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The proof of the pudding …

Was heißt und zu welchem Ende betreiben wir Kapitalismuskritik?

Von Elmar Altvater - Abschiedsvorlesung am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, gehalten am 18. Januar 2006

Wem britischer Empirismus nicht gänzlich fremd ist und wer noch nicht angesichts des über uns hereinstürzenden Mozart-Trubels im Mozart-Jahr 2006 vergessen hat, dass wir 2005 das “Schillerjahr” begangen haben, wird wissen, dass der Titel “The proof of the pudding…” die erste Hälfte eines englischen Sprichwortes ist - und der Untertitel dieser Abschiedsvorlesung den der Antrittsvorlesung von Friedrich Schiller paraphrasiert. Er hat sie am 26. Mai des Revolutionsjahres 1789 an der Universität Jena gehalten.

Schiller fragte: “Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?” Kapitalismuskritik lag dem idealistischen Geist selbstverständlich fern, nicht nur weil es den Kapitalismus erst in sozusagen prototypischen Formen gab; Schiller wollte die große aufsteigende weltgeschichtliche Linie “vom ungeselligen Höhlenbewohner… zum geistreichen Denker, zum gebildeten Weltmann” zeigen. Er beabsichtigte zu studieren, wie “sich unser Geist aus der Unwissenheit herausringen sollte” oder - wie Kant formulierte - wie er sich aus der “selbstverschuldeten” Unmündigkeit befreit.

Für dieses Studium benutzte Schiller eine implizite Vier-Felder-Matrix. Auf der Abszisse unterschied er zwischen “Brotgelehrten” und “philosophischen Köpfen”. Die ersteren, das sind mehr oder weniger wissenschaftliche Politikberater, deren geistiger Horizont kein Fünkchen weiter reicht als der ihrer Auftraggeber. Heute würden wir auch die Vielzahl der Karrieristen in der Zunft hinzu zählen, die Kapitalismuskritik nicht deshalb unterschlagen, weil der Kapitalismus sich bis zur Unkenntlichkeit verändert hätte, sondern weil dies dem Fortkommen in der akademischen Welt schädlich sein kann. Von diesen Brotgelehrten unterscheidet Schiller jene Geister, deren “Bestrebungen auf Vollendung (des) Wissens” gerichtet sind.

Der belesene Karl Marx hat Schillers Antrittsvorlesung und seine anderen, von seinem Freund Engels so bezeichneten “Philisterschwärmereien” wohl gekannt. Es gibt durchaus Ähnlichkeiten in der Interpretation von Geschichte. Schiller charakterisiert den Universalhistoriker als jemanden, der “von der neuesten Weltlage aufwärts dem Ursprung der Dinge entgegen(rückt)”. Marx bemerkt in der Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie, die “Anatomie des Menschen… (sei) ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. Die Andeutungen auf Höhres in den untergeordneten Tierarten können… nur verstanden werden, wenn das Höhere selbst schon bekannt ist. Die bürgerliche Ökonomie liefert so den Schlüssel zur antiken etc. Keineswegs aber in der Art der Ökonomen, die alle historischen Unterschiede verwischen und in allen Gesellschaftsformen die bürgerlichen sehen.”

Beide - der idealistische Schiller und der materialistische Marx - sind vom Fortschritt der menschlichen und gesellschaftlichen Entwicklung überzeugt. Schiller mit Emphase, die aus heutiger Sicht nur mit historischer Fantasie nachvollziehbar ist, Marx mit deutlich kritischer Distanz und politischer Leidenschaft für die “leidende Menschheit”, über die er in seinen Frühschriften schreibt.

Marx hatte, als er 1857 die Kritik der Politischen Ökonomie schrieb, schon Erfahrungen mit dem damals am höchsten entwickelten Kapitalismus in England gemacht und sang im Kommunistischen Manifest einerseits eine Hymne auf den Fortschritt der bourgeoisen Ordnung im Vergleich zur Dumpfheit des europäischen Feudalismus. Andererseits analysierte er in aller Schärfe die Destruktivität der neuen kapitalistischen Gesellschaft, für ihn keineswegs eine Gesellschaftsformation in einer aufsteigenden, universalgeschichtlich zu identifizierenden Aufeinanderfolge von Zivilisationen.

Wettlauf der Besessenen

England ist damals in jeder Hinsicht Vorreiter-Nation. Sowohl die ökonomische Entfaltung als auch die sozialen Verwerfungen und die Zerstörung von Lebensbedingungen zeigen “dem minder entwickelten Land nur das Bild der eigenen Zukunft”, vermerkt Marx 1867 im Vorwort zur ersten Auflage des Kapitals (Band I). Das könnte auch von einem Modernisierungstheoretiker der sechziger Jahre geschrieben worden sein, zumal Marx noch hinzufügt: “Eine Nation soll und kann von der andern lernen”. Doch finden wir auch den Verweis darauf, dass als Folge der “jetzt möglich gewordene(n) und täglich sich mehr und mehr herstellende(n) Ausdehnung der Märkte zum Weltmarkt… eine neue Phase der geschichtlichen Entwicklung” (Die deutsche Ideologie) eingeleitet und damit eine neue Einheit der Analyse entstanden sei: der Weltmarkt. Den herzustellen und die kapitalistische Produktionsweise zu propagieren, sei “unmittelbar im Begriff des Kapitals selbst gegeben”, schreibt Marx in den Grundrissen. Kapitalismus kann also als nationaler Kapitalismus nur so lange konzipiert und daher auch verglichen werden, wie er noch nicht auf seinen Begriff gekommen ist, wie die Produktionsweise noch nicht global propagiert worden ist.

Das globale System verändert sich, wenn immer mehr Nationen dem Vorbild der am meisten entwickelten kapitalistischen Gesellschaften folgen. Heute ist dies offensichtlich. Der Globus ist zu klein, um alle Ressourcenansprüche der aufstrebenden Nationen zu befriedigen oder die zunehmenden Emissionen, die Abfälle, die Abwässer, die Abluft - die Kuppelprodukte des kapitalistischen Produktionssystems - zu verkraften. Die Konkurrenz auf den Märkten wird immer heftiger und das Streben nach Konkurrenzfähigkeit löst ein regelrechtes Rattenrennen, einen “Wettlauf der Besessenen” aus. Auf dem Siegertreppchen stehen nur wenige Nationen, viele landen im Straßengraben und können sich nur schwer, und einige nie erholen.

Mehrere Fragen kommen nun auf. Was bringt den Kapitalismus auf seinen Begriff, welches ist eigentlich der Motor der “propagandistischen Tendenz”? Es handelt sich dabei wohl kaum um das Resultat des Denkens eines philosophischen Geistes, sondern um praktische Prozesse der Gesellschaftsveränderung. Entscheidend sind die neuen Techniken der industriellen Revolution, die umfassende Nutzung der fossilen Energieträger.

Die Geschichte seit der von Marx so bezeichneten “reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital”, also seit der industriellen und fossilistischen Revolution ist einzigartig. Dies zeigt sich schon daran, dass die langsame Evolution allen Lebens und der Gesellschaften seit der industriellen Revolution von beschleunigtem Wachstum der Wirtschaft überlagert wird. Der norwegische Statistiker Angus Maddison hat in einer “Millenniumsstudie” für die OECD ausgerechnet: Das jährliche Wachstum der Wirtschaft seit der industriellen Revolution bis heute war mit rund 2,2 Prozent mehr als zehn mal höher als das Wachstum in den zwei Jahrtausenden zuvor.

Satansmühlen

Die soziale Formation des Kapitalismus hat sich die aus dem europäischen “Rationalismus der Weltbeherrschung” hervorgehende industrielle Technik und die Kräfte, die sie mobilisierten, zu Nutze gemacht. Den Platz der biotischen Energieträger nehmen fossile Energien ein. Ökonomisches Wachstum wird als Akkumulation des Kapitals in die Gesellschaftsformation eingeschrieben. Ganz anders als in vorkapitalistischen Gesellschaften gehört es so sehr dazu, dass Politiker nachgerade in Panik geraten, wenn wirtschaftliches Wachstum ausbleibt. Es wird wie ein Fetisch angebetet, obwohl Wachstum einen hohen Preis hat, gibt es doch soziale und ökologische Grenzen. Der “Zerstörungsprozeß”, den Marx am Ende des Kapitels über die “große Industrie” im I. Band des Kapitals erwähnt, enthält nicht den Hoffnungsschimmer des Schöpferischen in der Zerstörung, wie Joseph A. Schumpeter mit Blick auf technische Innovationen unterstellt. Kapitalistische Akkumulation untergräbt “die Springquellen allen Reichtums…: die Erde und den Arbeiter” (Marx).

Doch kann der ökonomische Akkumulations- und Wachstumsprozess nicht verstanden werden, wenn dessen destruktive soziale und ökologische Begleiterscheinungen jenseits des Horizonts wissenschaftlichen Interesses bleiben. Dynamik und Widersprüche des Kapitalismus werden nur die verstehen, die den Zusammenhang von Politik, Gesellschaft, Ökonomie und Natur - das gesellschaftliche Naturverhältnis studieren. Man kann daher in Depressionen geraten, verfolgt man die Mainstream-Debatten der Politischen Ökonomie hierzulande.

Marx zeigt in seinen berühmten, häufig missverstandenen Erklärungen über den Fetischcharakter von Ware und Geld, wie sehr die Weltwirtschaft als ein über die Menschen gekommener Sachzwang erscheint, obwohl sie wie der “feiticio” - der Begriff des Fetisch stammt aus dem Portugiesischen - von den Menschen gemacht worden ist. Die Sachzwanghaftigkeit hat sich bis tief ins Unterbewusste abgesenkt. Jeder der uns im Fernsehen beglückenden Analysten ist ein wandelnder Fetischist, “his masters voice”. Und die Herren sind die Märkte, die Finanzmärkte zumal, die wie denkende Subjekte behandelt, ja verehrt werden. Märkte sprechen, verlangen und erwarten, drohen und strafen, befriedigen und enttäuschen.

Die aus der Gesellschaft entbetteten Märkte sind “Satansmühlen”. Ihre Gewalt lässt sich erahnen, wenn man die Romane von Charles Dickens über das Elend der Arbeiterklasse (Oliver Twist) oder von Emile Zola über die frühen Finanzkrisen (Geld) liest oder die Berichte der Fabrikinspektoren zur Kenntnis nimmt, die Marx im Kapital ausgiebig zitiert.

Das Mahlwerk der Satansmühle läuft, doch gibt es soziale und politische Gegenbewegungen gegen die Zerstörung von Arbeitskraft und Natur. Die Gesellschaften wehren sich sozusagen und das System politischer Institutionen wird evolutionär, selten revolutionär (so schwer ist aufrechter Gang, kommentiert Ernst Bloch) verändert, um den “Satansmühlen” Sand ins Getriebe zu werfen. Dem Staat werden Regeln zum Schutz der Arbeitskraft “aufgeherrscht”, wie Marx im Kapital schreibt. Der moderne Wohlfahrtsstaat wird von den subalternen Klassen, von der in Parteien und Gewerkschaften organisierten Arbeiterklasse erkämpft. Mit ihm kommt die später so genannte “Ambivalenz des Reformismus” auf: Die sozialstaatlichen Errungenschaften müssen innerhalb des staatlichen Institutionensystems gegen jene Kräfte verteidigt werden, die das Rad der Geschichte immer wieder zurückdrehen wollen, die mit den “Sachzwängen” des Marktes Interessen des Kapitals durchzusetzen suchen.

Der Kompromiss hat ausgedient

Der moderne Wohlfahrtsstaat ist daher ein mächtiges Vehikel der Integration sozialer Bewegungen, und als er sich auch zum Interventionsstaat fortentwickelt, können die Krisen der kapitalistischen Ökonomie mit den Medien von Geld, Macht und Recht bearbeitet werden. Doch der Sozial- und Interventionsstaat war zugleich Nationalstaat. Wie wir aus den regulationstheoretisch beeinflussten Debatten über den “Fordismus” wissen, hat dieser einige Jahrzehnte im 20. Jahrhundert, in den Industrieländern bis in siebziger Jahre, verhältnismäßig gut, wenn auch nicht krisenfrei funktioniert.

Seitdem freilich befindet sich die Welt in einem tief greifenden Transformationsprozess von Wirtschaft, Gesellschaft, Politik. Es stellt sich heraus, dass die Gegenbewegungen gegen die Satansmühle vom Nationalstaat moderiert worden sind. Diesem kommt wie dem biblischen Samson, dem das Haar geschnitten wurde, die Kraft der politischen Regulation abhanden, als die “propagandistische Tendenz, den Weltmarkt herzustellen”, nicht mehr nur im Begriff des Kapitals “gegeben” ist, sondern in die Wirklichkeit des Kapitalismus überspringt. Die Globalisierung unterminiert seither die sozialstaatlichen Regulierungen von Nationalstaaten. Die politische Gegenbewegung gegen die Satansmühle entbetteter Märkte ist blockiert. Auf den Arbeitsmärkten nimmt die Arbeitslosigkeit zu, überall auf der Welt erodieren die Normalarbeitsverhältnisse, und die informelle Ökonomie expandiert. Damit sind die Voraussetzungen für den von Ralf Dahrendorf so genannten “institutionalisierten Klassenkompromiss” geschwunden.

Dieser Umschlag der Entwicklung seit den siebziger Jahren etwa hat die Machtstrukturen in der Welt radikal transformiert. Antonio Gramscis Begriff der Hegemonie erweist sich als besonders fruchtbar und nützlich, um die Veränderungen des Verhältnisses von Herrschenden und Beherrschten zu begreifen. Denn Hegemonie ruht nicht nur auf Macht, sondern auch auf Konsens, und hat daher zwei aktive Subjekte. Die Herrschenden, die sich der ökonomischen, militärischen etc. Machtmittel bedienen können, und die Beherrschten, die in ihren sozialen und politischen Praxen Kompromisse erzielen. Der so erzielte Konsens wird zwar “institutionalisiert”, ist aber nicht auf Dauer gestellt, auch wenn das Beharrungsvermögen von Institutionen nicht unterschätzt werden darf.

Es ist heute in Politik- und Sozialwissenschaften verbreitet, den dialektischen und aktiven Zusammenhang von Herrschen und Beherrschtsein mit Foucaults Kategorie der “gouvernementalité” zu analysieren. Danach ist der gesellschaftliche “Ort” der Auseinandersetzungen um Hegemonie vor allem die Zivilgesellschaft. Nur agieren auf globaler Ebene andere: Staaten, internationale Organisationen und Marktakteure wie transnationale Konzerne und Fonds.

Und worauf basiert ökonomische Macht in einer kapitalistisch geprägten Weltordnung? In erster Linie auf Eigentumsrechten an Produktionsmitteln, auf Geld- und Produktivvermögen, auf Grundbesitz und mehr denn je auf intellektuellem Eigentum - alles in nationalstaatlichen und mehr und mehr in internationalen Verträgen (WTO, GATS, BITs) sowie Hunderten von bilateralen Investitionsabkommen geregelt. Eigentum ist keine statische, vor allem juristische Kategorie. Es ist wertlos ohne Aneignung, daher kommt alles darauf an, den Prozess der Aneignung eines Überschusses, eines Mehrwerts in Produktion und Akkumulation sicher zu stellen. Mit den Mechanismen des Marktes wird der Überschuss in der Distributionssphäre umverteilt und deshalb von den mächtigen Nationen auf dem Weltmarkt schon immer das Lied des Freihandels gesungen, vor allem nachdem sie die Leiter, auf der ihnen andere Nationen - den Lehren der Modernisierungstheorie gehorchend - nachfolgen wollen, “weggekickt” haben.

Ein neues “Great Game”

Jede WTO-Handelsrunde ist ein Lehrstück über Freihandel als Ideologie und knallharte Interessenpolitik. Nicht minder gilt das für politischen Druck und militärische Gewalt. Sie werden mobilisiert, um die Aneignung zu sichern.

Wir sind Zeitzeugen von Terror, Folter und Kriegen. Das kapitalistische Weltsystem scheint in einem Dante´schen Chaos zu versinken, die glückliche “historische Fundsache”, die Kongruenz von Rationalität, Technik, Markt, kapitalistischen Formen und fossilen Energieträgern kommt abhanden - das Öl und andere fossile Brennstoffe gehen zur Neige. Vieles spricht dafür, dass der Höhepunkt der weltweiten Ölförderung (“Peakoil”) in wenigen Jahren überschritten sein wird. Und dies bei steigender Nachfrage, weil alle neu industrialisierenden Länder, vorrangig Indien und China, auf den Treibstoff von Wachstum, Produktivität, westlichem Konsummuster und Mobilität angewiesen und die bereits hoch entwickelten Länder in Nordamerika und Westeuropa ihrerseits kaum bereit und in der Lage sind, ihre Nachfrage zu drosseln.

Die USA haben ihr “Peakoil” bereits Anfang der siebziger Jahre überschritten und können seither die Diskrepanz zwischen Nachfrage und Angebot nur durch Importe überwinden. Schon im Mai 2001 (vor dem 11. September) hat Vizepräsident Cheney in einem Bericht über die Ölsicherheit der USA ausgeführt, dass die heimische Produktion bis 2020 von 8,5 auf 7 Millionen Barrels pro Tag (b/d) zurückgehen, der Ölverbrauch aber von 19,5 auf 25,5 Millionen b/d ansteigen wird, so dass die Importe um 68 Prozent von elf auf 18,5 Millionen Barrels pro Tag wachsen werden. Die Energieversorgung erlangt höchste Priorität in der US-Außenpolitik.

Die erwähnte Kongruenz von Kapitalismus und Fossilismus erweist sich nun als eine Falle. Fossile Energien haben ein natürliches Maß. Ihre Verfügbarkeit und die Tragfähigkeit der natürlichen Sphären für die Verbrennungsprodukte - vor allem das Kohlendioxid - sind begrenzt. Doch der Kapitalismus ist autoreferentiell und daher maßlos, ein “Automat”, der - wie Karl Marx schreibt - die “eingeborne geheime Qualität (besitzt), als reiner Automat, in geometrischer Progression Mehrwert zu erzeugen.”

Die Nachfrage nach Öl steigt in dem Maße, wie aus Gründen der Wettbewerbsfähigkeit unter dem Regime des Freihandels Wachstum in allen Ländern erzwungen wird, die sich durch Liberalisierung und geöffnete Märkte am Freihandelssystem beteiligen. Der Zwang hat die institutionelle Gestalt des IWF oder der WTO, die beides zu realisieren versuchen: Freihandel mit dem Effekt des Zugriffs auf die Ressourcen der ärmeren durch die reichen Länder, und Wachstum, um den monetären Verpflichtungen (Verschuldung) gegenüber global operierenden Fonds nachkommen zu können.

Ein neues “Great Game” um die Ölressourcen wie gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist eröffnet und nicht auf den Kaukasus beschränkt. Es hat globale Ausmaße von Lateinamerika, wo Hugo Chávez versucht, die lateinamerikanische Integration mit kontinentalen Energienetzwerken zu forcieren, bis Ostasien, wo China eine Pipeline in Richtung Zentralasien baut. Heftige Konflikte um Ölterritorien, die Kontrolle der Transportlogistik und um die Währung, in der das Öl bezahlt wird, sind zu erwarten.

Die universalgeschichtliche Diagnose der Gegenwart als Geschichte seit der industriellen Revolution fördert eine politisch außerordentlich relevante Paradoxie zu Tage. Zu Beginn des modernen Kapitalismus schien es ökologische und soziale Grenzen des Wachstums nicht zu geben; doch eine Wachstumsmanie gab es nicht. Heute aber geraten das Wachstum in der Zeit und die Expansion im Raum der kapitalistischen Produktionsweise an Grenzen - und gleichzeitig scheint die Überwindung dieser Grenzen immer dringlicher. Sie ist sogar in den normativen Katalog der good governance aufgenommen, die Regierungshandeln daran bewertet, welche Wachstumsraten es hervorzaubert. Diese Paradoxie kann nicht mehr mit immanenter oder mit Ideologiekritik aufgelöst werden. Dazu bedarf es der materialistischen Kritik, die mit den Denkformen die gesellschaftlichen Verhältnisse kritisiert, aus denen sie erwachsen.

Die Geschichte ist nicht am Ende

Ich habe viele Namen genannt. Dies ist nicht geschehen, um Gelehrsamkeit vorzutäuschen - die erwähnten Wissenschaftler unserer Disziplinen sind vielmehr, wie es Marx ausdrückt, die Riesen, auf deren Schultern wir stehen. Wir zehren von ihrem Wissensfundus, wir dürfen ihn nicht verachten. Wir müssen uns wieder angewöhnen, interessiert zu lesen, mit Neugier zu diskutieren, kritisch zu schreiben, wie wir uns darauf besinnen müssen, die Fast Food-Wissenschaft ebenso wie Fast Food-Fressbuden rechts liegen zu lassen. Wir wollen nicht nur Brot wie die Brotgelehrten, sondern auch einen geschmackvollen Nachtisch, zum Beispiel einen Pudding.

Was ist “the proof of the pudding”? Die Antwort lautet: “it is in the eating”. Ich habe dieses englische Sprichwort von Friedrich Engels. Er zitiert aus dem Faust von Goethe: ” ›Im Anfang war die Tat.‹ ” Und fügt hinzu: “… menschliche Tat hatte die Schwierigkeit schon gelöst, lange ehe menschliche Klugtuerei sie erfand. The proof of the pudding is in the eating.” Aber um beim Essen Qualitätskriterien anwenden zu können, müssen die Geschmacksnerven, die Sinneszellen, der Geist geschärft werden, muss man ein “philosophischer Kopf” sein. Dann findet man auch eine einfache Antwort auf die Frage im Untertitel dieser Vorlesung: Zu welchem Ende betreiben wir Kapitalismuskritik? Wir betreiben sie in praktischer Absicht, weil wir die Welt verändern müssen, wenn wir wollen, dass sie bleibt. Die Geschichte ist nicht am Ende. Es gibt Alternativen.

Gekürzte Fassung/Zwischentitel von der Redaktion

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung ” 03 vom 20.01.2006. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Elmar Altvater.

Veröffentlicht am

22. Januar 2006

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