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Irak ohne Souveränität

Von Karl Grobe

Der irakische Verfassungs-Express ist aufs Abstellgleis geraten. Der ehrgeizige Plan, bis zum 15. August in nur zwei Monaten ein neues Grundgesetz zu schreiben, lässt sich wahrscheinlich nicht erfüllen. Und den eigentlichen politischen Gewinn aus der Situation zieht derzeit die Islamische Republik Iran.

Von Anfang an haftete eine starke Dosis Wunschdenken der Verfassungsarbeit an. Zum Vergleich: Die Gründungsväter der USA hatten sich vier Monate Zeit für die Arbeit genommen, und sie waren in den entscheidenden Fragen ein Herz und eine Seele. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes, deren Arbeit praktisch mit dem Start des Parlamentarischen Rates am 1. September 1948 begonnen hatte, konnten am 8. Mai des folgenden Jahres ihren Entwurf vorlegen. Es gab, bei manchen Gegenstimmen, doch einen starken Konsens. In der irakischen Kommission fehlt der Konsens in wesentlichen Dingen; die Gegensätze scheinen drei Wochen vor dem Fälligkeitstermin noch unüberbrückbar.

Die Familienstandsklauseln sind ein Beispiel dafür. Die vorherrschende schiitische Gruppe hat sich anscheinend auf eine Regelung verständigt, die Frauen alle Rechte zugestehen soll, sofern sie nicht gegen die Scharia, die religiös definierte juristische Ordnung, verstoßen. Eheschließungs-, Scheidungs- und Erbrecht benachteiligen die Frauen erheblich. Die geistliche Fraktion, inspiriert von Großayatollah Ali Sistani, will sich da nichts abhandeln lassen. Die Rechtslage war aber über Jahrzehnte hinweg stärker als in praktisch allen arabischen Staaten von weltlichen Grundsätzen der Gleichberechtigung geprägt. Selbst die Repression unter Saddam Hussein traf alle, sie diskriminierte und unterdrückte Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen und kannte keine geschlechtsspezifischen Benachteiligungen. Die geplanten Scharia-Regelungen haben denn auch - vor allem außerhalb der Gremien - Widerstand erzeugt.

Die Frage der Staatsstruktur ist unbeantwortet. Die sunnitische Minderheit - und außerhalb der Gremien ein großer Teil der Bevölkerung - wünscht den Einheitsstaat, etwa nach französischem Vorbild. Schiiten und Kurden bestehen auf einer föderalen Struktur. Im ausschließlich schiitischen Süden kommen Forderungen nach einer autonomen Region namens Sumer auf, die über die einzigen Häfen und den Löwenanteil der Öl-Vorkommen verfügen soll. Den Anspruch auf die Erdöllager im Norden lassen sich kurdische Vertreter nicht abhandeln. Das ist der Kern der heftigen Auseinandersetzungen um Kirkuk - und der Föderalismus-Debatte. Im sunnitischen Haupt-Siedlungsgebiet gibt es kaum Öl.

Die Terroranschläge, denen drei sunnitische Mitglieder der Verfassungskommission zum Opfer gefallen sind, haben das Verfahren unterbrochen; die überlebenden 13 Sunniten in der 71 Personen starken Kommission verlangen persönliche Sicherheit, ehe sie sich wieder an der Arbeit beteiligen. Wer Sicherheit schaffen soll, da von den 170.000 Soldaten der neuen Armee zwei Drittel als nicht tauglich gelten, wäre derzeit nur amerikanisch zu beantworten - wenn denn die US-Besatzungstruppen, auch die britischen, polnischen und anderen, überhaupt dazu in der Lage wären. Täglich 34 Todesopfer seit dem Sturz des alten Regimes durch die alliierte Invasion und die häufiger werdenden Entführungen - am Donnerstag des algerischen Geschäftsträgers mitten in Bagdad - sind eine makaber deutliche Sprache.

Irak ist seit der dem Völkerrecht widersprechenden Besetzung geworden, was es weder unter Saddam Hussein noch unter den militärischen Regimes vorher je war: Sammelplatz, Rekrutierungs- und Übungsfeld weltweit ausschwärmender Terroristen. Nicht allein der Zusammenbruch der staatlichen Institutionen und die Abschottung der neuen Gewalt in der schwer befestigten Grünen Zone von Bagdad ist die Ursache. Das allzu oft menschenverachtende Auftreten von Besatzungssoldaten und von Söldnern privater Dienste, willkürliche Verhaftungen, Freiheitsentzug ohne Anklage oder Verfahren, Foltern nicht nur in Abu Ghraib - die Liste ist lang. Den Terror gegen unbeteiligte Zivilpersonen entschuldigt das keineswegs; doch die Suche nach einer Erklärung für die terroristische Eskalation kann diese Dinge nicht übersehen.

So erscheint Irak derzeit als noch nicht wieder staatliches Gebilde, als Land ohne Souveränität. Die sich anbahnende Zusammenarbeit mit Iran - Washingtons Albtraum - ist der Schlussstein: Die Intervention hat eine nahezu anarchische Situation geschaffen, die der Welt gefährlich werden könnte.

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 22.07.2005. Wir veröffentlichen den Artikel mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Veröffentlicht am

22. Juli 2005

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