmal ab. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die USA in der Lage, die Briten und Franzosen rauszuwerfen und die Doktrin umzusetzen. Mittlerweile kollabiert die Monroe-Doktrin. Die Länder (Lateinamerikas) sind gerade dabei, ihre internationalen Beziehungen zu diversifizieren - auch im kommerziellen Bereich. Sie exportieren viel nach China, umgekehrt werden chinesische Investitionen akzeptiert. Das gilt insbesondere für Venezuela, aber auch für andere große Exportnationen, wie Brasilien oder Chile. China ist sehr darauf bedacht, Zugang auch zu anderen lateinamerikanischen Ressourcen zu erhalten.

Anders als Europa kann man China nicht einschüchtern. Wenn die USA Europa einen schiefen Blick zuwerfen, zieht es gleich den Schwanz ein, aber China existiert seit 3000 Jahren. China sind die Barbaren egal, warum auch nicht? Die USA fürchten China. China stellt für niemanden eine militärische Bedrohung dar. China ist die unaggressivste unter den großen Militärmächten. Andererseits kann man China kaum einschüchtern - im Grunde überhaupt nicht. Die Interaktionen zwischen China und Lateinamerika bereiten den USA Angst. Hinzu kommt, dass Lateinamerika seine Wirtschaftsbeziehungen auch zu Europa verbessert hat. Und, China und Europa sind mittlerweile die weltweit größten (gegenseitigen) Handelspartner.

Aufgrund all dieser Entwicklungen schwinden die Dominanzmöglichkeiten des US-amerikanischen Weltsystems. Für die USA ist es ziemlich normal, ihre stärkste Karte auszuspielen - die militärische Karte. Militärisch gesehen kann niemand Amerika das Wasser reichen. Der amerikanische Militärhaushalt hat rund den halben Umfang aller anderen Militärhaushalte zusammen, und die amerikanische Militärtechnologie ist viel moderner. Wenn wir uns allein Lateinamerika anschauen, so befindet sich dort wahrscheinlich mehr US-amerikanisches Militärpersonal als zu irgendeinem Zeitpunkt während des Kalten Kriegs. Die Ausbildung lateinamerikanischer Offiziere nimmt rasant zu.

Inzwischen fällt das Training der Militäroffiziere nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich des US-Außenministeriums sondern in den des Pentagons - eine nicht unwesentliche Tatsache. Schließlich steht das Außenministerium unter (allerdings sehr eingeschränkter) Kontrolle des US-Kongresses. Was ich meine, es gibt amerikanische Gesetze, die die Einbeziehung von Menschenrechtsgesichtspunkten erforderlich machen usw.. Diese Gesetze werden zwar nicht sehr konsequent angewandt, aber immerhin, es gibt sie. Das Pentagon hingegen kann tun und lassen, was es will. Hinzu kommt, die Kontrolle über das (Offiziers-)Training wird auf Ebenen vor Ort verschoben. Ein Hauptangriffsziel ist der “radikale Populismus” - wie sie das nennen. Wir wissen, was das heißen soll, und die USA installieren überall in der Region Militärbasen.

Wenn man Sie so reden hört, könnte man meinen, die USA verlieren den Krieg ideologisch und kompensieren durch eine gesteigerte Militärpräsenz in der Region. Glauben Sie, dass Kuba eine Schlüsselrolle spielt - was Ermutigung, vielleicht sogar Beeinflussung dieser Entwicklungen angeht, die wir jetzt in Lateinamerika erleben?

Was immer man von ihm halten mag, in Lateinamerika gilt Fidel Castro als Held - vor allem, weil er den USA Paroli bietet. Es ist das erstemal in der Geschichte dieser Hemisphäre überhaupt, dass jemand den USA Paroli bietet. Niemand lebt gerne unter einem Reitstiefel, aber was kann man machen? Schon allein deshalb ist Fidel Castro ein lateinamerikanischer Held, Chavez ebenso.

Sie kommen zurecht auf den Punkt ‘Ideologie’ zu sprechen. Es geht um die Auswirkungen des Neoliberalismus. Dabei fällt auf, dass in den vergangenen 25 Jahren diejenigen Länder, die sich an die Regeln des Neoliberalismus gehalten haben, eine wirtschaftliche Katastrophe durchmachten - in der Mehrzahl der Fälle, kann man so sagen -, während jene, die sich nicht um die Regeln scherten, wuchsen, sich entwickeln konnten. So hat sich Ostasien ziemlich rasant entwickelt, indem es die Regeln total ignorierte. Von Chile wird zwar behauptet, es sei eine Marktwirtschaft, diese Annahme ist jedoch reichlich abwegig: Chiles Hauptexportprodukt hat etwas mit einem staatlichen Kupferunternehmen zu tun, das sehr effizient arbeitet - ein Unternehmen, das unter Allende verstaatlicht wurde. Eine derart klare Korrelation hat man in der Wirtschaft selten: Befolgung der Richtlinien des Neoliberalismus gleich ökonomische Niederlage, Verstoß gegen diese Richtlinien gleich wirtschaftlicher Erfolg, so wird assoziiert. Daran führt kaum ein Weg vorbei - außer für einige Ökonomen vielleicht, aber nicht für die Menschen. Die Menschen leben diese Realität. Ja - dagegen kommt es zum Aufstand; Kuba ist ein Symbol, Venezuela ist ein Symbol und Argentinien - das sich von der IWF-Katastrophe erholt hat, indem es gegen die IWF-Regeln verstieß, sie gröblich verletzte und den IWF schließlich rauswarf. Das ist die ideologische Seite der Medaille. Internationaler Währungsfonds - lediglich der Name für eine ökonomische Waffe zur Erzeugung von Dominanz, aber diese Waffe zerfällt.

Was lässt Sie eigentlich daran glauben, dass die Bewegung, die wir heute sehen, sich von den Kämpfen der Vergangenheit unterscheidet - wie in Chile, zum Beispiel, als die Chilenen ihre Militärdiktatur erfolgreich stürzten? Wieso sollten wir heute mehr Grund zur Hoffnung haben - in diesem besonderen Stadium der Befreiung Lateinamerikas?

Zunächst einmal war Lateinamerika in den 60er Jahren eine hoffnungsvolle Region, aber diese Hoffnung wurde gewaltsam zerstört. Chile war auf dem Weg zu einer Art demokratischem Sozialismus - wir wissen, was dann passierte. Der erste 11. September war der 11. September 1973 - der erste absolute Katastrophentag mit diesem Datum. Die Horrorstory der chilenischen Diktatur war auch in ökonomischer Hinsicht eine Katastrophe. Chile erlebte die schlimmste Rezession in der Geschichte des Landes. Dann übergab das Militär die Macht wieder an zivile Kräfte. Noch immer hat sich Chile nicht vollständig befreien können. Nur teilweise hat es sich von der Militärdiktatur befreit. Auf andere Länder (in Lateinamerika) trifft das in noch stärkerem Maße zu.

Ich erinnere mich an eine Reise durch Argentinien und Chile vor ein paar Jahren. Ein Standardwitz in beiden Ländern ging so: Wir, die Menschen, wünschten uns, das chilenische Militär wäre so dumm gewesen, Frankreich oder einer anderen Großmacht den Krieg zu erklären. Die hätte das chilenische Militär vernichtend geschlagen und somit diskreditiert. Das Volk wäre befreit gewesen - siehe Argentinien, wo sich das Militär durch seine militärische Niederlage (im Falklandkrieg gegen Großbritannien - Anmerkung d. Übersetzerin) selbst diskreditiert hat.

In all diesen Ländern - Argentinien, Brasilien, Bolivien, überall - konnte sich jedoch ein langwieriger Prozess etablieren, in dessen Verlauf die dominanten Diktaturen - Militärdiktaturen (die fast immer die Unterstützung der USA hatten, manchmal sogar von ihnen installiert worden waren) -, gestürzt wurden.

Heute unterstützen sich die Länder gegenseitig, und die USA können nicht mehr zu denselben Mitteln greifen wie zuvor.

Nehmen wir zum Beispiel Brasilien: Hätte Lula im Jahr 1963 kandidiert, die USA wären mit ihm verfahren wie mit dem damaligen Präsidenten Goulart. Die Regierung Kennedy plante für Brasilien eine Militärdiktatur. Also gab es einen Militärputsch - und das Problem war erledigt. Das Gleiche hat sich überall in der Hemisphäre abgespielt.

Heute sieht alles viel hoffnungsvoller aus - sie kämen heute nicht mehr durch damit -, und es gibt Kooperation. Zudem lässt sich Bewegung erkennen: in Richtung eines gewissen Maßes an Unabhängigkeit auf politischer, ökonomischer und sozialpolitischer Ebene, hinsichtlich der Kontrolle über die eigenen Ressourcen sowie hinsichtlich der Verankerung sozialer Veränderung (Veränderung, die die ebenso riesigen wie furchtbaren hausgemachten Probleme Lateinamerikas überwinden könnte). Ein wesentlicher Teil der Probleme Lateinamerikas sind hausgemacht. Die Reichen Lateinamerikas hatten noch nie irgendwelche Verantwortung zu tragen. Sie machen einfach, was sie wollen.

Anmerkung d. Übersetzerin:

1 Liedtext siehe www.celtic-lyrics.com

2 Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF) war von 2000 bis 2004 der heutige deutsche Bundespräsident Horst Köhler

Quelle: ZNet Deutschland vom 10.03.2006. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: Latin American Integration

Veröffentlicht am

11. März 2006

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