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“Null Hunger”-Mobilisierung in Brasilien. Präsident Lulas Sozialpolitik

Der brasilianische Dominikanermönch und weltweit bekannte Befreiungstheologe Frei Betto weilte anlässlich der Aktivitäten zum 25jährigen Bestehen der entwicklungspolitischen Informationsagentur “Südwind” (ehemals: Österreichischer Informationsdienst für Entwicklungspolitik/ÖIE) am 8. und 9. Oktober 2004 in Wien. Frei Betto ist Sonderberater in der Regierung Lula für das Programm “Fome Zero” (“Null Hunger”), durch das bis Ende 2006 alle Armen drei Mahlzeiten täglich erhalten sollen.

Von Frei Betto - Vortrag am 8.10.2004 in Wien

Ich möchte zuerst dem Renner-Institut für diese Einladung danken und im Besonderen dem Compañero Werner Hörtner für seine ganze Arbeit und dass er mich überzeugt hat, für zwei Tage hierher zu kommen und mit euch die Sozialpolitik des Präsidenten Lula zu debattieren. Es freut mich, zum dritten Mal in diese Stadt zu kommen. Einmal kam ich, um, wie Martin Janata schon erwähnte, den Preis der Bruno-Kreisky-Stiftung entgegenzunehmen (1988).

Der Grund, weshalb Präsident Lula dem “Null Hunger” eine so große Priorität einräumt, hat im Wesentlichen drei Komponenten. Es ist nicht nur ein Kampf gegen den Hunger in Brasilien und weltweit. Im September des Vorjahres bei der Eröffnung der Generalversammlung der UNO hat Lula eine große weltweite Mobilisierung gegen den Hunger vorgeschlagen. Mehr Tote als alle chemischen Waffen, die Bush im Irak nicht gefunden hat, fordert der Hunger heutzutage.

Es gibt fünf Faktoren für einen vorzeitigen Tod: Krankheiten, Verkehrs- und Arbeitsunfälle, Kriegsgeschehen, Terrorismus und Hunger. Die Anzahl der Opfer der ersten vier Faktoren erreicht nicht einmal die Hälfte der Zahl der Hunger-Opfer. Gestern war ich in Brasilia mit Lula bei einem Mittagessen, zusammen mit dem Generalsekretär der FAO (UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft), Jacques Diouf. Dieser sagte, dass es heute auf der Welt 840 Millionen Menschen im Zustand chronischer Unterernährung gibt. Alle 24 Stunden sterben 24.000 Menschen an den Folgen des Hungers, das heißt eine Person alle 3,6 Sekunden.

Da erhebt sich eine Frage: Warum so viel Mobilisierung auf der Welt gegen den Terrorismus, gegen die Krankheiten, gegen die Kriege und so wenig Mobilisierung gegen den Hunger? Die einzige Antwort, die ich bis jetzt gefunden habe, ist zynisch: Von den fünf Faktoren, die ich vorhin erwähnt habe, ist der Hunger der einzige, bei dem es Klassenunterschiede gibt. Als ob wir Wohlgenährten sagen würden: das mit dem Hunger von diesen Elenden, das berührt mich nicht.

Wir sind heute etwas über 6 Milliarden Menschen auf der Welt, von denen zwei Drittel unterhalb der Armutsgrenze leben. Man kann also nicht sagen, dass wir in der besten aller Welten leben würden. Mit Ausnahme von uns, die wir hier anwesend sind, die wir von der biologischen Lotterie preisgekrönt wurden, denn niemand von uns hat die Familie oder das Land oder die soziale Klasse, in die er geboren wurde, selbst ausgesucht. Die Wahrscheinlichkeit in der biologischen Lotterie in Lateinamerika hingegen, in die Armut hineingeboren zu werden, ist viel höher. Das müsste sich in unserem humanitären Gewissen als eine soziale Schuld niederschlagen. Was sollen wir tun, um jenen zu helfen, die nicht dieses Glück hatten? Denn dieses Glück und die ganze biologische Lotterie ist eine schwerwiegende Ungerechtigkeit.

Alle Menschen sollten in Umstände hineingeboren werden, damit sie in Würde leben können. Die Universale Erklärung der Menschenrechte sagt ganz klar: Alle Menschen sind von Geburt aus gleich. Das ist aber nicht wahr. Die in Elend lebenden Frauen in Lateinamerika, in Afrika bekommen ihre Babies unter völlig ungleichen Umständen. Gemäß der FAO könnte unser Planet zwölf Milliarden Münder ernähren, d.h. das Doppelte der gegenwärtigen Bevölkerung. Das Problem der Welt ist also nicht zu wenig Ernährung und zu viele Münder. Es ist die mangelnde Gerechtigkeit.

Dasselbe in Brasilien. Wir haben 180 Millionen Einwohner. Und jeden Monat produzieren wir in den Hotels, den Restaurants, aber auch im Haushalt - so viel Speiseabfall, dass wir damit 35 Millionen Menschen ernähren könnten. Wir zählen zu den fünf größten Nahrungsproduzenten der Welt. Und gleichzeitig leben 53 Millionen Menschen in Armut. Das ist der erste Grund, weshalb Präsident Lula beschlossen hat, dem Kampf gegen den Hunger höchste Priorität einzuräumen.

Im Dezember 2002, als er bereits gewählt war, aber noch vor dem Amtsantritt, reiste Lula zu einem Besuch des Präsidenten Bush nach Washington. Und Bush fragte ihn: “Wie wird Brasilien reagieren, wenn die Vereinigten Staaten den Wunsch äußerten, sich militärisch im Irak zu engagieren?” Und Lula antwortete: “Herr Präsident Bush, unser Krieg in Brasilien ist nicht dazu da, Leben zu nehmen, sondern Leben zu retten.” Und ich kann hinzufügen, dass Brasilien sich an der Invasion des Irak nicht beteiligt hat.

Der zweite Grund ist genau der, dass wir in Brasilien 53 Millionen Menschen im Zustand chronischer Unterernährung haben. Weiter haben wir eine sehr hohe Kindersterblichkeit: 29 Kinder von 1000 Neugeborenen sterben. In der ganzen republikanischen Geschichte Brasiliens gab es nur einen Präsidenten, der aus der Armut kam, und zwar im Jahre 1909. Lula ist eine andere Ausnahme: er ist der Einzige, der aus dem Elend kam. Von den zwölf Kindern seiner Mutter sind vier gestorben, noch bevor sie fünf Jahre alt waren. Lula erinnert sich sehr oft an die Zeiten seiner Kindheit. Das ist der dritte Grund.

Unser Bemühen beim Entwerfen des “Null Hunger-Programms” war es, keine Hilfskampagne ins Leben zu rufen. Wir wollten ein Programm öffentlicher Politiken zur sozialen Eingliederung der Menschen ausarbeiten. Das Prinzip von Null Hunger” ist: Eine Familie, die von dem Programm begünstigt wird, muss so weit kommen, dass sie morgen diese Unterstützung nicht mehr notwendig hat. Was tun also, dass diese 11,4 Millionen Familien, das sind eben die erwähnten 53 Millionen Menschen, von der sozialen Ausgrenzung zur Integration gelangen? Es kann sich nicht darum drehen, Lebensmittel zu sammeln und an die Menschen zu verteilen, denn das führt nicht weiter.

“Null Hunger” ist ein Programm der öffentlichen Politik, das im Wesentlichen auf drei Beinen steht. Das erste ist das “Familien-Stipendium”. Das besteht darin, dass wir jeden Monat an die ärmsten Familien im Lande ein Geld auszahlen. Heute werden von den 11,4 Millionen, die wir anpeilen, bereits 5 Millionen im Rahmen dieses Programms begünstigt. Bis Jahresende wollen wir 6,5 Millionen erreichen. Das ist für uns ein beträchtlicher Fortschritt. Beträchtlich, weil wir damit sogar über den Zahlen liegen, die wir zu Beginn der Regierungszeit Lulas im Januar 2003 prognostiziert hatten.

Wie läuft nun diese Geldüberweisung ab? Wir haben einen Kataster mit den Namen dieser Familien. Die Namen werden von den Bürgermeisterämtern in Zusammenarbeit mit den “Null Hunger-Komitees”, so wie wir sie jetzt nennen, eingetragen. Das sind Organisationen der lokalen Zivilgesellschaft. Wir haben nämlich Angst, diese Aufgabe allein den Bürgermeistern anzuvertrauen. Die sind auch nur Menschen, und oft gibt es Fälle von Korruption, oder sie würden einen Verwandten oder einen Freund in dieses Verzeichnis eintragen. Es ist also wichtig, dass die Zivilgesellschaft über diesen Kataster Kontrolle ausübt.

Jede Familie bekommt im Monat 73 Reales, das sind ungefähr 22 Euros. Im Vergleich zu euren Verhältnissen, ist das natürlich sehr wenig. Aber für Menschen, die nie etwas hatten oder unter der letzten Regierung vielleicht 7 Euros im Monat bekamen, bedeutet das viel. Dieses Geld wird direkt an die Frauen ausgezahlt. Man bräuchte jetzt nur die Frauen fragen, die wüssten, weshalb wir es nicht an die Männer auszahlen. (Lachen im Publikum) Die Frau bekommt eine Karte, geht damit jeden Monat zur Bundesbank oder, wenn es die nicht gibt, dann zum Postamt, und hebt dort das Geld ab. Für jedes Kind im schulpflichtigen Alter aber nur bis zur Grenze von drei Kindern gibt es 4 Euro mehr. Und für jede Person über 65 Jahre, die im selben Haushalt lebt, gibt es 60 Euro mehr. Auch für geistig behinderte Menschen gibt es einen Zuschlag von 62 Euros, das ist der gegenwärtige Mindestlohn in Brasilien. Wir führen nämlich eine Kampagne durch, die darin besteht, geistig behinderte Menschen aus den Anstalten herauszuholen. Und oft zahlen das Bürgermeisteramt und die Provinzregierung noch etwas dazu.

Das ist das erste Standbein. Dieses Stipendium ist jedoch mit drei Bedingungen verknüpft: Schulbesuch der Kinder, Teilnahme an einem Gesundheitsprogramm Untersuchungen, Impfungen usw. und Alphabetisierung. Wir machen zur Zeit auch eine große Alphabetisierungskampagne. “Null Hunger” ist ja nicht das Projekt eines einzigen Ministeriums, sondern der gesamten Regierung. Also der gesamten öffentlichen Hand mit Beteiligung der Zivilgesellschaft. Hier beginne ich nun mit dem zweiten Standbein des Programms.

Das zweite Standbein ist die Strukturpolitik. Was heißt das? Es genügt nicht, Geld an die Familien zu überweisen, auch wenn einige Leute, die ich aus diplomatischen Gründen nicht nennen will, glauben, das wäre schon genug. Wir aber glauben, dass es strukturelle Veränderungen braucht. Und so gibt es eine ganze Reihe von Politiken mit Beteiligung der Zivilgesellschaft, um Bedingungen zu schaffen, dass diese Familien selbst ein Einkommen erwirtschaften und sich sozial in die Gesellschaft integrieren können. Die wichtigste dieser Bedingungen ist die Agrarreform.

Brasilien ist ein Land, das nie eine Agrarreform erlebte. Wir haben viele Großgrundbesitze, auf einigen arbeiten die Leute sogar noch wie Sklaven. Es gibt also einen Nationalplan zur Agrarreform, und es gibt eine Bewegung, die Bewegung der Landlosen, MST, mit der die Regierung ausgezeichnete Beziehungen hat. Sie fällt zum Glück nicht in die Falle, die ihr gerne gelegt wird, nämlich die MST entweder in die Regierung hereinzuholen oder zu kriminalisieren. Lula ist ja ein Ergebnis der sozialen Bewegungen. Es wäre ein großer Widerspruch, wenn er nun sozialen Bewegungen cohabitieren oder unterdrücken wollte. Die Leute von der extremen Rechten stört das natürlich, wenn die MST weiter mobilisiert, doch das ist schließlich ihr gutes Recht.

Ein Detail dazu. Alle Präsidenten bisher wollten eine Bevölkerung, die ruhig, unbeweglich ist. Lula ist der erste Präsident, der neben seiner Kanzlei ein Büro der sozialen Mobilisierung geschaffen hat. Das ist das erste Mal, dass sich eine Regierung darum kümmert, die soziale Mobilisierung zu fördern. Neben der Agrarreform umfasst dieses zweite Standbein noch Wohnbauförderung, Wasserver- und Entsorgung, Berufsausbildung, Hausgärten, Gemeinschaftsküchen, Volksrestaurants ein ganzes Konvolut von Politiken. Bis 2006 sollen 530.000 Familien in den Genuss der Agrarreform kommen. Die MST wollte eine Million, doch Lula hat ihnen gesagt: “Schaut, das mit einer Million ist das Wünschenswerte, doch wir haben nicht die Ressourcen, um das durchzuführen.” Neben der Agrarreform haben wir jetzt auch noch mit dem Programm “Null Durst” begonnen.

… (Es folgen nun Ausführungen über ein System der Sammlung von Regenwasser in Zisternen.)
Mit dem Sammeln von Regenwasser, wodurch die Familien die Zeit der Trockenheit mit genügend Wasser überstehen können, erreichen wir drei Emanzipationen: eine politische, eine ökonomische und eine soziale. Eine politische, weil es in der trockenen Region im Nordosten des Landes ein ganzes System gibt, das eben von der Ausbeutung der Trockenheit lebt: die Tankwagen, Wasserverkäufer usw. Eine ökonomische, weil das Wasser der Familie den Aufbau einer kleinen Landwirtschaft ermöglicht. Noch nie hat eine Regierung in Brasilien soviel Geld dafür aufgewendet, um eine familiäre Subsistenzwirtschaft aufzubauen. Es gibt dafür auch Mikrokredite mit 3 Verzinsung im Jahr. Das ist eine Revolution, denn die Banken verlangen 12 bis 15 Zinsen im Monat. Und eine soziale Emanzipation, da die Frauen und Kinder nicht mehr kilometerweit gehen müssen, um Wasser zu holen und stattdessen in die Schule gehen oder ihrer Arbeit nachgehen können. Das Wasser wird für den Haushalt und für die Pflanzung verwendet.

Das dritte Standbein des Programms “Null Hunger” ist die Erziehung. Ihr werdet wahrscheinlich schon den Namen Paulo Freire gehört haben. Dieser brasilianische Pädagoge hat die so genannte “Pädagogik der Unterdrückten” entwickelt. Wenn ihr mich fragt, wieso es in einem Land voller Ungleichheiten wie Brasilien, wo die Bankiers noch viel reicher sind als in Europa, ein Mann wie Lula Präsident wird, so würde ich einen Verantwortlichen nennen: Paulo Freire. Ohne seine Methodologie hätten sich in Brasilien in den letzten 40 Jahren - ein Teil davon noch in der Zeit der Militärdiktatur, die von 1964 bis 1985 dauerte - niemals so viele soziale Bewegungen gebildet, wie wir sie heute haben. Und Lula ist eine Folge dieser Entwicklung. Deshalb genügt es nicht, den Hunger nach Brot zu stillen, sondern auch den Hunger nach Schönheit, nach Kultur, nach den Rechten.

Deshalb haben wir im Rahmen des “Null Hunger-Programms” so genannte Talleres, Werkstätten, gegründet. Ein Team von 10 Fachleuten hat 800 ErzieherInnen ausgebildet, die nun im ganzen Land mit den Menschen daran arbeiten, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen. Zum Beispiel in der Landwirtschaft alternative Produktionstechniken einzuführen oder andere Produkte anzubauen.

Wir sind überzeugt, dass der Hunger, der das größte Problem in der heutigen Welt ist, auch wenn nur wenige Menschen davon reden, eine soziale Schande ist. Es ist eine Schande, dass es zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch Menschen gibt, die nicht einmal ihre tierischen Bedürfnisse befriedigen können, denn jedes Tier hat das Recht auf Essen. Und diese Schande kann nur dann beendet werden, wenn es gelingt, das soziale Problem in eine politische Angelegenheit zu verwandeln. So ist es mit der Sklaverei passiert, die jahrhundertelang als normal und legal betrachtet und von der Kirche unterstützt wurde. Oder auch mit der Folter, die lange Zeit als ein legales Instrument des Verhörs angesehen wurde. Wir müssen den Hunger und die Armut als eine schwere Verletzung der Menschenrechte betrachten und das in eine politische Angelegenheit umwandeln. Wenn wir es eines Tages in unserer Kultur schaffen, Schande zu empfinden, dass es Armut gibt, so wie wir angesichts der Sklaverei oder der Folter Scham empfinden, dann sind wir in unserem zivilisatorischen Prozess ein gutes Stück weitergekommen.

Antworten von Frei Betto in der Diskussion:

Freihandelsabkommen ALCA: Die Regierung Lula hat den ursprünglichen Text des Gesamtlateinamerikanischen Freihandelsabkommens ALCA nicht akzeptiert. Die Position Brasiliens ist eine kritische. Wir lehnen so ein Abkommen nicht grundsätzlich und völlig ab; wir versuchen, eine bessere Form der lateinamerikanischen Integration zu finden. Eine Integration, die nicht darin besteht, dass unsere Länder von einem anderen Staat annektiert werden. Deshalb hat Lula versucht, zuerst den MERCOSUR zu reaktivieren und die Anden-Gruppe Ecuador, Venezuela, Kolumbien, Peru an diese Gemeinschaft heranzuführen. Brasilien hat Venezuela verteidigt. Und da möchte ich erwähnen, dass es in der ganzen Geschichte Lateinamerikas noch nie einen Präsidenten gegeben hat, der so oft demokratisch legitimiert wurde wie Chávez. Und US-Außenminister Colin Powell, der in dieser Woche Brasilien besuchte, gab zu, dass Lula recht hatte, als er Bush sagte: Die Legitimität von Chávez nicht anzuerkennen, bedeutet, neuerlich ein Fenster zur Rückkehr der Diktaturen nach Lateinamerika zu öffnen.

Beziehung zur Bewegung der Landlosen, MST: Bezüglich der MST kann ich sagen, dass die Regierung beste Beziehungen zur Landlosen-Bewegung hat. Bevor ich in die Regierung eintrat, war ich ja Berater der MST. Wir führen den ganzen Agrareform-Prozess in enger Zusammenarbeit mit der MST durch. Es stimmt, dass diese Bewegung mit ihren Landbesetzungen fortfährt. Normalerweise sind es wohlüberlegte Aktionen, bei denen brachliegende, unproduktive Ländereien besetzt werden. Manchmal kommt es aber auch zu Irrtümern dabei. Die Mobilisierungen der MST vermitteln der Presse den Eindruck, dass eine Unzufriedenheit mit der Agrarreform herrscht. Nein, es gibt vielmehr Unterstützung. Es stimmt, dass die Agrarreform nicht so schnell voranschreitet, wie Lula es gerne hätte. Dieses Jahr hatten wir z.B. ein großes Problem, nämlich den Streik des technischen Personals des Agrarreform-Ministeriums. Ein langer Streik. Gerade vor zwei Tagen hat der Minister dieses Ressorts im Fernsehen bekannt gegeben, dass wir in der Landverteilung im Rückstand sind. Wir haben bis jetzt an 72.000 Familien Land verteilt, aber wir werden die 115.000, die wir bis Jahresende geplant haben, nicht erreichen.

Zusammenarbeit der lateinamerikanischen Länder: Die Beziehungen Brasiliens zu den anderen lateinamerikanischen Staaten sind ausgezeichnet. Brasilien ist ja ein Land mit kontinentalen Ausmaßen. Doch trotz dieser Größe haben wir nicht die geringste imperialistische Anwandlung. Lula ist in den internationalen Foren so etwas wie ein Sprecher für Lateinamerika geworden. In Cancún hat Lula an die zwanzig Länder vereinigt, um die WTO zu veranlassen, ihre Kriterien etwas zu revidieren. Einige haben diese Konferenz dann als einen Fehlschlag interpretiert, doch für uns war sie ein Erfolg. Wir haben ein Recht darauf, dass in der WTO ausgewogenere Kriterien eingeführt werden. Es gibt nun ein interessantes Phänomen: Viele Länder in Lateinamerika wollen nun auch so etwas machen wie unser “Null Hunger-Programm”. Ich habe schon viele Länder besucht, um unsere Erfahrungen darzulegen. Wir wollen dieses Modell nicht exportieren, jedes Land muss so ein Programm gemäß den eigenen Gegebenheiten entwerfen. Wir betonen aber immer wieder, dass es sich um kein Hilfsprogramm handelt. Es ist ein Programm der sozialen Einbeziehung.

Rolle des IWF als Verursacher von Hunger in der Welt und Brasilien; Rückzahlung der Auslandsschuld: Man muss die Regierung Lula mit zwei verschiedenen Brillen sehen. Man darf nicht vergessen: Lula hat die Wahlen gewonnen, doch er hat keine Revolution gemacht. Viele Linke erwarten von Lula mehr, als er tun kann. Sie betrachten ihn als einen Fidel Castro, der am 1. Januar 1959 siegreich in Havanna einzog und die ganzen Strukturen des Staates, der Justiz usw. übernahm. Nein, Lula hat nur eine Wahl gewonnen, und das in einem Land mit einem sehr gut organisierten konservativen Lager. Man kann nicht sagen, dass viele Institutionen des Staates sehr fortschrittlich wären. Man muss also mit Weisheit und Geduld vorgehen und verhandeln. Außerdem wurde das Abkommen mit dem IWF von der vorhergehenden Regierung unterzeichnet. In unserem lateinamerikanischen Bewusstsein ist uns sehr präsent, dass wir keine Links-Demagogie betreiben dürfen. Die Regierung untersucht zur Zeit, ob sie das Abkommen mit dem IWF im nächsten Jahr erneuern wird oder nicht. Und wenn sie es unterschreibt, dann ist die Frage, wie dieses Abkommen aussieht. Es wird sicher nicht so aussehen wie das, das Cardoso unterzeichnet hat. Ein anderer Punkt, den man betrachten muss, ist: Wir sind wohl an die Regierung gekommen, aber das bedeutet nicht, dass wir an die Macht gekommen wären. Und in unserem Gedächtnis ist uns noch sehr präsent, dass in zwei Ländern die Menschen glaubten, an die Regierung zu kommen heißt auch, an die Macht zu kommen: in Chile unter Salvador Allende und die Sandinisten in Nicaragua. Und die Macht hat ihnen dann gezeigt, dass sie wohl die Regierung hatten, aber nicht die Gewalt im Staate. Wir wollen nicht wieder so eine Seite in der Geschichte Lateinamerikas aufschlagen. Wir wollen das tun, was uns bei den letzten Gemeindewahlen wieder ein Stück gelungen ist: die Gesamtheit der brasilianischen Gesellschaft überzeugen, dass wir das beste Programm haben, um unser Land aus dem Elend, aus der Unterentwicklung herauszuführen, die sozialen Ungleichheiten zu reduzieren und für die künftigen Generationen die Bedingungen für ein Leben in Würde zu schaffen. Es braucht viel Geschick dafür, allmählich immer mehr Parzellen der Macht zu erobern. Darum dreht es sich. Lula hat gegenwärtig eine Zustimmung von fast 60 Prozent in der Öffentlichkeit. Er wurde mit knapp über 60 % gewählt. Das bedeutet ein starkes politisches Kapital. Der Sieg der Arbeiterpartei in 400 wichtigen Kommunen des Landes, in fünf Hauptstädten und bei der Stichwahl am 31. Oktober können noch mehr Bürgermeisterämter dazu kommen - , das alles ist ein wichtiges Kapital, um eine gute Verwaltung aufzubauen. Man muss sich vor Augen halten, dass wir noch nicht einmal zwei Jahre an der Regierung sind. Wir können also nicht alle Erwartungen erfüllen. Wir haben auch unsere Fehler, wir befinden uns in einem Lernprozess. Wie Lula sagte: “Verlangt von mir keinen vollständigen Kurs für Präsidenten. Das erste Diplom in meinem Leben, das ich bekam, war das Präsidenten-Diplom. Und dieses Diplom erhält man, noch bevor man den Kurs macht. Nun beginne ich erst mit dem Kurs.” Das ist etwas, was man in der Praxis lernt und nicht in der Theorie.

Gesetz zum Grundeinkommen von Anfang 2004: Das Grundeinkommen ist ein Vorhaben der Arbeiterpartei, ausgearbeitet von einem im Lande sehr geschätzten Senator aus São Paulo, Eduardo Suplicy. Lula hat dann diesen Plan offiziell unterzeichnet. Demnach sollen alle Brasilianerinnen und Brasilianer, unabhängig von ihrer sozialen Klasse, ein Basiseinkommen erhalten. Ich glaube, dass wir stufenweise in diese Richtung gehen. Wenn wir unseren Plan erfüllen und bis 2006 11,5 Millionen in den Genuss des “Null Hunger-Programms” kommen und wenn Lula die Wahlen im Oktober 2006 neuerlich gewinnt, dann werden wir diesen Prozess des Grundeinkommens noch weiter vertiefen. Das ist eine Verpflichtung, aber auf diesem Weg gibt es noch viele Hindernisse zu überwinden.

Ergänzung durch Matthias Reichl,
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit, Bad Ischl:

Gentechnische Nahrungsmittel - mein Diskussionsbeitrag an Frei Betto: Wie stehen Sie zum Abrücken der Regierung von der bisherigen gentechnikfreien Zone Brasilien? Werden nun die Armen mit gentechnischen Nahrungsmitteln gespeist?

Frei Betto antwortete (zusammengefasst): Er erklärte die Schwierigkeiten bedingt durch den Anbau von Gentech Pflanzen in den Nachbarstaaten. Doch die Brasilianer würden - wie er - weiter nur natürlich und ohne Gentechnik gewachsene Nahrungsmittel essen. Er schilderte diese Einstellung sehr eindrücklich und überzeugt. Die Gentech-Produktion würde seines Wissens nach nur ins Ausland (u.a. nach China und Europa) exportiert.

Mein Kommentar dazu: Leider blieb keine Zeit, offene Fragen und Widersprüche in seiner Antwort zu diskutieren. Denn der Bundesstaat Rio Grande do Sul - die Heimat des verstorbenen Umweltaktivisten José Lutzenberger - war bis vor kurzem eine gentechnikfreie Zone, bis sich Monsanto mit seinen GentechFood-Plantagen durchsetzte. Ob der Nachbarstaat Santa Catarina sein Durchfuhrverbot für Gentechprodukte lange durchhalten wird, ist fraglich. Also wird - wie in der EU - die Gentechnik in Billigprodukten schrittweise das Land überschwemmen und kontaminieren?

Matthias Reichl

Quelle: Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit E-Rundbrief - Info 150 - RB Nr. 114 vom 30.10.2004.

Hinweise:

  • Frei Betto: Zero Hunger Social Mobilization. Federal Republic of Brazil. (Mit Texten von Präsident Lula zur Beseitigung des Hungers in Brasilien). 2004 FOMEZERO (www.fomezero.gov.br). Kostenlos
  • Hunger ist kein Schicksal. Beiträge u. a. von Jean Ziegler und zu Landlosen in Brasilien, redigiert v. Wolfgang Kessler (Publik-Forum) u. Armin Paasch (FIAN-Deutschland). Dossier-Beilage in “Publik-Forum” Nr. 18/2004. Publik-Forum Verlagsgesellschaft. ? 3,40

Siehe ebenfalls:

Veröffentlicht am

31. Oktober 2004

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