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Töne der Traurigkeit

Von Jacob Allegro Wegloop / Amir Tibon

Interview von Amir Tibon mit Jacob Allegro Wegloop für Bariqada-Wochenmagazin, Website für Jugendliche, Sept. 2005.

Der Lebenslauf von Jacob Allegro ist alles andere als gewöhnlich: geboren in Amsterdam in der Zeit des Holocaust. Er überlebte die Nazis, wanderte als Jugendlicher nach Israel aus, kam nach zwei Jahren nach Holland zurück und wurde ein weithin bekannter Pianist. In den letzten Wochen gab es eine neue Station auf seinem Lebensweg: er wurde “der Bil’in-Pianist”, der bei einer Protest-Demonstration Klavier spielte, um die Dorfbewohner zu erfreuen, die unter dem Joch der Trennungsmauer leiden ( Schubert in Bil’in - eine neue Art gewaltfreier Demonstration ). Im Interview mit Amir Tibon sprach er über seine Enttäuschungen über Israel und Holland, über den Kampf gegen Rassismus und über den Missbrauch des Holocaust, den er besonders ärgerlich findet. Die Kurzbiographie eines besonderen Musikers.

Ich fragte Jacob Allegro, ob er keine Angst hätte. Er lächelte und zündete sich noch eine Zigarette an. “Nach so vielen Zigaretten, habe ich vor nichts mehr Angst.”

Er kam in Israel am Freitagmorgen an. Die Maschine aus Amsterdam landete am Ben Gurion-Flughafen um 3 Uhr in der Früh. In der Ankunftshalle wartete eine Gruppe von Gush Shalom-Aktivisten. Alle waren müde, aber auch aufgeregt. Sie fuhren gleich nach Bil’in weiter, dem Dorf, das wegen seiner stürmischen - von Seiten der Bewohner - gewaltfreien Demonstrationen gegen die Trennungsmauer in die Schlagzeilen der Medien kam. Die Mauer trennt das Dorf von seinem Land.

Nach langer Zeit, in der nur Linke wussten, was dort vor sich geht, erfährt nun auch die Öffentlichkeit von den ständigen Konfrontationen zwischen den Soldaten und den Demonstranten. Seit Wochen schon ist am Freitag - schon früh am Morgen - der Zutritt nach Bil’in verboten. Die Armee verhängt Ausgangssperren oder baut Straßensperren, damit keine Demonstranten (von außen) dazu kommen. Aber an diesem besonderen Freitag war die Armee zu spät: als die Soldaten ankamen, war Jacob Allegro schon im Dorf. Nachdem er einige der wöchentlichen Organisatoren kennen gelernt hat, wandte er sich der selbstgestellten Aufgabe zu, wegen der er vom weit entfernten Amsterdam gekommen war: Für die Kinder von Bil’in Klavier zu spielen.

“So weit ich weiß, war dies das erste Klavier, das es jemals in Bil’in gegeben hat”, sagte er.

“Es war dem Dorf von einem israelischen Schauspieler geschenkt worden!” Ich sah mir das Videofoto an: Jakob saß vor einem alten Klavier (“Es war in keinem guten Zustand”), umgeben von Dutzenden von Kindern, Jugendlichen und älteren Dorfbewohnern. “Ich spielte Stücke von Beethoven, Chopin und Schubert”.

Wie seltsam ist doch die Welt, denke ich. Die erste Person, die in Bil’in, einem von aller Welt abgeschnittenen palästinensischen Dorf, spielt, ist ein holländischer Pianist - noch dazu - ein Holocaustüberlebender.

Enttäuschungen mit Israel

Jacob Allegro wurde 1943 in Amsterdam geboren. Die Stadt war unter Nazi-Herrschaft und ihre große jüdische Gemeinde war im Begriff, ausgelöscht zu werden. Er war ein kleines Kind und hat keine Erinnerungen mehr an diese Zeit. Seine ganze Familie wurde von den Nazis umgebracht - seine Eltern, sein Onkel und Großvater und viele andere Verwandte. Doch wenn ich ihn frage, was er von den Vorkriegs-Juden aus Amsterdam weiß, lacht er und sagt: “Sehr wenig. Doch was genau wollen Sie wissen”? “Die meisten holländischen Juden lebten vor dem Krieg in Amsterdam; die meisten waren säkular und identifizierten sich politisch mit den Sozialisten und linken Parteien. Der Zionismus hatte - anders als man sonst erzählt - unter holländischen Juden kaum Anhänger. Erst nach dem Krieg gewann er Anhänger.”

“Heute ist die Situation anders. Der größte Teil der holländischen, jüdischen Gemeinde ist sehr mit Israel verbunden. Als meine Freunde hörten, dass ich in einem palästinensischen Dorf Klavier spielen werde, reagierten manche sehr negativ darauf. Einer nannte mich einen Verräter, ein anderer sagte, dass er nicht verstehen könne, wie ein Holocaustüberlebender wie ich dies tun könne. Manche Leute unterstützen Israel blind und sind absolut unfähig zu sehen, was sich dort auf der andern Seite abspielt.”

In der Vergangenheit glaubte er auch an Israel. Und zwar so sehr, dass er in den frühen 60er Jahren hierher kam, um hier zu leben. “Nach dem Krieg war ich in einem jüdisch-orthodoxen Rahmen aufgewachsen, mit dem ich aber nicht gut auskam. Als Teenager begann ich, mich von der Religion zu trennen und mit 20 war ich schon vollkommen säkular. In jener Zeit war ich von der Idee des Staates Israel fasziniert. Man hatte so viele Hoffnungen in der Welt, auch dort wo ich war. Man sprach von Israel als einem neuen Staat: jung, säkular, besonders. Man sagte immer, dass Israel eine andere Art von Staat sei, einfach etwas anderes.”

Dies war für den jungen Jacob Allegro entscheidend, nach Israel einzuwandern - er machte Aliya. Seine Enttäuschungen waren so groß wie seine Erwartungen. “Ich lebte in einer Wohnung in Jerusalem und traf eine Menge netter Leute. Es war ein schönes Land. Aber ich entdeckte, dass Israel schließlich doch nicht so anders war, als mir versprochen worden war. Was mich am meisten störte, war der Rassismus. Da gab es Rassismus gegenüber den Arabern und Rassismus zwischen Ashkenasim und Sephardim (europäische / orientalische Juden). Da gab es offene Verachtung gegenüber den Holocaustüberlebenden. Ich war nicht nach Jerusalem gekommen, um auch hier Rassismus vorzufinden und den Schwachen gegenüber Verachtung. Das kann man überall auf der Welt haben.” Nach zwei Jahren ging er zurück nach Holland.

Er hatte seine Enttäuschung über Israel nicht vergessen. Doch auch in Holland gab es Dinge, die ihm nicht gefielen. “Holland tut sich sehr schwer mit den vielen Einwanderern, die es aufgenommen hat. Da gibt es ein allgemeines Gefühl von Rassismus zwischen den alten Einwohnern und den muslimischen Immigranten”, stellt er fest. Die jüdische Gemeinde fürchtet sich, eine Stellungnahme gegen den Rassismus einzunehmen und sich mit den ethnischen Minderheiten zu identifizieren. “Zum Teil ist es eine Folge ausdrücklicher Identifizierung mit Israel, zum andern Teil wollen viele Leute sich da einfach nicht einmischen. Wichtig für ihn ist es, seine Wertschätzung des Amsterdamer Bürgermeisters, des jüdischen Politikers Job Cohen, auszudrücken. “Cohen ist ein guter Bürgermeister, der wirklich versucht, zwischen Christen, Juden und Muslimen eine Annäherung zustande zu bringen. Das ist keine leichte Aufgabe”.

“Man kann die Tatsache nicht ignorieren, dass ein Teil der Probleme von den Einwanderern selbst kommt. Wir hörten viel von Gewalt durch die Immigranten, was im Mord des Filmdirektors Theo van Gogh durch einen jungen Muslim gipfelte.”

“Natürlich will ich nicht leugnen, dass es da viele Probleme gibt; ich bin aber gegen jede Art von Gewalt. Im Falle von Theo van Gogh muss ich noch sagen, dass ich, wenn ich es gekonnt hätte, ihn mit meinem Körper geschützt hätte - weil ich gegen Gewalt bin. Aber ich kann nicht sagen, dass ich diesen Mann sehr betrauert habe. Er war eine vulgäre, rassistische Person, der im Fernsehen gern rassistische Witze drehte. In den meisten Fällen waren es Witze über Muslime, die er gern ‘Schaffucker’ u.ä. nannte. In andern Fällen machte er Witze über Juden. Einmal sagte er am TV so etwas wie: ‘Oh, da ist ein süßer Geruch in der Luft, sie müssen heute diabetische Juden verbrannt haben. Hahah.’ Als Jude und Holocaust Überlebender erinnere ich mich nicht so gern an ihn.”

In den 70ern kam er mit seinem Pflegevater noch einmal zu Besuch nach Israel. “Mein Vater wollte den Sinai besuchen - ich war dagegen. Schließlich gingen wir doch. Erst damals wurde ich das erste Mal mit Israels wirklich großem Problem konfrontiert: die gewalttätige und rassistische Besatzung, die damals begann. Dieser Besuch verstärkte nur meine Enttäuschung über Israel. Seitdem bin ich nicht mehr hergekommen - bis ich vor ein paar Wochen von Bilin hörte. Es ist ein kleines palästinensisches Dorf, aus dem noch nie ein Terrorist kam. Doch nun wird es mit einer hohen Mauer konfrontiert, die die Bewohner daran hindert, zu ihrem landwirtschaftlich genutzten Land zu gelangen. Deshalb entschied ich mich, herzukommen und hier zu spielen, um den Menschen ein bisschen Hoffnung zu geben. Musik ist eine vorzügliche Art, Menschen glücklich zu machen.”

Wie nach einem Krieg

Allegro spielt seit seinem 3. Lebensjahr Klavier, mit dem er sich in der Familie aus einander setzte, die ihn nach dem Krieg adoptierte. Er ist nicht wie andere Musiker - wie z.B. Daniel Barenboim - politisch besonders engagiert. Als er in Bil’in spielte, war es eine der wenigen Gelegenheiten während seiner Karriere, dass er seinen künstlerischen Stand dazu verwendete, um eine politische Position oder einen Protest auszudrücken - den er kaum in Holland machen würde.

“Welchen Eindruck hatten Sie von Bilin?”

“Ich sah einen Ort, der wie kurz nach einem Krieg aussah. Mein erstes Gefühl war ein Schock. Es ist eine wunderschöne ländliche Gegend mit einem enormen Potential, die völlig zerstört wurde und die mit einer schrecklichen Zukunft konfrontiert ist. Ein völlig geschändetes Gebiet. Es ist sehr beunruhigend, wenn man dorthin fährt, und man die auffallenden Unterschiede der Straßen für Siedler und die für Palästinenser sieht. Je näher man an Bil’in herankommt, umso schlimmer wird die Straßenbeschaffenheit. Es zeigt eine bewusste Vernachlässigung durch die staatlichen Behörden. Aber auch auf anderen Gebieten ist dies auffallend. In Bil’in sieht man Häuser, die von Israel zerstört wurden, während in den nahen Siedlungen wunderschöne Häuser erbaut werden. und dann ist natürlich die Mauer, die das tägliche Leben der Menschen bedroht.”

“Können Sie die Gründe verstehen, warum Israel diesen Zaun baut und die Häuser zerstört?”

“Ich muss auf die Terrorakte auf Israelis hinweisen, es ist etwas, das ich total ablehne, wie jede andere Art von Gewalt. Ich verstehe ihren Schmerz. Aber meiner Ansicht nach ist das, was Israel gegenüber den Palästinensern tut, nicht nur nicht hilfreich, sondern schadet Israel selbst viel mehr. Die Palästinenser erhalten viel weniger als das Minimum, das ihnen zusteht. Wenn Israel in sie investieren und ihnen helfen würde ein neues Leben aufzubauen, statt ihre Häuser zu zerstören und sie von ihrem Land zu trennen, dann könnte der Terrorismus wirklich überwunden werden. ….”

Ein zionistischer Trick

Am Dienstag nach dem Besuch in Bil’in schaffte es Jacob noch, in Ramallah im “Palast der Kulturen” ein Klavierkonzert zu geben, zu dem ich leider nicht kommen konnte. Er fand auch Zeit an der Küste Tel Avivs zu schwimmen. Andrerseits hatte er aber nicht die Absicht, das Holocaust-Museum Yad Vashem zu besuchen. Er hat viele Vorbehalte über die Art und Weise, wie man in Israel des Holocaust gedenkt.

“Einer der Hauptgründe für die uneingeschränkte Unterstützung der holländischen Regierung für Israel, sind die Schuldgefühle der Holländer, wegen des schrecklichen Verhaltens vieler Leute in Holland während des Holocaust. In gewisser Weise wurde während der letzten Jahrzehnte der Holocaust als eine Art zionistischer Trick verwendet. Wegen des Holocaust nimmt sich der Staat Israel das Recht heraus, alles zu tun, was er will und keiner hat das Recht, ihn zu kritisieren. Dieser Missbrauch des Holocaustgedenkens stört mich nicht nur politisch, sondern viel mehr noch auf persönlicher und emotionaler Ebene. Als ein Holocaustüberlebender, dessen ganze Familie von den Nazis ermordet wurde, will ich es nicht zulassen, dass der Mord an meinen Eltern von jemandem als Vorwand benützt wird, nun andere Leute zu morden.”

“Sie haben vier Kinder? Kennen sie die Familiengeschichte? Betrachten sie sich selbst als Juden?”

“Meine Kinder sind wie ich säkular, Religion spielt bei ihnen keine Rolle und bei der Erziehung habe ich die jüdische Identität nicht besonders betont. Aber der Holocaust und die Familiengeschichte sind für mich und meine Kinder sehr wichtig. Ich erzählte ihnen alles, was ich wusste und alle historischen Einzelheiten - das war für mich sehr wichtig. Es war für mich so wichtig, dass meine Kinder und ihre Kinder wissen sollten, dass meine Eltern und Millionen anderer Menschen ermordet wurden, weil sie anders waren - es war purer Rassismus. Es ist wichtig für mich, dass zukünftige Generationen gegen jede Art von Rassismus und Gewalt sind. ….”

Jacob Allegro verließ 1960 Israel sehr enttäuscht. Ich fragte ihn, was er meint, ob ich auch gehen sollte. Er dachte darüber nach: “Das ist eine schwierige Frage. Das ist ganz und gar Ihre Entscheidung. Ich denke, Sie haben das Recht überall zu wohnen, wo Sie wünschen, wie alle anderen in Israel. Aber zusammen mit diesem Recht haben sie eine Aufgabe, eine schwere Aufgabe: dafür zu sorgen, dass die Dinge hier besser werden. Es ist ihre Aufgabe als Mensch und als Jude, gegen Rassismus und Gewalt zu kämpfen.”

Er erzählte mir noch von seiner Familie, die er nie kennen gelernt habe und von der jüdischen Linken (in Holland), die zu existieren aufgehört hat, weil alle ihre Mitglieder von den Nazis umgebracht wurden. “Ich hätte diese Welt gerne kennen gelernt”, sagte er.

Ich dachte an die Welt, die Jakob gerne kennen gelernt hätte, eine Welt die fast zu existieren aufgehört hat. Einer der letzten ist Allegro, der aus einer gemütlichen Wohnung aus Amsterdam sich aufmacht, um auf schlechten Straßen nach Bilin zu kommen, um dort seine Solidarität auszudrücken, indem er Klavier spielt. Es ist - im Vergleich zu dem, was die Bewohner von Bil’in sonst zu hören bekommen - eine andere Art von jüdischem Ton.

Übersetzt und gekürzt von: Ellen Rohlfs.

Veröffentlicht am

15. Oktober 2005

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