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Tschetschenien: Der verdrängte Krieg

Von Karl Grobe

Sprengstoffanschläge auf Flugzeuge und einen U-Bahnhof in Moskau, dazu jetzt die Geiselnahme in einer Schule in Nordossetien - der Krieg um und gegen Tschetschenien und der auf diesem Hintergrund entstandene Terrorismus eskalieren. Vor allem aber eskaliert die Wahrnehmung in Europa (ausgenommen Gerhard Schröder). Der Krieg, der staatlich organisierte Terrorismus, der bewaffnete Widerstand und die Kriminalität von Banden aller Art haben nämlich nie aufgehört, auch und gerade nicht in der Amtszeit Wladimir Putins.

Allerdings haben sich die Charakteristika des Kampfes verändert, vielleicht grundlegend, vielleicht zur Unlösbarkeit des ursprünglichen Konflikts hin. Aslan Maschadow, der vor langen Jahren in unanfechtbarer Wahl installierte Präsident Tschetscheniens, lässt militantere Erklärungen ergehen als früher. Der Mann, der - auf das Vertrauen einer Mehrheit gestützt - immer wieder Verhandlungen verlangt hat, immer wieder von den Moskauer Regierungen geschnitten wurde, immer wieder mit “den Banditen” in einen Topf geworfen wurde, hat anscheinend die Illusion aufgegeben, es könne noch zu einer einvernehmlichen Lösung kommen.

Das ist eine ernstere Entwicklung als die gegenwärtige Häufung der Anschläge und Geiselnahmen. Die politische Auseinandersetzung um den Status Tschetscheniens als Republik im Bestand Russlands, um das vor knapp zehn Jahren vertraglich vereinbarte Maß an regionaler Autonomie, ist fürs erste und vielleicht auf Dauer beendet. Noch 2002 waren immerhin Kontaktaufnahmen zwischen dem Vertreter Maschadows und einem russischen Vizepremier auf einem Moskauer Flugplatz möglich. Eine friedliche Perspektive bestand noch; die Voraussetzung wäre die Distanzierung beider politischen Führungen von den Gewalttätern auf beiden Seiten gewesen, die Trennung Maschadows und seiner Fraktion von den sich selbstständig machenden Terrorgruppen auf tschetschenischer Seite, die verantwortliche Übernahme der Entscheidungsgewalt in Moskau durch eine politische Führung anstelle der Militärs und der geheimen Dienste.

Putin hat sich dagegen entschieden. Er verfolgt, härter werdend, eine Tschetschenisierung des Konflikts durch die Einsetzung ihm genehmer, mit Maßen ihm gehorchender Kollaborateure. Doch denen mangelt es an Vertrauen, gar Verankerung im Volk. Achmed Kadyrow, Moskaus (im Mai ermordeter) Vertrauensmann, betrieb Clan-Politik und ließ seine Todesschwadrone auf diejenigen los, die ihm die Gefolgschaft versagten. Alu Alchanow, sein Nachfolger, gehört demselben Großclan an und ist eher als Karrierepolizist denn als politisch Denkender bekannt geworden. Zum Kompromiss mit dem Volk, das nach einem Dutzend Jahren Vernichtungskrieg, nach der Erfahrung umfassender Zerstörung seiner Lebensgrundlagen Frieden will, taugt er wohl nicht. Im Gegenteil; seine Wahl mit ihren manipulativen Begleiterscheinungen polarisiert; denn sie belegt die Unbelehrbarkeit der Putin-Führung.

Mit diesem Krieg ist Putins System von Anfang an verbunden. Der Krieg war 1999 und 2000 sein Wahl-Argument; die Rückwirkung des Krieges, die Brutalisierung der dorthin gezwungenen Soldaten und Vertragskämpfer, verändert die russische Gesellschaft, gerade wenn und weil sie daran gehindert ist, sich damit kritisch zu befassen. Der autoritäre Charakter des Putin-Systems nährt sich vom Krieg und vom Schweigen darüber.

Das hat, da Russland Teil Europas ist, europäische Auswirkungen. Demokratischer, zivilgesellschaftlicher Konsens wird schwieriger, bald unmöglich. Das muss ausgesprochen werden. Wenn aber der Bundeskanzler, indem er letzten Endes die Alchanow-Wahl akzeptiert, stillschweigend Putins Kriegs-Voraussetzungen übernimmt, dann ist dies nicht nur unpolitischer Opportunismus. Es ist, schlicht gesagt, gefährlich für Europa.

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 02.09.2004. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Veröffentlicht am

02. September 2004

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