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Die Stille nach dem Schuss - zum Tod von Jean Charles de Menezes

Von Andrea Noll - ZNet Kommentar 26.07.2005

Meine erste Reaktion auf die Terroranschläge vom 7. Juli - Wut. Heimtückische Anschläge auf arglose Menschen erfüllen das Kriterium für Mord, Massenmord. Spontan kamen mir die Bilder der machtvollen Antikriegsdemonstration in London, Februar 2003, in den Sinn - fast 2 Millionen Briten, die gegen die (bevorstehende) Irakinvasion protestierten. Möglicherweise waren einige der mutigen Hydepark-Demonstranten jetzt unter den Opfern. Wie in unseren ‘Kriegen’ üblich (Kriege an der ökonomischen Front oder der Terrorfront) unterscheiden unsere Massenmedien auch im Falle des Londoner Terrors ganz reflexartig zwischen würdigen und unwürdigen Opfern - ‘worthy and unworthy victims’ 1 . Als würdige Opfer gelten jene, die den Terrorbomben “unserer Feinde”, wie Tony Blair die Selbstmordattentäter nennt, zum Opfer fielen - in drei U-Bahnzügen und einem Bus. Ein unwürdiges Opfern - weil von den “Guten” getötet -, ist dagegen Jean Charles de Menezes, ein junger Brasilianer, der seit drei Jahren in Großbritannien lebte und arbeitete und dessen einziges Verbrechen darin bestand, mit einem Terrorverdächtigen verwechselt zu werden.

“While over in Ireland eight more men lie dead, kicked down and shot in the back of the head” 2 .

“Wir werden an der Politik des Kopfschusses festhalten. Wenn Sie sie in die Brust schießen, kann es passieren, dass Sie damit die Selbstmordvorrichtung des Verdächtigen aktivieren, wenn sie auf andere Körperteile zielen, passiert das Gleiche, sobald der Verdächtige fällt”, so der klägliche Versuch des Londoner Polizeichefs Ian Blair, fünf gezielte Kopfschüsse auf einen unschuldigen Mann zu rechtfertigen. Was für eine Logik! Wieso sollte ein Selbstmordattentäter, der in den Kopf getroffen ist und stürzt, weniger explosiv sein als einer, der in die Beine getroffen stürzt?

Der Nichtselbstmordattentäter Menezes wurde durch keinen Schuss gestoppt. Er stürzte aus unbekanntem Grund, als er ein U-Bahnabteil betrat. Fühlte er sich von den Männern in Zivil bedroht, die ihn verfolgten? Hielt er sie für Terroristen - in diesem Klima der Angst, das die Bewohner der britischen Metropole erfasst hat? Tatsache ist, dass Beamte einer Antiterroreinheit Menezes verfolgt hatten, als er sein Haus in Tulse Hill gegen 10 Uhr verließ, um seine U-Bahn zu erreichen. Was Menezes nicht wissen konnte, in einem der Bombenrucksäcke, die die Polizei tags zuvor entdeckt hatte, befand sich die Adresse seines Hauses - ein Mehrparteienwohnhaus. Angeblich ging Menezes mit einer “verdächtig dicken Jacke” aus dem Haus und wirkte “südländisch bis asiatisch”. Reichte das den Terrorspezialisten für ein Todesurteil? Nach dem Motto, lieber ein Unschuldiger zu viel, als ein Schuldiger zu wenig. Ob die Polizei überhaupt einen Versuch unternahm, den Verdächtigen mit friedlichen Mitteln - das heißt, durch Anruf - zu stoppen, darf bezweifelt werden. Auch ist unklar, ob Menezes wusste, dass er verfolgt wurde oder nur rannte, um seine U-Bahn in Stockwell zu kriegen.

Menezes stolperte und stürzte ins Abteil. Drei Antiterrorspezialisten warfen sich auf den 27jährigen jungen Mann mit dem “Blick eines in die Enge getriebenen Kaninchens”, so eine Augenzeugin. Sie fixierten ihn am Boden, während ein Vierter ihm mit einer halbautomatischen Waffe fünfmal in den Kopf schoss - so die Aussage entsetzter Zeugen. Völlig alogisch, weshalb ein Verdächtiger, der bereits wehrlos und im Klammergriff am Boden liegt, mit Waffengewalt “ausgeschaltet” werden muss, geschweige denn mittels “Fangschuss” getötet. Vollends lächerlich wird es, wenn britische Offizielle ihre “Shoot-to-kill”-Politik mit dem Kampf gegen islamistische Selbstmordattentäter rechtfertigen - “whom do they think, they are kidding?”, wie Gerry Adams sagen würde.

Zwar stammt die entsprechende Polizeirichtlinie, potentielle Selbstmordattentäter gezielt zu töten, aus dem Jahr 2003. Allerdings praktizieren die Briten ihre ‘Shoot to kill policy’ schon seit den 70ger Jahren - in Nordirland. Berüchtigtes Beispiel, das “Bloody Sunday” Massaker, bei dem britische Sicherheitskräfte gezielt auf friedliche Demonstranten feuerten. Mitte der 90ger Jahre erging ein Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gegen die britische Regierung wegen der gezielten Tötung dreier unbewaffneter IRA-Mitglieder im März 1988 in Gibraltar. Mitglieder der britischen SAS (Special Air Services), einer Spezialeinheit (sprich: Killerkommando), die unter anderem von den Folterern des südafrikanischen Apartheidregimes ausgebildet wurde, hatten die Gesuchten Sean Savage, Daniel McCann und Mairead Farrell in eine “sorgfältig präparierte Falle” tappen lassen - offensichtlich, um sie zu liquidieren. Die Verdächtigen waren tagelang observiert worden, wobei sich sichere Zugriffsmöglichkeiten ergeben hatten - aber Ziel war nicht Verhaftung sondern Tötung, so der Menschenrechtsgerichtshof. Pech für die SAS, dass es Augenzeugen gab, die sich nicht scheuten, vor Gericht auszusagen. Wie im Falle Menezes war zumindest einer der getöteten IRA-Kämpfer (2 Männer und 1 Frau) durch Genickschuss hingerichtet worden, als er bereits am Boden lag.

Kollateralschaden

Der islamistische Terror betreibt die systematische “Bagdadisierung” westlicher Metropolen und westlicher Touristenspielplätze in aller Welt. Wir sollen die tägliche Panik der Menschen in Bagdad am eigenen Leib spüren - so das propagierte Ziel der Terrororganisationen, mit dem sie neue Mitglieder werben (während sie gleichzeitig selbst für einen Teil des Terrors in Bagdad verantwortlich sind). Und ebenso wie von westlichen Soldaten, Söldnern oder irakischer Polizei getötete Unschuldige im Irak als ‘unworthy victims’, als Kollateralschäden im Antiterrorkampf, kaum Medienbeachtung finden (siehe “Unnamed and Unnoticed - Iraqi Casualties” von Judith Coburn), verharmlosen unsere westlichen Medien den Fall Menezes jetzt schon als eine Art bedauerlichen “Betriebsunfall”.

Wird man bald auch bei uns von unvermeidlichen Kollateralschäden sprechen, wenn bei Terroreinsätzen in westlichen Städten keine Rücksicht auf Unschuldige genommen wird - nach dem Motto, wo gehobelt wird, da fallen Späne? Wer wird das nächste Opfer eines polizeilichen “Betriebsunfalls” im Londoner Streckennetz sein? Ein Student “mit semitischen Gesichtszügen” auf dem Weg zur Uni? Oder ein Taubstummer, der die Anweisungen der Polizei nicht hören kann? Die Hausfrau mit der dicken Einkaufstasche? Oder ein Junkie oder Pickpocket (weiter Mantel!) mit wenig Respekt für die Worte “stehen bleiben, Polizei”? Jean Charles de Menezes ist keinem “bedauerlichen Irrtum” zum Opfer gefallen. Er ist ein Terroropfer - wie die Opfer des 7. Juli.

Hydra des Terrors

Die Lernäische Hydra der griechischen Mythologie ist eine Wasserschlange mit bis zu hundert Köpfen und einem Hundekörper. Der Sage nach hauste das Ungeheuer in der Quelle des Flusses Amymone, in den Sümpfen von Lerna bei Argos. Hydras Besonderheit: Sie war leicht zu stellen, aber schwer zu töten. Schlug man ihr einen ihrer zahlreichen Köpfe ab, wuchsen an dessen Stelle sofort zwei neue nach. Auch die Hydra des islamistischen Terrors versteht es meisterlich, Niederlagen in Siege zu verwandeln. Für jedes von christlichen Soldaten oder der israelischen Armee getötete muslimische Kind, für jeden gefallenen “Märtyrer”, wachsen zwei neue Selbstmordattentäter nach - ob in Bagdad, Afghanistan, Tschetschenien oder Gaza. Mit militärischen oder sicherheitstechnischen Mitteln ist der Hydra des Terrors nicht beizukommen.

Großbritannien hatte, neben den USA, die repressivsten Sicherheitsgesetze nach dem 11. September. Im Eilverfahren durchgepeitscht, sahen sie unter anderem die Internierung Verdächtiger vor - auf unbestimmte Zeit und ohne Anklage. Vom “britischen Guantanamo” war die Rede 3 . Gebracht hat das Ganze offensichtlich nichts - außer, dass der Hass unter Englands Muslimen wuchs. Ebenso wenig antiterrortauglich die deutschen Schily-Gesetze, die zwar zum Abbau der demokratischen Grundrechte friedlicher Inländer und Inländerinnen beitrugen und zur Rechtfertigung einer unerträglichen sozialen Espionage, die aber nicht verhindern konnten, dass ein lebensmüder Pilot seelenruhig sein Flugzeug über dem Reichstag zum Absturz brachte.

Herakles besiegte die Lernäische Hydra, gemeinsam mit Neffe Iolaos, indem er die Stümpfe der abgeschlagenen Köpfe mit einer Fackel ausbrannte - die antike Form der Ursachenbekämpfung. Herakles wusste, man muss das Übel an der Wurzel packen - anstatt sicherheitstechnisch an Symptomen herumzukurieren. Den (unsterblichen) Hauptkopf der Hydra - Hass - vergrub Herakles tief unter einem Felsen an der Straße von Lerna. Was sind die Wurzeln des Hasses im Falle des sogenannten islamistischen Terrors?

Dutch Mountains

Was wollen die Terroristen eigentlich von uns, so fragen sich die verunsicherten Bürger Europas händeringend. Haben sie es auf unsere natürlichen Ressourcen abgesehen? Wollen sie uns ihre Staatsphilosophie, ihren ‘islamic way of life’, aufzwingen, uns militärisch besetzen, in unseren Ländern geostrategische Stützpunkte errichten? Wollen sie unsere Staatsunternehmen an arabische Konzerne verfüttern? Nein, so was tut nur der Westen. Europa besitzt ungefähr so viele wertvolle Bodenschätze wie Holland Berge. Das Öl der Nordsee - im Vergleich zu den Rohölquellen des Mittleren Ostens eine Pfütze.

Die Islamisten wollen uns nicht berauben, zum Islam bekehren oder gar militärisch besetzen. Sie führen keinen imperialen Kreuzzug gegen uns - wie wir gegen sie. Sie führen einen Rachefeldzug. Die urbanen Zentren der westlichen Welt sind zur Achillesferse des Militärkoloss USA und seiner Nato-Verbündeten geworden. Ein Grund für den unermesslichen Schock, den der 11. September in den USA auslöste: Nie zuvor war Amerika auf eigenem Boden angegriffen worden - weder im Ersten, noch im Zweiten Weltkrieg, auch nicht während des Korea- oder Vietnamkriegs. In Vietnam starben neben 50.000 GIs, 5 Millionen Vietnamesen, das Land wurde unermesslich verwüstet, auf Jahrzehnte verseucht (Napalm, Agent Orange). Dennoch gab es, meines Wissens, in fast zehn Jahren Vietnamkrieg keinen einzigen Anschlag militanter Vietnamesen auf die USA. Auch die Stellvertreterkriege im lateinamerikanischen “Hinterhof” der USA stellten nie eine ernsthafte Bedrohung für ‘the land of the free, and the home of the brave’ dar. Diese Zeiten sind vorbei.

Wie auf den Terror reagieren?

Prof. Martin Haspelmath vom Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie schrieb dem ‘Spiegel’ (vom 25.07. 2005) einen interessanten Leserbrief (Auszug): “In großen Ziffern lesen wir im SPIEGEL die Zahlen der Opfer des privaten Terrors: insgesamt etwa 4.000 in den letzten vier Jahren. Aber gern hätte man auch in ebenso großer Schrift die Zahlen der unschuldigen Opfer des von unseren Armeen und Bomben über Afghanistan, Irak und Tschetschenien gebrachten Schreckens. Es dürften 10- bis 15-mal mehr sein. Solange die Zustimmung in den christlichen Ländern für das Töten von unschuldigen Muslimen so hoch ist, werden wir mit den Nadelstichen der Terroristen bei uns leben müssen, ein Virus unbekannter Herkunft sind sie nicht”. Virus unbekannter Herkunft? Oder meint der Professor vielleicht einen aggressiven Bazillus wie den Clostridium tetani - Erreger des gefährlichen Wundstarrkrampfs? Tetanus ist eine tödliche Infektionskrankheit, Clostridium tetani eine Allerweltsbazille, die in Gartenerde und an schartigen Geräten vorkommt. Solange unser Körper intakt ist, die Haut heil, hat der Erreger keine Chance. Erst eine schwärende Wunde macht ihn zum gefährlichen Killer.

Ob Al Kaida, Al Sarkawi oder die Tschetschenenmafia - um aktiv zu werden, benötigen ideologisch motivierte Terroristen eine offene Wunde. Ohne die offene Wunde Afghanistan (während der Sowjetbesatzung und heute), ohne die offene Wunde Tschetschenien, die offene Wunde Irak (wo es vor der Invasion 2003 keine Al Kaida gab), ohne die offene Wunde Gaza, die offene Wunde Bosnien wäre es für sie unmöglich, in den Zentren der westlichen Welt junge Muslime für ihre perversen Ziele zu rekrutieren: irregeleitete junge Männer, bereit, sich in die Luft zu sprengen.

Tragen wir dazu bei, die offenen Wunden zu schließen - Versöhnung der Kulturen, statt Kampf der Kulturen - und entziehen wir dem Terror (dem privaten wie dem staatlichen) so seinen Nährboden. Hüten wir uns andererseits vor jeder Form der Terrorverherrlichung und vor einer Pauschalverteufelung von “Briten” oder “Amerikanern”. Über Jean Charles de Menezes Tod ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Seine Großmutter Zilda, die auf einem Bauernhof im Süden Brasiliens lebt, sagt: “Jean war ein fleißiger, höflicher und intelligenter Junge, der immer Geld nach Hause geschickt hat. Gott oder irgendjemand muss jetzt für Gerechtigkeit sorgen”. (‘Der Tod eines Unschuldigen’, TAZ vom 25. Juli 2005)

Anmerkungen:

1 siehe ‘Manufaturing Consent’, Edward S. Herman u. Noam Chomsky (Pantheon Books 1988)

2 Zeile aus dem Pogues-Song “Streets of Sorrow/Birmingham Six”

3 Das im November 2001 in Großbritannien verabschiedete Administrativgewahrsamsgesetz für ausländische Terrorverdächtige, die “nicht in ihre Ursprungsländer abgeschoben werden können” (Anti-Terrorism Crime and Security Act of 2001’), stand im Gegensatz zur Europäischen Menschenrechtskonvention, die jedem in Europa Lebenden “liberty and security of person” garantiert. Eine Ausnahme ist nur möglich “in time of war or other public emergency threatening the life of the nation”. Genau diesen Fall, nämlich den “public emergency”, den öffentlichen Notstand, rief Großbritannien 2001 aus. Später entschied ein Gremium hoher britischer Richter, das Antiterrorgesetz stelle einen “Bruch mit britischen Menschenrechtsverplichtungen” dar. Aufgrund dieser Entscheidung wurde der Administrativgewahrsam von Terrorverdächtigen 2005 durch den etwas milderen ‘Prevention of Terrorism Act’ ersetzt. Seither sind Terrorverdächtige in Großbritannien sogenannten “control orders” unterworfen: Hausarrest, Ausgangssperre bzw. elektronische Fußfessel. Die Benutzung von Mobiltelefonen oder Internet ist ihnen ganz oder teilweise untersagt.

Quelle: ZNet Deutschland vom 26.07.2005.

Veröffentlicht am

26. Juli 2005

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