Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Die Belebung der schweigenden Bilder

Versuche, mit einem virtuellen Gulag-Museum die Erinnerung an den staatlichen Terror der stalinistischen Sowjetunion zu bewahren

Von Karl Grobe

Der dunkel angelaufene Aluminiumbecher könnte eine Geschichte erzählen, weil er Geschichte ist. Gulag-Geschichte. Aus dem Becher hat ein politischer Häftling getrunken. Er hat auch als akustisches Hilfsmittel gedient: An die Zellenwand gepresst, verstärkte er den Ton, der aus der Nachbarzelle drang, verstärkte Klopfsignale, Stimmen und Schreie. Er war Kommunikationsmittel und Trinkgefäß in der Zeit des staatlichen Terrors, Stalin-Zeit. Der Spaten, dem der Stiel weggebrochen ist, könnte Fragen beantworten: Hat sein Benutzer mit ihm Kohle gefördert? Einen Graben gebuddelt als erste notdürftige Unterkunft? War er Waffe in der Hand eines Aufsehers?

Aluminiumbecher, Spaten und vieles andere unscheinbare Gerät stehen in meist wenig beachteten Sammlungen. Deren gibt es an die 300. Es sind Sammlungen Überlebender. Der russische Staat unterhält dergleichen nicht. Ein Gedenk-Museum des Gulag, das Erinnerungen an Formen der staatlichen Gewalt bewahrt und Mahnungen erkennbar werden lässt, gibt es nicht. Die Geschichte des Gulag ist im offiziellen Gedächtnis der Russländischen Föderation nicht leicht aufzuspüren.

“Das Bemerkenswerte am Menschen ist nicht, dass er verzweifelt, sondern dass er die Verzweiflung überwindet und vergisst”, hat Albert Camus 1945 in sein Tagebuch geschrieben. Das amtliche Vergessen lässt indessen nicht nur die Verzweiflung verschwinden, sondern auch das Bewusstsein für sich selber sowie der Gefahr, die sich wieder materialisieren könnte. Dem wollen die widerstehen, die Relikte aus den Lagern der Stalinzeit aufbewahren, wenigstens aber ihre Existenz dokumentieren. “Wir müssen die Erinnerung an die Schrecken staatlicher Gewalt und der Angst davor bewahren”, sagt Anna Schor-Tschudnowskaja, die mit der Sankt Petersburger Stiftung Memorial und ihrer Direktorin Irina Flige, der Projektleiterin, daran arbeitet, das materiell Erhaltene zu bewahren. Sie zitiert einen Petersburger Wissenschaftler: “Geschichte ist, was passiert ist - und was wieder passieren kann”.

Die Form heißt: “Virtuelles Gulag-Museum”. Elektronisch - im Internet und auf CD - werden “schweigende Bilder von Gegenständen aus dem weiten Gebiet des Gulag” festgehalten. Auf gesprochene und geschriebene Worte verzichtet diese Unternehmung zunächst. Die stumme, optische Vermittlung, schreibt Schor-Tschudnowskaja, “ist insbesondere vor dem Hintergrund der fehlenden entsprechenden Begrifflichkeit in der gegenwärtigen russischen Sprache und der unzureichenden Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wichtig”.

Vernetzung der Erinnerung

Es gibt den Zeit-Faktor. Gegenstände zerfallen und verfallen. Sammler sterben, verlieren das Interesse oder werden veranlasst, lieber zu vergessen als zu bewahren. Ein Zusammenhang, ein Netz der Erinnerung muss hergestellt werden, solange es die in den Relikten und im Gedächtnis erhaltenen historischen Reminiszenzen noch gibt und solange ein Bewusstsein vieler Einzelner für die Geschichte existiert. Das ist ein Kernproblem. Mit der Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte tut sich die russländische Gesellschaft schwer. Einerseits beschwört die Machtelite die Kontinuität der Historie. Sie greift zurück auf Symbole und Traditionen des Staates vor der Revolution von 1917. Die Aufwertung des Tages, an dem im frühen 17. Jahrhundert Bürger Kusma Minin und Fürst Dmitrij Poscharskij zur Einigung gegen fremde Intervention gerufen haben sollen, zum Nationalfeiertag ist ein Beispiel. Dadurch werden der faktische - nicht formelle - Gründungsakt des Romanow-Staates zum konstitutiven Element der Nation. Dieser Feiertag löst den anderen ab, der auf die Revolution von 1917 verwies; die Sowjetgeschichte wird zur Episode, an die man nicht mehr feiernd zurückdenkt.

Andererseits bleibt die Nationalhymne der Sowjetunion, mit zum dritten Mal vom selben Autor umgeschriebenen Text, erhalten - nun als Hymne Russlands. Und der 9. Mai, der Tag des Sieges von 1945, bleibt Feiertag, Tag der Befreiung, obwohl diese Befreiung keine von der eigenen Stalinschen Diktatur war. Sowjetgeschichte und russische Geschichte sind einerseits kongruent, andererseits aber nicht. Was Russland ist, entzieht sich so der Rationalität. Die Geschichte wird reduziert auf Symbole der Macht und Größe, blendet die Wirklichkeit der im Namen des Staates verübten Verbrechen an der Menschlichkeit aus.

Die elektronisch bewahrte Sammlung der schweigenden Gegenstände dokumentiert nicht nur Unterdrückung und Zwangsarbeit; sie dokumentiert auch den Widerstand des Geistes. Bewahrt wurden nicht allein Spaten, Aluminiumbecher und (Bilder von) Stacheldraht und Wachttürmen. Auch Kunstwerke, die Häftlinge geschaffen haben, mit denen sie der Verzweiflung entgegengewirkt haben, werden in dieser Form erhalten. Schachfiguren, aus Brot geformt; Plastiken aus Lager-Materialien; Gemälde. Der Geist ist frei und kann gestalten…

Die Geschichte im Gulag - des Gulag - und die Geschichte der Überlieferung verschränken sich zu einem wesentlichen Aspekt der Sowjetgeschichte, die eben nicht vergeht, auch wenn die Staatsmacht sie nur selektiv wahrzunehmen gewillt ist und im Übrigen durch Schweigen und Verleugnenersetzt.

Suche nach Unterstützung

Das virtuelle Gulag-Museum kann zunächst nur Erinnerung bewahren. Die Geschichte aufzuarbeiten ist eine Aufgabe, die von einer unabhängigen Organisation allein nicht zu bewältigen ist. “Wir brauchen”, erklärt Memorial, “die Unterstützung der Gesellschaft und natürlich des Staates. Zu unserem Bedauern ist das gegenwärtig nicht der Fall”. So ist das Vorhaben, alle Opfer der Repression ausfindig zu machen, bisher unerfüllt geblieben; es fehlt der Zugang zu den Archiven. Das Innenministerium Russlands und die Erben der Täter-Organisation KGB sind wieder verschlossen.

Es fehlt auch am Materiellen. Bisher hat die Konrad-Adenauer-Stiftung die Arbeit ein wenig unterstützen können. Das neue Gesetz, das “einen Deckel auf die Finanzierung nicht kommerzieller Organisationen und ihrer politischen Aktivitäten durch das Ausland setzen” soll, wie es der Vertreter der Regierungspartei Einheitliches Russland unter Berufung auf Präsident Wladimir Putin definierte, könnte diese Zusammenarbeit gefährden. So kann die Sammlung der russischen und der sowjetischen Erinnerung erlöschen und am Ende gar zu einem subversiven Akt umgedeutet werden.

Jede Erinnerung kann subversiv sein. Die Subversion aber bedroht nur jene Politik, die sich durch die Erinnerung selbst bedroht fühlt und es vorzieht, eine Gesellschaft zu formen, die historisch bewusstlos und daher wehrlos ist.


Gulag

Die Hauptverwaltung der Sowjetischen Zwangsarbeitslager, abgekürzt Gulag, war eine Behörde, die als zentrales Instrument des stalinistischen Staats-Terrors gilt. Bekannt wurde der Name durch Alexander Solschenizyns heimlich geschriebenen Buch. H.L. www.gulagmuseum.org .


Quelle: Frankfurter Rundschau vom 02.01.2006. Wir veröffentlichen den Artikel mit freundlicher Genehmigung von Karl Grobe.

Weblinks:

Veröffentlicht am

02. Januar 2006

Artikel ausdrucken

Weitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von