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Tsunami, Mangroven und Marktwirtschaft

Von Devinder Sharma - ZNet Kommentar 10.01.2005

Als die ersten Nachrichten über Zerstörungen durch die Tsunami-Killerwelle durchsickerten, stellte ein Nachrichtensprecher des Fernsehkanals ‘Aaj Tak’s Headline Today’, seinem Korrespondenten (live am Ort der Zerstörung in Tamil Nadu/Südindien) die Frage: “Haben Sie irgendeine Ahnung, wie hoch die Verluste für die Geschäftswelt sein werden? Können Sie es herausfinden? Das interessiert unsere Wirtschaftsführer mehr.”

Was der Nachrichtensprecher nicht begriff bzw. nicht wußte: Das Tsunami-Desaster (mit der Zeit sollte es sich als Katastrophe entpuppen) war mehr oder weniger Resultat einer fehlgesteuerten Wirtschaft und falscher Geschäfte. Was die Katastrophe verstärkte, war jene neoliberale Wirtschaftspolitik, die auf Kosten von Menschenleben das Wirtschaftswachstum pusht. Das Desaster ist Folge eines verrückten Wirtschaftssystems - unter Führung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Das Credo dieses Systems lautet: Eigne dir die Umwelt, die Natur und das Leben der Menschen gewaltsam an - für ein unnachhaltiges Wirtschaftswachstum, das nur Wenigen nützt.

Seit den 60gern werden die Meeresküstenregionen Asiens von großen industriellen Shrimps-Firmen geplündert - Firmen, die die umweltfeindliche Aquakultur an die Meeresküsten brachten. Bis zum Jahr 2000 schwoll die Shrimps-Produktion auf eine Größenordnung von über 8 Milliarden Tonnen an. Dies allein war schon massiv schädlich für das fragile Ökosystem. Als “Rape-and-run”-Industrie (Vergewaltige-und-renne-Industrie) bezeichnete die FAO, die “Ernährungs - und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen”, jenen größtenteils von der Weltbank finanzierten Industriezweig.

Fast 72% der weltweiten Shrimps-Produktion findet in Asien statt. Der Ausbau des Shrimpfarmings ging zu Lasten der tropischen Mangroven - einem der wichtigsten Ökosysteme der Welt. Ein Acre 1 zerstörten Mangrovenwalds führt laut Schätzungen zum Verlust von 676 Pound 2 Fischfang aus dem Meer. Die Mangrovensümpfe sind für die Küstenregionen ein natürlicher Schutz vor den großen Wellen. Die Sümpfe bremsen die Wucht der Zyklone. Sie sind die (natürliche) Kinderstube von etwa 3/4 aller kommerziellen Fischarten. Die Fische verbringen einen Teil ihres Lebenszyklus in den Mangrovensümpfen. Davon abgesehen zählen die Mangroven zu den bedrohtesten Lebensräumen der Welt.

Durch die verfehlte Wirtschaftspolitik verschwanden die Mangroven noch schneller - anstatt, daß man die Sümpfe neu angelegt hätte. Ökologen und Umweltexperten warnten, doch die Weltbank stellte sich taub, und die Shrimps-Farmen konnten ihr Werk der Zerstörung fortsetzen. Die Farmen fraßen mehr als die Hälfte des Mangrovenbestandes der Welt. So führte die Aquakultur in Thailand dazu, daß seit den 60gern 65.000 Hektar Mangrovenfläche verlorengingen. Indonesien: Auf Java gingen 70% der Mangroven verloren - Sulawesi 49%, Sumatra 36%.

Als der Tsunami mit aller Macht zuschlug, waren in der indonesischen Provinz Aceh die Holzfirmen gerade emsig dabei, die Mangroven abzuholzen - für den Export nach Malaysia und Singapur. In Indien wurde der Mangrovenbestand in den letzten drei Jahrzehnten auf weniger als 1/3 der ursprünglichen Fläche reduziert. Zwischen 1963 und 1977, als die Aquakultur-Industrie Fuß faßte, vernichtete Indien fast 50% seiner Mangroven. Die dort ansässigen Gemeinden wurden mit Gewalt vertrieben, um Platz zu machen für die Shrimps-Farmen. In Andhra Pradesh wurden mehr als 50.000 Menschen gewaltsam weggebracht, Millionen vertrieben, um Platz für die Aquakultur-Farmen zu schaffen.

Der verbliebene Mangrovenbestand fiel der Hotelindustrie zum Opfer. Die Bauherren kamen - hergelockt und unterstützt durch das ‘Ministerium für Umwelt und Forsten’ bzw. das ‘Industrieministerium’ - und zerstörten die Küste. Fünf-Sterne-Hotels, Golfplätze, Industrien und Villen wurden hochgezogen, die Bedenken der Umweltschützer auf ganzer Linie mißachtet. Die beiden genannten Ministerien machten Überstunden, um die Normen der ‘Coastal Regulation Zone’ (CRZ) aufzuweichen. Dadurch wurde es den Hotels möglich, selbst noch die 500-Meter-Pufferzone (zum Meer), die eigentlich Strand bleiben sollte, zu nutzen.

Wo Marktwirtschaft herrscht - siehe jener deplazierte Slogan vom “Shining India” - sitzen Bürokraten und Industrielle bzw. Big Business und dessen Interessen im selben Boot. Damit trifft die Regierungen und die Verfechter der freien Marktwirtschaft eine große Mitschuld an der ernormen Zahl von Toten.

Der Zufall wollte es, daß im asia-pazifischen Raum der Tourismus-Boom auf die zerstörerischen Folgen einer ausufernden Shrimps-Produktion traf. Im letzten Jahrzehnt war die Zahl der Touristen bzw. Reservierungen (?) hier schneller gestiegen als in jeder anderen Region der Erde - und fast doppelt so schnell wie in den Industrieländern. Laut Prognosen wird der asia-pazifische Raum bis 2010 den amerikanischen Kontinent überrundet haben. Der asia-pazifische Raum sei dann - mit 229 Millionen Reisenden - die zweitgrößte Touristenregion der Welt.

Aber hinter dem prognostizierten spektakulären Wirtschaftswachstum verbergen sich enorme Umweltkosten - Kosten, an denen die Länder der Region kranken und weiter kranken werden. Entlang des gesamten Küstenstreifens - Golf von Bengalen, Arabische See, Straße von Malacca (Indischer Ozean) - sowie entlang der gesamten Küste des Südpazifischen Ozeans wurde in den vergangenen beiden Jahrzehnten massiv in Hotelanlagen und Tourismus investiert.

Der Grund, weshalb Myanmar und die Malediven weit weniger von der Tsunami-Killerwelle betroffen waren, ist folgender: An diesen Orten hatte der Krake Tourismus-Industrie seine Tentakel noch nicht bis in die jungfräulichen Mangroven und Korallenriffe, die die Küste umschließen, vorgereckt. Auf den Malediven beispielsweise wurde die wütende Flut von den ausgedehnten Korallenriffen, die die Inseln umschließen, absorbiert. Dadurch verloren nur etwas über 100 Menschen ihr Leben. Die Korallenriffe fangen das wütende Meer ab und brechen die Wellen. (Tragischerweise sind weltweit mehr als 70% der Korallenriffe zerstört.)

Auf ähnliche Weise entkam auch die Inselkette Surin - westlich der thailändischen Küste - größerer Zerstörung. Zwar hämmerten die wilden Wogen gegen den Korallenring, der die Inseln umschließt, doch der hielt stand. Das half, die tödliche Wucht der Tsunamis zu brechen. Die Mangroven schützen die Offshore-Korallenriffe - indem sie den Schlamm, der vom Land ins Meer sickert, ausfiltern. Der zunehmende Tourismus - gleich ob Ökotourismus oder Spaßtourismus - trägt zur Dezimierung der Mangroven und zur Zerstörung der Korallenriffe bei. Bei zumindest intakten Mangrovenbeständen wären die Schäden durch den Tsunami wesentlich geringer ausgefallen.

Laut Ökologen bieten die Mangroven in doppelter Hinsicht Schutz vor Tsunamis. Da ist zum einen der äußere Ring aus roten Mangroven - mit ihren flexiblen Armen und den ineinanderverwobenen Wurzeln, die in die Küstengewässer ragen. Sie absorbieren die ersten Schockwellen. Der zweite Ring besteht aus hohen, schwarzen Mangroven. Dieser fungiert wie eine Mauer und widersteht der wütenden See weitgehend. Hinzu kommt: Mangroven absorbieren mehr Kohlendioxid - pro Fläche - als das Meeresplankton: ein wichtiger Faktor beim Thema Erderwärmung.

1960 war in Bangladesh eine Tsunami-Welle auf einen Küstenabschnitt mit intaktem Mangrovenbestand getroffen: kein einziger Toter. Danach wurden die Mangroven abgeholzt, an ihre Stelle traten Shrimps-Farmen. 1991 kam es in derselben Region erneut zu einem Tsunami mit derselben Stärke. Diesmal starben tausende von Menschen. Tamil Nadu, Südindien, Pichavaram und Muthupet, wo die Mangroven noch dicht stehen, hat geringere Opferzahlen bzw. wirtschaftliche Verluste durch den Tsunami vom 26. Dezember 2004 erlitten. Oder man denke an die berühmten Mangroven von Bhiterkanika in Orissa (wo auch die Olive-Ridley-Schildkröten brüten). Im Oktober 1999 gab es dort einen Zyklon. Die Mangroven schwächten die Wirkung des “Superzyklons”, der mehr als 10.000 Menschen tötete und Millionen obdachlos machte.

Das Epizentrum des Killer-Tsunamis vom 26. Dezember lag nahe der Insel Simeuleu in Indonesien. Die Opferzahlen auf der Insel sind relativ niedrig - aus einem sehr einfachen Grund: Die Einheimischen verfügen noch über traditionelles Wissen. Sie wußten, nach einem Erdbeben folgt unweigerlich ein Tsunami. Auf der Insel Nias, direkt neben Simeuleu, fungierten die Mangroven als Mauer und bewahrten die Menschen vor größerem Schaden. Es wäre eine Herausforderung für die Entwicklungsländer, sich die altbewährten Technologien (wieder) anzueignen - Technologien, die in den hier ansässigen Gemeinden perfektioniert wurden.

Welche relativen Vorteile könnten sich aus einem Umweltschutz ergeben, der dazu beiträgt, die Schäden der wachstumsorientierten Marktwirtschaft zu reduzieren? Schauen wir es uns an. In den letzten 15 Jahren wurde das Shrimpfarming verzehnfacht. Shrimps-Farmen sind heute ein 9-Milliarden-Industriezweig. In den letzten 10 Jahren, so Schätzungen, nahm der Shrimps-Konsum in Nordamerika, Japan und Westeuropa um 300% zu.

Allein die Folgen der Zerstörungswelle des Tsunami vom 26. Dezember in 11 asiatischen Ländern übertreffen die von der Shrimps-Industrie - angeblich - erwirtschafteten Gewinne um ein Mehrfaches. Mehr als 150.000 Menschen starben. Das ganze Ausmaß der schockierenden sozialen und ökonomischen Verluste wird sich erst im Laufe der Zeit zeigen. Regierungen weltweit haben bis dato Hilfen in Höhe von 4 Milliarden US-Dollar zugesagt. Darin noch nicht enthalten: die Milliardensummen der Hilfsorganisationen. Die Weltbank überlegt derzeit, ihr Hilfspaket auf 1,5 Milliarden Dollar aufzustocken. Bis zum 10. Januar 2005 gab die Weltbank $175 Millionen. Weltbankpräsident James Wolfensohn wird mit den Worten zitiert: “Wir können sogar bis $1 Milliarde oder $1,5 gehen, je nach Bedarf”. Zusätzlich plant das Welternährungsprogramm (WFP), rund 2 Millionen Überlebende die nächsten 6 Monate mit Nahrung zu versorgen. Diese Lebensmittelaktion wird vermutlich $180 Millionen kosten.

Aber viele Menschen könnten noch leben, hätte nicht ein Weltbankpräsidenten nach dem andern eine marktfreundliche und gleichzeitig umweltfeindliche Wirtschaftspolitik aggressiv promotet. Was hat die Welt nun durch die durchgedrückten Marktreformen gewonnen, bei denen Umweltschutz und Menschenleben nicht zählen? Wie will Wolfensohn seine finanzielle Unterstützung für Aquakulturen und Tourismus-Industrie rechtfertigen? Durch eine Kosten-Nutzen-Analyse? Aber bitte unter Einbeziehung der sozialen Kosten.

Beispiel Shrimpfarming: Eine Shrimps-Farm durchläuft einen Lebenszyklus von maximal 2 bis 5 Jahren. Danach werden die Teiche aufgegeben. Zurück bleiben Giftabfälle und ein zerstörtes Ökosystem. Gemeinden wurden umgesiedelt, Existenzen vernichtet. Diese Farmen gehen zu Lasten der natürlichen Ökosysteme, einschließlich der Mangroven. Ist alles vorbei, beginnt der Kreislauf von neuem - in einem anderen unberührten Küstenabschnitt. Es wird geschätzt, daß Shrimps-Farmen der Wirtschaft etwa fünfmal mehr Verluste zufügen, als sie potentielle Gewinne erwirtschaften.

Nicht viel besser fällt die Bilanz beim Tourismus aus. In Kerala in Südindien (das mit dem Slogan “Gottes eigenes Land” wirbt) wurden die Mangroven vernichtet - im verzweifelten Bemühen, Touristen anzulocken. Erst jetzt, nach dem Tsunami, verkündet die Regierung des Bundesstaats in aller Eile ein Flutwellenschutzprojekt für die Küste Keralas. Das Projekt soll 340 Millionen Rupien kosten. Auch in anderen Touristenorten Asiens wird man jetzt vermutlich ins Grübeln kommen. Die wichtige Frage lautet: Muß es immer erst zu hohen Opferzahlen kommen, bevor wir begreifen, wie wahnwitzig es ist, das dumpfe Mantra der Marktökonomie blind nachzuplappern? Wieviele müssen noch sterben, wieviele Millionen ihr Heim verlieren, ehe wir erkennen, was für ein schwerer Fehler es ist, die Marktwirtschaft zu pushen? Wer zieht die Ökonomen der freien Marktwirtschaft zur Verantwortung - für all die Toten und das menschliche Elend?

Devinder Sharma (Neu Delhi) ist ‘food und agriculture policy analyst’ dsharma@ndf.vsnl.net.in

Anmerkung d. Übersetzerin:

1 1 Acre = 4046,8 Quadratmeter

2 1 Pound = 453,59 Gramm

Quelle: ZNet Deutschland vom 13.01.2005. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: “Tsunami, Mangroves and Market Economy”

Veröffentlicht am

14. Januar 2005

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