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Die Atomlobby verhöhnt die Opfer

Neue Studie zu den Auswirkungen der Tschernobyl-Katastrophe

Von Christina Hacker

Die Auswirkungen des Größt-Anzunehmenden-Unfalls (GAU) im Atomkraftwerk Tschernobyl seien geringer als bisher angenommen, behauptet ein internationales Wissenschaftlergremium in einem im September 2005 vorgelegten Bericht. Fast 20 Jahre nach der Katastrophe präsentiert das so genannte Tschernobyl-Forum unter Federführung der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) das angeblich “wahre Ausmaß des Unfalls” mit dem Tenor: “Alles gar nicht so schlimm”.

Neben der IAEA waren sechs weitere große UN-Behörden an der Studie beteiligt: die Weltgesundheitsorganisation (WHO), UNDP (United Nations Development Programme), FAO (Food and Agriculture Organization), UNEP (United Nations Environment Programme), UN-OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs), und UNSCEAR (United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation). Auch die Regierungen von Weißrussland, Russland und der Ukraine und nicht zuletzt die Weltbank gehören dem Tschernobyl-Forum an. Die 600 Seiten umfassende Studie “Tschernobyls Vermächtnis” behandelt die gesundheitlichen, ökologischen und sozioökonomischen Folgen der Katastrophe. 1

Opferzahlen schöngerechnet

Mehr als 100 Wissenschaftler erarbeiteten die neuen Ergebnisse und präsentierten sie einer erstaunten Öffentlichkeit, war doch bislang in den Medien ein ganz anderes Bild der Tschernobyl-Auswirkungen gezeichnet worden. Dem Bericht zufolge werden von den mehr als 200.000 Katastrophenhelfern, die 1986 und 1987 mit Aufräumarbeiten in Tschernobyl beschäftigt waren, bis zu 2.200 wegen der radioaktiven Belastung früher sterben, als es ihrer Lebenserwartung entspräche. Zusammen mit den nächsten Anwohnern des havarierten Reaktors könnte die Gesamtzahl der durch den Reaktorunfall geforderten Todesopfer auf 4.000 steigen. Bis Mitte 2005 seien weniger als 50 Todesfälle direkt der Strahlung zuzuordnen.

Dies widerspricht Studien unabhängiger Experten, die gezeigt haben, dass Tschernobyl bereits heute deutlich mehr Todesopfer verursacht hat als im Bericht prognostiziert und ein Ende noch nicht in Sicht ist. Die ukrainische Gesundheitsbehörde sprach bereits im Jahr 2002 von 15.000 Todesopfern unter den Liquidatoren.

Anstieg von Schilddrüsenkrebs bei Erwachsenen ignoriert

Der Bericht führt weiter an, dass der Unfall zwar etwa 4.000 Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern verursacht hat, allerdings liege die Heilungschance bei 98,8 Prozent. Dass die Erkrankungsrate bei Erwachsenen drastisch angestiegen ist, wird im Bericht mit keinem Wort erwähnt. Nach Informationen des Otto-Hug-Strahleninstituts in München ist bei Patienten der Altersgruppe der heute 18 bis 35-Jährigen, die zum Zeitpunkt der Katastrophe Kinder waren, ein deutlicher Anstieg zu erkennen. …

Anstieg von Leukämie und anderen Krebsfällen geleugnet

Weiter verneint die Studie, dass andere Krebsarten infolge des Tschernobyl-Unfalls angestiegen seien. Dr. Michael Repacholi, Manager des WHO-Strahlenprogramms, resümiert, dass das internationale Expertenteam abgesehen von den 4.000 Schilddrüsenfällen keine Anzeichen einer Erhöhung von Leukämie- und anderen Krebserkrankungen bei den betroffenen Bürgern gefunden habe. 2 Diese Aussage wurde bereits von mehreren unabhängigen Wissenschaftlern widerlegt (s. auch Umweltnachrichten 98/2003 oder Umweltinstituts-Webseite “Radioaktivität” —> “Tschernobyl-Folgen”). Selbst die IAEA räumte im Jahr 2000 ein, dass eine ganze Reihe von Krankheiten bei der betroffenen Bevölkerung augenfällig sei, auch Leukämie und andere Krebsarten seien vermehrt beobachtet worden.

Alles nur Einbildung?

Schließlich heben die Autoren der Studie hervor, dass mehrere 100.000 Betroffene an psychischen Folgen des Unfalls leiden. Es wird von Stress-Symptomen, Depression, Angst und medizinisch nicht erklärbaren Krankheitssymptomen sowie selbstdiagnostiziertem schlechten Gesundheitszustand berichtet.

Die Bezeichnung “Opfer” anstatt “Überlebende” hätte ebenfalls dazu beigetragen, dass sich die Betroffenen selbst als hilflos mit unbestimmter Zukunft sehen. Dies würde bei manchen zu einem übervorsichtigen Lebensstil, bei anderen zu völlig unbekümmertem Verhalten führen. Armut wie auch psychische Erkrankungen vor allem bei den 350.000 Evakuierten würden eine weit größere Bedrohung darstellen als die Strahlung. Nicht zuletzt hätten anhaltende Mythen und eine Fehleinschätzung der Bedrohung durch radioaktive Strahlung zu einem lähmenden Fatalismus geführt. Nicht die Strahlung sei schuld am zunehmend schlechten Gesamtzustand der Bevölkerung, sondern Hysterie und eine regelrechte “Radiophobie”.

In dieses Horn bläst auch Dr. Mikhail Balonov, wissenschaftlicher Geschäftsführer des Tschernobyl-Forums: “In den meisten Gebieten herrschen wirtschaftliche und psychologische Probleme vor, und nicht so sehr gesundheitliche oder ökologische”2. Auch bezüglich der Umweltverseuchung gibt Balonov Entwarnung: Abgesehen von der hochkontaminierten Sperrzone, die im Radius von 30 Kilometern um den Reaktor verläuft, und einigen gesperrten Seen und Wäldern habe die radioaktive Belastung im Großen und Ganzen wieder ein akzeptables Niveau erreicht.

Die Atomlobby wäscht sich rein

Die Arroganz gegenüber dem Leiden der Betroffenen ist schier unerträglich. Wenn man die am Bericht beteiligten Organisationen genauer betrachtet, wird allerdings klar, dass diese “Wahrheit” über die Tschernobyl-Folgen nur subjektiv ausfallen kann. Der Bericht trägt die deutliche Handschrift der Atomlobby, schreibt sich doch die maßgeblich beteiligte IAEA die weltweite Förderung der Atomenergienutzung auf ihre Fahnen.

Kurz vor dem 20. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe soll offenbar die Meldung lanciert werden, dass selbst bei einem GAU die Schäden überschaubar bleiben und also die Stromgewinnung aus Atomkraftwerken ein durchaus duldbares Risiko beinhaltet. Der Direktor der Würzburger Uniklinik und Leiter der Nuklearmedizin, Professor Christoph Reiners, untermauert diese Vermutung: Bei Strahlenunfällen schwinge immer eine “unbestimmte Angst” mit. Im Grunde aber sei Tschernobyl “in seinem Ausmaß eine Katastrophe, die mit anderen Industrie-Katastrophen vergleichbar ist”. 3 Diese vermutlich eher beruhigend gemeinte Aussage ist Wasser auf die Mühlen der Atomlobby in ihrem derzeitigen Bestreben, die Atomenergienutzung wieder hoffähig zu machen. Tatsächlich könnte man Tschernobyl mit Industrie-Katastrophen wie Seveso oder Bhopal vergleichen, die in ihrem Ausmaß und den Langzeitwirkungen auf die Gesundheit der betroffenen Bevölkerung verheerend waren und noch immer sind. Tatsächlich können Katastrophen dieser Art genauso Angst auslösen wie ein atomarer GAU. Mit solchen vermeintlichen Verharmlosungen soll die Bevölkerung beschwichtigt werden.

Für den WHO-Manager Repacholi ist denn auch “das Ergebnis der Studie insgesamt beruhigend.” “Die gesundheitlichen Auswirkungen des Unfalls waren möglicherweise entsetzlich (potentially horrific), aber wenn man sie unter Einbeziehung gültiger Schlussfolgerungen aus gut belegten Forschungen (good science) aufsummiert, waren die Folgen für die Gesundheit nicht annähernd so tiefgreifend, wie ursprünglich befürchtet”. 2

Auch Burton Bennett, Strahlenexperte und Vorsitzender des Tschernobyl-Forums, kommt zu einer ähnlichen Einschätzung: “Es war ein sehr schwerer Unfall mit ernsthaften gesundheitlichen Folgen, besonders für tausende Arbeiter, die in den ersten Tagen sehr hohen Dosen an radioaktiver Strahlung ausgesetzt waren und für weitere Tausende, die unter Schilddrüsenkrebs leiden. Im Großen und Ganzen aber haben wir keine wesentlichen negativen gesundheitlichen Auswirkungen beim Rest der Bevölkerung in den umliegenden Gebieten festgestellt und haben auch keine weitreichende Kontamination gefunden, die noch immer eine ernsthafte Bedrohung für die menschliche Gesundheit darstellt, abgesehen von einigen wenigen begrenzten Gebieten.” 2

Bilanz noch nicht möglich

Heute bereits Bilanz zu ziehen und zu behaupten, dass die Reaktorkatastrophe weniger Menschen das Leben gekostet hat als befürchtet, ist nicht seriös. Die meisten der im Bericht zitierten Studien stützen sich auf Zahlen aus den 1990er Jahren. Die Latenzzeiten für Krebs außer Leukämie betragen bekanntlich zwischen zehn und dreißig Jahre. Es ist also noch viel zu früh, um einen deutlichen Anstieg der allgemeinen Krebsrate aufzeigen zu können. Bester Beleg dafür ist, dass heute, 60 Jahre nach den Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki, noch immer die Daten der Überlebenden ausgewertet werden. Das “wahre Ausmaß des Unfalls” - wie es der Bericht suggeriert - kann also noch lange nicht abschließend beurteilt werden.

Auch das Bundesamt für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) kritisiert die Tschernobyl-Studie. Nach seiner Ansicht werden in dem Bericht die Folgen des Reaktorunglücks verharmlost. Bei der Aussage, es könnten insgesamt etwa 4.000 Menschen an den Folgen des Unfalls sterben, handelt es sich lediglich um eine Risikoabschätzung auf der Basis der Strahlenerkenntnisse von Hiroshima und Nagasaki. Nach ersten Erkenntnissen des BMU sind in der Studie die tatsächliche Dosisermittlung und die damit verbundenen Folgen für Leben und Gesundheit für die betroffene Bevölkerung im Einzelnen gar nicht betrachtet worden, so dass die Aussagen weder hinreichend belastbar noch plausibel sind. 4

Die Gefahr ist nicht geringer geworden

Die Atommeiler sind inzwischen nicht sicherer geworden. Insbesondere osteuropäische Atomanlagen sind teilweise in einem katastrophalen Zustand, sicherheitstechnische Nachrüstungen können mangels Finanzen nicht oder nur unzureichend durchgeführt werden. Besonders beunruhigend ist, dass heute noch immer 16 mit dem Unfallreaktor Tschernobyl baugleiche Reaktoren am Netz sind, einer in Litauen und 15 in Russland.

Katastrophe durch Unfall oder Terroranschlag nicht auszuschließen

Aber auch die deutschen Energiekonzerne scheuen sich, ihre Atomkraftwerke sicherheitstechnisch nachzurüsten. Der so genannte Atomkonsens hat ihnen eine verbindliche und weitgehend ungestörte Restlaufzeit zugesichert, Kosten müssen also möglichst gering gehalten werden, die längst abgeschriebenen Meiler sollen schließlich Gewinne erwirtschaften. Ein katastrophaler Unfall ist deshalb auch hierzulande nicht auszuschließen. Außerdem wird seit dem 11. September 2001 ein terroristischer Angriff auf Atomanlagen als reale Gefahr eingeschätzt, wie schon mehrfach aus Geheimdienstkreisen verlautete.

Das Umweltinstitut München e.V. wird sich auch weiterhin dafür einsetzen, dass der Atomausstieg in Deutschland zügig vollzogen wird. Vor allem darf es keine Betriebsverlängerungen für alte und störanfällige Reaktoren, die noch nicht einmal den Absturz eines kleinen Verkehrsflugzeuges aushalten, geben. Auch in Zukunft werden wir kontinuierlich die Umgebungsradioaktivität überwachen, Messungen von Umweltproben durchführen und vor allem unabhängig informieren.


Verkehrte Welt?

Der Friedensnobelpreis geht in diesem Jahr zu gleichen Teilen an die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) und ihren Generalsekretär Mohammed el-Baradei. Ausgezeichnet werden damit die “Bemühungen zu verhindern, dass die Nuklearenergie für militärische Zwecke genutzt wird, und zu gewährleisten, dass die Atomenergie für friedliche Zwecke so sicher wie möglich eingesetzt wird”, so die Begründung des Komitees. Genau darin liegt aber die Schizophrenie der IAEA, denn wer die zivile Atomtechnik fördert, öffnet zwangsweise Tür und Tor für die Atomwaffenprogramme. Einerseits soll die militärische Nuklearnutzung verhindert werden, andererseits wird durch die satzungsgemäße Förderung des Ausbaus der Atomkraft indirekt die Weiterverbreitung von Atomwaffen begünstigt. Eine Trennung ist nicht möglich, wie in den letzten Jahren neue, “illegale” Atomwaffenstaaten immer wieder bestätigten. Es mag eine politische Entscheidung sein, um die Notwendigkeit der Abrüstung von Atomwaffen zu unterstreichen. Ob dieses Kalkül aufgeht, ist fraglich. Das Nachsehen hatte die Organisation der japanischen US-Atombombenopfer von Hiroshima und Nagasaki, die ebenfalls nominiert war. Zum 60sten Jahrestag der Atombombenabwürfe wäre der Preis bei dieser Organisation besser platziert gewesen.


Anmerkungen:

1 The Chernobyl Forum: Chernobyl´s Legacy: Health, Environmental and Socio-economic Impacts. IAEA, Wien, September 2005

2 International Atomic Energy Agency, World Health Organization, United Nations Development Programme: Chernobyl: The True Scale of the Accident. Press Release, September 5, 2005

3 Schweinfurter Tagblatt vom 15.9.2005

4 Pressemitteilung Nr. 236/05 des BMU vom 7.9.2005

Quelle: Umweltinstitut München e.V. vom 20.01.2006. Zuerst veröffentlicht in der Mitgliederzeitschrift des Umweltinstituts München “Umweltnachrichten”, Ausgabe 102/ Dezember 2005.

Veröffentlicht am

10. Februar 2006

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