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Gewaltlose mexikanische Abrechnungen

Der Autor des folgenden Textes ist Baldemar Velasquez, Jahrgang 1947, Gründer und Präsident des Farm Labor Organizing Committee (FLOC). FLOC, Mitglied im AFL-CIO, dem amerikanischen Gewerkschaftsdachverband, ist eine Landarbeitergewerkschaft im Mittleren Westen der USA. Seine Mitglieder sind Wanderarbeiter zumeist mexikanischer Abstammung, die im Sommer auf den Feldern in Ohio und Michigan Gurken und Tomaten ernten. Aufgrund der kurzen Erntezeit, wegen häufig fehlender Papiere, sowie dem Wohnen in den Camps der Farmer, sind sie den Farmern und deren Crewleadern genannten Mittelsmännern ausgeliefert. Dennoch hatte es FLOC nach sieben Jahren Streik und sechs Jahren Boykott geschafft, 1986 die ersten Arbeitsverträge abzuschließen, denen weitere folgten. Diese Arbeitsverträge erkannte FLOC als Vertreter der Landarbeiter an, garantierte ein Beschwerdesystem und brachte moderate Lohnerhöhungen. Zurzeit hat FLOC zu einem Boykott der Gurken von Mount Olive aufgerufen, da diese in North Carolina angesiedelte Firma versucht, durch noch niedrigere Löhne und schlechtere Arbeits- und Lebensbedingungen die Gurken aus Ohio und Michigan zu unterbieten.

Der nachfolgend abgedruckte Beitrag ist die Eröffnungsrede, die Baldemar Velasquez am 28. April 2004 in einem offenen Forum in Mexiko City gehalten hat, das vom mexikanischen Senat und der Mexikanisch-Amerikanischen Solidaritätsstiftung veranstaltet wurde. (Volker Grotefeld)

Gewaltlose mexikanische Abrechnungen

Von Baldemar Velasquez

Die anhaltende Debatte über die Einwanderung in die Vereinigten Staaten wurde zu einem der zentralen Anliegen der Latino-Bevölkerung in diesem Wahljahr. Aber wie auch schon vergangene Debatten verdrängt sie die schäbige Geschichte von Amerikas Wirtschaftsimperativ, die die öffentliche Politik seit den Zeiten der ursprünglich dreizehn Kolonien bestimmt hat.(…)

Es ist beschämend, daß die amerikanischen Filmemacher diesen Teil des amerikanischen Charakters verewigen, indem sie den Angelo als Helden und die farbigen Menschen als Bösewichte, Witzfiguren oder Diener darstellen. Der aktuellste Film, der in Kinos in den Vereinigten Staaten gezeigt wurde und den Kern des Immigrationsthemas zwischen den USA und Mexiko berührt, ist die neuste Version des Filmes “Alamo”. 1 Dieses Beispiel von revisionistischer Geschichte hat Bowie, Travis, Crockett und ihre Gruppe immer als “Freiheitskämpfer” porträtiert, die für die Freiheit gegen die schlechte Diktatur von General Santa Anna kämpften. Auch wenn ich keine Minute glaube, daß Santa Anna ein Heiliger war, so waren die Verteidiger von Alamo risikobereite Spieler für die Herrschaft der Angelos und Vertreter der Sklaverei! Der Vater der “Republik von Texas”, Stephen Austin, hat bereits 1836 5.000 Sklaven auf seiner Kolonie.

Selbstverständlich hat die Verfassung der Republik Texas, welche in Alamo verteidigt wurde, diese Praxis institutionalisiert. Es war nicht schwierig für diese Menschen zu verstehen, daß sich durch freies oder billiges Land mit freier oder billiger Arbeit eine schnelle Ansammlung von Reichtum realisieren lassen würde. Wenn der Ausgang des folgenden mexikanisch-amerikanischen Krieges anders gewesen wäre, oder es diesen Krieg nie gegeben hätte, würden wir heute keine Diskussionen über die Möglichkeit der Rückkehr von Mexikanern nach San Antonio oder jeder anderen Stadt, die von Mexikanern gegründet wurde, führen.

Heute müssen diese Englisch sprechenden Horden aus dem Osten mit einer unterschiedlichen Kultur nicht in Taumalipas, Sonora, Chihuahua oder jeden anderen mexikanischen Bundesstaat eindringen und eine weitere Republik ausrufen, da im derzeitigen Finanzsystem die Reichen das Land oder die Sklaven nicht mehr besitzen müssen, um es zu beherrschen und zu kontrollieren.

Meine eigenen Großeltern, landlose Kleinbauern, sind während der turbulenten mexikanischen Revolution von 1910 in das Tal des Rio Grande eingewandert. Sogar damals haben sich die Amerikaner mit den sich bekämpfenden mexikanischen Fraktionen eingelassen, um wirtschaftliche Vorteile zu erringen. Erinnern Sie sich daran, daß Woodrow Wilson die Marines geschickt hat, um den Hafen von Vera Cruz einzunehmen und an die Truppen von Carranza zu geben, damit ihn der leichte Waffentransport einen Vorteil gegenüber seinen anderen Revolutionsverbündeten Villa und Zapata verschaffte.

Ich bin damit aufgewachsen, daß ich mit meinen Eltern - und wie auch schon deren Eltern - den landwirtschaftlichen Ernterouten folgte. Viele Male wurden wir in Knebelverträge mit Farmern oder Arbeitsvermittlern gezwungen, ähnlich wie dies den heutigen H2A [Programm für landwirtschaftliche Gastarbeiter in den USA] oder illegalen Arbeitern mit ihren Anwerbern oder Grenzschmugglern passiert. Aber dieses Vorgehen, das uns in der Knechtschaft hielt, hat sich niemals wirklich geändert, unabhängig von kosmetischen Schutzgesetzen, die regelmäßig im amerikanischen Kongress angeregt werden. Ich sage kosmetisch aufgrund des Fehlens der Vollstreckung und der schwerfälligen Beschwerdeprozedur. Ohne eine zeitnahe Umsetzung und ohne Schutz vor Vergeltung haben die Wanderarbeiter keine Chance sich selbst zu verteidigen.

Es gibt bestimmte Industrien, die eine Gier nach einem globalen Vorrat an billiger, ausbeutbarer Arbeit haben, und die kontinuierlich unsere Sozial- und Regierungspolitik bestimmt haben. Von der Republik Texas bis NAFTA [Nordamerikanisches Freihandelsabkommen] - das Resultat ist dasselbe: Reichtum für ausgewählte Einzelne, Armut und Unterdrückung für eine große Anzahl von Menschen.

Ein Bericht, der von der Carnegie Stiftung im letzten Jahr veröffentlicht wurde, benennt als Ergebnis von NAFTA die Zerstörung von 1,3 Millionen mexikanischen Bauernhöfen. NAFTA hat die Grenze für hoch technologisiertes und hoch subventioniertes Getreide geöffnet, mit dem die mexikanischen Bauern niemals erfolgreich konkurrieren können. Der amerikanische Weizen ist mit seiner Handvoll von genetisch hergestellten Hybriden auch eine Bedrohung der Artenvielfalt. Die Abnahme der genetischen Samenvielfalt beschränkt auch die Widerstandskraft gegen Krankheiten. Auch für die Umwelt sind die Risiken enorm. Das ist rücksichtsloser Profithandel, der enorme Konsequenzen für das kontinentale Nahrungssystem hat.

Wie für meine Eltern und Großeltern ist für diese neuen heimatlosen Kleinbauern die einzige Chance zu überleben, in die mexikanischen Städte zu ziehen oder die Grenze zu den Vereinigten Staaten zu überqueren, um die niedrigen Tätigkeiten auszuführen, die die Amerikaner nicht wollen und nicht tun werden.

Ich kann damit weitermachen, eine Chronik der Sünden dieser Nation aufzuführen, von vielen gebrochenen Verträgen mit unseren amerikanischen Indianern, der nationalen, traumatisierenden Sklaverei bis zum heutigen Schwarzmarkt des Menschenhandels. Im Staat North Carolina alleine gibt es etwa 400.000 Mexikaner und Guatemalteken, die vor allem in vier Industrien arbeiten: Landwirtschaft, Gartenbau, Hausbau und Hühnerzucht. Fast jeder von ihnen hat zwischen $ 1.200 bis $ 3.000 bezahlt, um hierhin geschmuggelt zu werden. Kann man begreifen, daß dies ein 3/4 Milliarde $ Geschäft ist! In einem Staat!

Es ist nicht meine Absicht, eine anti-amerikanische Stimmung zu schüren, aber die Wahrheit zu bekennen, damit wir den Weg finden können, um die große Nation zu werden, die wir zu sein beanspruchen.

Ich ermutige alle, sich einiger der positiven Eigenschaften Amerikas bewusst zu machen. Erstens glaube ich, daß die große Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung einen Sinn für Fair Play hat und grundsätzlich an die Gerechtigkeit glaubt. Mexiko muß als ein unabhängiges und stolzes Volk kraftvoll die geschichtlichen Mißstände benennen. Für viele Beobachter, mich eingeschlossen, sind die früheren mexikanischen Regierungen schüchtern und weich erschienen, wenn sie ihr Volk vertreten haben. Nicht unähnlich einem Familienangehörigen in einer schlechten Beziehung.

Warum tolerieren wir (Mexikaner und Amerikaner mexikanischer Abstammung) die Toten an der Grenze und an den Arbeitsplätzen, wie es kürzlich in einer Geschichte der Associated Press von Justin Prichard berichtet wurde. Gemäß AP gibt es nun jeden Tag einen Mexikaner, der in den USA stirbt. Wenn dies Amerikaner wären, die in Mexiko stürben, würden viele Köpfe rollen und es gäbe vielleicht eine weitere Intervention von US-Truppen nach Mexiko. Ich glaube nicht, daß Amerikaner mögen, daß dies in ihrem Land geschieht. Aber es bedarf sehr viel Arbeit, um darüber zu informieren und die Öffentlichkeit zu mobilisieren. (…)

Immer wieder in der Geschichte sind einzelne Männer und Frauen hervorgetreten und haben der Welt Hoffnung gegeben, da die ganze Welt Frieden und Glück erstrebt. Ich hatte das Glück, 1967 zwei solcher Menschen während meiner frühen Aktivistenjahre kennen zu lernen. Der eine war Martin Luther King Jr. und der andere war Cesar Chavez. Beide Männer hatten eines gemeinsam: sie waren total der Sache ergeben, an die sie geglaubt haben. Beide haben gegen das verheerende Wüten der rassistischen und ökonomischen Unterdrückung angekämpft, haben es dem amerikanischen Gewissen durch Fasten, Boykotte, Streiks und Märsche erklärt und aufgedeckt. Engagiert in Zivilem Ungehorsam, haben sie Verhaftungen, Schikanen und zahlreiche Gerichtsverfahren über sich ergehen lassen und immer auf Gewaltfreiheit bestanden. Beide haben die amerikanische Öffentlichkeit wachgerüttelt und atemberaubende Durchbrüche im Zivil- und Arbeitsrecht erzielt.

Ich frage Sie heute, wo sind die neuen Martin Luther Kings und Cesar Chavezes?

Es ist nicht arrogant zu behaupten, daß Mexiko seinen Beitrag an die Vereinigten Staaten gezahlt hat, in dem es sein Land verloren hat, ohne die Metalle und die Edelmetalle, die mit Land verloren gingen zu zählen, und die Versorgung mit Arbeitskräften, für die Mexiko die Kosten der Erziehung bis zum arbeitsfähigen Alter zu tragen hatte. Vielleicht müssen wir zu einem bi-nationalen Marsch der Solidarität aufrufen und mittels Zivilen Ungehorsam Alamo zurück holen und einige Zeit im Gefängnis verbringen, während wir eine Streichung der mexikanischen Schulden erklären und mindestens eine Kompensation für die Millionen von Mexikanern fordern, die die niedrigen Arbeiten ausführen, die den Komfort in Amerika erst ermöglichen.

Ich sage die Wahrheit: es gibt diese Wirtschaftsinteressen, die einen weltweiten Niedriglohnsektor und damit ein ausbeutbares Heer von Mexikanern in den USA und Mexiko verewigen wollen. Dies wird sich durch diplomatische Initiativen nicht ändern. Diejenigen, die ihren Wohlstand durch räuberische und selbstsüchtige Maßnahmen unter Inkaufnahme des Elends, der Armut und der Hilflosigkeit der Armen erlangt haben, sind mächtig, aber nicht unbesiegbar.

Wir haben von King und Chavez gelernt, daß mit den Mächtigen verhandelt werden kann, wenn es uns gelingt, ihre Möglichkeit, Geld zu verdienen, zu behindern. Dies braucht viel Geduld, Zeit und Kreativität sowie einige der “Langstreckenläufer”, die die Ausdauer haben, für eine gute und richtige Sache nicht locker zu lassen. Es war Jesus, der uns das “Wie” gelehrt hat, als er die Jünger in Johannes Kap.15, V. 12-13 ermahnte, den Nächsten zu lieben wie ER sie geliebt hat, und daß die größte Liebe die ist, die sein Leben für den Freund gibt.

Vielleicht haben King und Chavez ihr Leben nicht gewählt. Es war vermutlich die Erhebung durch die Menschen, die sie gewählt hatten, aber sie mußten bereit dafür sein. Wer ist heute bereit, die Paradigmen der Debatte zu bezweifeln und zu fragen, was so unverständlich einfach und unmöglich erscheint: die Freiheit in ein Land zu reisen, daß so sehr ähnlich in Namen und der Bevölkerung ist. Wenn das Herz aufrecht und stark ist, kommen schon die Ideen, wie die Ziele erreicht werden können. Wenn ihr Glauben habt, wird es sein, wie uns die Bibel sagt: “auf das Wesentliche hoffend, den Beweis nicht sehend”. Und wenn der Glaube so klein wie ein Senfkorn ist, so kannst du einem Berg sagen, sich ins Wasser zu bewegen, und es wird passieren. King und Chavez hatten solche Empfindungen, darum haben sich die Menschen um sie gesammelt und gemeinsam Berge bewegt.

Quelle: DER PAZIFIST Nr. 6/195 vom 28.08.2004. Übersetzt von Volker Grotefeld.

Anmerkung:

1 Das Alamo ist eine zum Fort ausgebaute ehemals mexikanische Missionsstation in der heute texanischen Stadt San Antonio. 1836 erklärte Texas nicht zuletzt wegen der Schwierigkeit, als mexikanische Provinz die Sklaverei einführen zu können, seine Unabhängigkeit von Mexiko. Als der mexikanische Diktator Santa Anna mit 7000 Mann den Rio Grande überschritt, um die Aufständischen niederzuschlagen, wurde deren vorläufiger Rückzug von den 180 Verteidigern des Alamo vom 23. Februar bis zum 6. März 1836 gedeckt. Die Anführer im Alamo waren der 27jährige Oberstleutnant William Travis, der 40jährige Abenteurer James (Jim) Bowie und der 50jährige Kriegsheld und Politiker Davy Crockett. Nach 13 Tagen verlustreicher Belagerung wurde das Alamo gestürmt, alle männlichen Verteidiger wurden niedergemacht, Frauen und Kinder verschont. Unter dem Schlachtruf “Remember the Alamo!” gewannen die Texaner drei Wochen später die kriegsentscheidende Schlacht von San Jacinto. Bis heute ist der Kampf ums Alamo einer der wichtigsten und häufig stark verklärten Mythen der US-amerikanischen Geschichte. Texas blieb einige Jahre unabhängige Republik und trat 1845 den USA bei.
Die Ereignisse um die Schlacht von Alamo wurden vielfach verfilmt. Die bekanntesten Versionen stammen von John Wayne (1960) und John Lee Hancock (2004). (Zitiert nach Wikipedia)

Veröffentlicht am

08. September 2004

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