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Blinde Liebe

Von Gideon Levy, Haaretz, 09.01.2006

Ein Konzept wird geboren - das “Sharon-Vermächtnis”. Wie sein Vorgänger, das “Rabin-Vermächtnis” wird es auch eine Person vertreten, die völlig anders ist als die wirkliche Person. Deshalb wollen wir diese seine nicht-mythische Person - einen Moment, bevor aus Ministerpräsident Ariel Sharon das “Sharon-Vermächtnis” wird, der “Held des Friedens und des Abzugs”, der, wenn er seine Rolle nur ein wenig länger gespielt hätte, Israel angeblich den Frieden gebracht hätte - ohne beschönigende Worte skizzieren.

Sharon, seit Ben Gurion vielleicht der einflussreichste Führer, war die Ursache vieler politischer Probleme und Sicherheitsprobleme, denen sich Israel gegenüber sah und sieht. Das muss auch jetzt ehrlicherweise gesagt werden. Der neue Sharon, der so viel Respekt von vielen Israelis und von vielen Länder der Welt erhalten hat, versuchte in seinen letzten Jahren nur ein paar seiner historischen Fehler, mit denen er das Land während seines Lebens konfrontiert hat, zu reparieren. Das Siedlungsprojekt, die Stärkung der Hamas und das Auftauchen der Hisbollah als einen bedrohenden und bedeutenden Faktor im Libanon - alles dank Sharons Politik.

Die verspätete Begeisterung für Sharon ist deshalb Begeisterung für einen klugen Führer, der am Ende seines Lebens sich selbst irgendwie aus Situationen herausziehen will, in die ein weiser Führer sich nie begeben hätte. Er verdient Respekt für seine verspätete Veränderung, für die Anerkennung der Grenzen der Macht, für die Erkenntnis der Schädlichkeit des Siedlungsprojektes und die Kriminalität der Besatzung - aber es ist unmöglich, seine wichtige Rolle beim Schaffen von all diesem zu ignorieren. Weil er seinen Grundansichten treu geblieben ist, die meinen, dass es keine Chance für einen Frieden mit den Arabern gibt, können wir ihn jetzt nicht als einen “Friedenshelden” darstellen - genau wie es eine Übertreibung war, den verstorbenen Ministerpräsident Yitzhak Rabin nach seiner Ermordung in solch einen Helden zu verwandeln.

Der alte Sharon war derjenige, der das Land in den unnötigsten und leidvollsten von Israels Kriegen führte, in den Libanonkrieg. Er hob auch seine Hand nicht zugunsten eines Friedensabkommens mit Jordanien - es wäre vom israelischen Standpunkt aus das einfachste und günstigste der Abkommen gewesen. Der neue Sharon ignorierte die Palästinenser einfach. Bei wichtigen Maßnahmen wie dem Abzug oder dem Mauerbau, ignorierte er ihre Existenz, ihre Bedürfnisse und ihre Wünsche. Er versuchte gar nicht, einen Frieden mit ihnen zu erlangen, weil er keinen Moment daran glaubte, dies sei möglich.

Das Sharon-Vermächtnis wird vor allem an den Abzug erinnern, nicht an die “Operation Schutzschild” in Jenin 2002, auch nicht an den Rachefeldzug in Qibiya 1953 oder die anderen gewalttätigen und überflüssigen Operationen - genau wie das Rabin-Vermächtnis nur an das Oslo-Abkommen erinnert. Vielleicht ist das eine Lektion für unsere zukünftigen Führer: ewiger Ruhm kann nur über Friedensabkommen erlangt werden - nicht über ruhmreiche Schlachtfelder.

Aber selbst jene, die daran glauben, dass Sharon noch mehr Siedlungen auflösen wollte, können die Tatsache nicht ignorieren, dass es sich dabei um ein paar verfaulte Äpfel seiner Politik handelt. Der Historiker wird sich an alle unvernünftigen Karten, die “Siedlungsblöcke”, die “legalen” und “illegalen” Außenposten erinnern, für die er mehr als irgend ein anderer Israeli verantwortlich ist, und die dafür bestimmt waren, jede Möglichkeit eines gerechten Abkommens mit den Palästinensern zu verhindern.

Doch wenn auch Sharon versucht hatte, den Schaden, den er mit den Siedlungen angerichtet hat, zu korrigieren, so ist dies in anderen Bereichen nicht der Fall. Israels zwei erbittertste gegenwärtige Feinde, wie die Hamas und die Hisbollah verdanken ihre Stärke in nicht geringem Maße ihm. Während desselben verfluchten Krieges, des Libanon-Krieges, der ihm zugeschrieben wird, sorgte er für die Entfernung der Palästinenser im Südlibanon und deren Ersatz durch die Hisbollah.

Er kann sich ein erstaunlich ähnliches Resultat Jahre später gegenüber der Palästinensischen Behörde als Verdienst anrechnen, als er die religiösen Fundamentalisten dem moderaten Lager bevorzugte. Der neue Sharon, der beliebt und bewundert wird, ist verantwortlich für den Kollaps der PA als eine zentrale Einheit in den besetzten Gebieten und ihrer Ablösung durch Hamas, die jetzt die Kontrolle über die Regierung zu übernehmen droht und die Anarchie, die nun alles zu zerstören droht.

Während all der Jahre als Ministerpräsident unterließ er es, den Führern der PA irgend eine Unterstützung zukommen zu lassen, damit sie ihre Herrschaft unter der israelischen Besatzung aufbauen können. Selbst nachdem der PA-Präsident Yassir Arafat starb, erlaubte er es seinem moderaten Nachfolger nicht, seinem Volk eine bedeutsame Errungenschaft vorzulegen: weder die Entlassung von Gefangenen, noch mehr Bewegungsfreiheit, noch hat er in Betracht gezogen, mit den Palästinensern gemeinsam den Mauerverlauf zu planen oder gar die Teilnahme beim Beginn von Verhandlungen. Stattdessen tat Sharons Israel alles in seiner Macht liegende, um die PA zu zerstören und sie in den Augen des Volkes zu demütigen. Eine gewalttätige israelische Militäraktion, die in der Operation Schutzschild ihren Gipfel erreichte, verursachte den Kollaps des PA-Verwaltungsapparates. Polizeistationen, die dafür gedacht waren, die Regierung zu stabilisieren und den Terror zu bekämpfen, wurden gnadenlos zerstört. Dazu der ganze Verwaltungsapparat und seine Regierungsbüros, eines nach dem anderen. In dem dabei folgenden politischen und sozialen Vakuum konnte die Hamas gedeihen.

Im letzten Kapitel seines politischen Lebens sah er den Ausbruch der iranischen Bedrohung, vielleicht die gefährlichste von allen. Wie ironisch ist diese Bedrohung! Denn sie betont die Irrelevanz von Gebiet, das die Sicherheit des Landes gewähren soll. Sie erscheint ironisch in der schwindenden Zeit des Mannes, der sein ganzes Leben glaubte, dass Gebietzuwachs das Ein und Alles sei.

Einen Augenblick bevor Sharon in den nationalen Pantheon einkehrt, sollten wir uns am besten daran erinnern, dass wir eher einen mutigen Kämpfer und klugen Staatsmann verlieren als einen weisen, einen, der großen Schaden angerichtet hat. Er verlässt die Bühne, eingehüllt in die blinde Liebe seines Volkes.

Übersetzung: Ellen Rohlfs

Veröffentlicht am

14. Januar 2006

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