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Kalter Krieg

Von Andrea Noll - ZNet Deutschland 22.08.2004

“Schnalle deinen Gürtel enger noch ein Loch - es geht ja, es geht ja, es geht ja immer noch -, erst denkt man, es geht nicht und dann geht’s doch”, sang 1933 der ‘rote Orpheus’ Ernst Busch. Man sagt zwar, in denselben Fluß steigt man nie zweimal - doch wie sich die Zeiten gleichen: Deutschland Anfang der Dreißiger Jahre: Massenarbeitslosigkeit, ‘Arbeitsdienst’, Menschen mit Schildern um den Hals: ‘Nehme jede Arbeit’, ‘Arbeite für Essen’. “Für uns gibt’s kein Geld in der Welt”, singt Ernst Busch.

Deutschland 2004, Hartz IV. Die deutsche Version des amerikanischen ‘Welfare to Work’. Die Medien tönen: Hartz IV hat ein Vermittlungsproblem, die Argumente würden den Menschen nicht plausibel gemacht. Die Propagandamaschinerie stottert. Der Ruf nach dem Spin-Doktor, dem Spin-Notarzt echot durch alle Konzern-Staats-Medien. Aber schon Heinrich Heine schrieb:

‘Im hungrigen Magen Eingang finden
Nur Suppenlogik mit Knödelgründen,
Nur Argumente von Rinderbraten,
Begleitet mit Göttinger Wurst-Zitaten’.

‘Die Wanderraten’ von Heinricht Heine

Ein satter Bischof Huber oder Kardinal Lehmann, die die “Reformen” bejubeln, weil sie das Volk beten lehren, ein feister Herr Fischer oder Schröder - vollkaskoversichert selbstverständlich - ihnen allen fehlt der Erfahrungshintergrund. Sie sind blind für die prekäre Realität der heutigen Armen und der künftigen, so Hartz IV denn tatsächlich umgesetzt wird - wie einst die französische Königin Marie Antoinette, die dem hungernden Volk riet, auf Kuchen umzusteigen, wenn das Brot ausgeht. Ihre Armuts-Blindheit brachte sie unter die Guillotine der Französischen Revolution.

Hartz IV kann man nicht erläutern, Hartz IV ist ein amoralisches Armutsgesetz: ein Gesetz zur Schaffung von Armut. Ziel ist die Deregulierung des deutschen Arbeitsmarktes: Aushebelung des Tarifrechts, Abschaffung von Arbeitnehmerrechten durch Schaffung eines Niedriglohnsektors, mit dem Arbeiter und Angestellte erpresst werden. Als Druckmittel dienen Millionen Arbeitsloser - 9% der potentiell Erwerbsfähigen im Westen, 18% im Osten. Kirchen und manche Wohlfahrtsverbände bejubeln die geplante 1-Euro-Regelung: 1 Euro pro Stunde für Hartz-IV-Arbeitslose, die sich in karitativen oder staatlichen Einrichtungen nützlich machen. Warum nicht gleich alle Altenpfleger und Krankenschwestern entlassen und ein Jahr später als Gehartzte für 1 Euro wiedereinstellen?

“Schnalle deinen Gürtel bis das Leder bricht,
das geht nicht - und wenn du denkst, es geht noch, das geht nicht!” 1

Ernst Busch

Die Proteste auf Hartz IV zu fokussieren, wäre allerdings ein Mißverständnis. Hartz ist lediglich Teil der Umsetzung der ‘Agenda 2010’, die wiederum Teil der sogenannten ‘Lissabon-Strategie’ ist - beschlossen auf dem EU-Gipfel in Lissabon im Jahr 2000: “Ziel ist, die (Europäische) Union zum wettbewerbfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen” und die “europäischen Gesellschaftsmodelle zu modernisieren” - egal, wer auf der Strecke bleibt bzw. wieviele - mit den USA als großes Vorbild. 2 Der Gipfel von Lissabon fand statt, kurz bevor die rosarote New-Economy-Blase endgültig platzte, der sogenannte “Clinton-Boom” crashte.

Wohin steuert die Agenda 2010? Geht es nach dem Willen von Regierung und Opposition (mit Ausnahme der PDS) verkommt Deutschland, verkommen sämtliche EU-Länder, zu Kopien des US-amerikanischen Gesellschafts-Unmodells. ZNet-Autor und ‘Social Policy Researcher’ Paul Street verfaßte im Oktober 2002 einen Zustandsbericht seines Landes (‘Leuchtfeuer der Welt’) 3

“Die USA stellen die mit Abstand ‘ungleicheste’ Industrienation der Erde dar. Die reichsten 10 Prozent der amerikanischen Bevölkerung besitzen mehr als 70 Prozent des nationalen Gesamtvermögens (…) Die ‘oberen’ 5 Prozent - also die reichsten Familien unseres Landes - fahren ein Einkommen ein, das so hoch ist, wie das der ‘unteren’ 50 Prozent zusammengerechnet. Diese Zahlen wurden allerdings erhoben, noch ehe George W. Bush zum großen Steuerstreichkonzernt ansetzte. Seither entfallen auf die ‘oberen’ 1 Prozent der Steuerzahler fast 40 Prozent jenes Steuernachlasses, der das US-Schatzamt um mindestens $1,8 Billionen prellen wird”.

Im Jahr 2000, also auf dem Höhepunkt des Clintonschen Wirtschaftsbooms, als der EU-Gipfel in Lissabon die USA zum ‘role model’ erkor, so schreibt Street, hätte in 11 Millionen amerikanischen Haushalten - in 10,5 Prozent aller US-Haushalte - eine “ungesicherte Ernährungssituation” geherrscht. “Mehr als 12 Millionen aller amerikanischen Kinder leben in Armut - 17 Prozent - wobei mehr als 4 Millionen davon unter 6 Jahre sind (…) Mindestens eines von 3 US-Kindern lebt an oder unterhalb der Armutsgrenze, und mehr als 8 Millionen Menschen - darunter 3 Millionen Kinder - leben in Haushalten, in denen nicht genügend auf den Tisch kommt bzw. die Mahlzeiten regelmäßig ausfallen. Wie ‘Second Harvest’, das größte amerikanische ‘Foodbank’-Netzwerk, angibt, hingen 2001 23 Millionen Amerikaner an diesem Nahrungsmitteltopf, 40 Prozent davon aus Erwerbstätigenfamilien. 1 von 8 US-Haushalten war in letzter Zeit gezwungen, die Ernährung (qualitativ) umzustellen - zugunsten dringlicher Zahlungen (Miete, Kinderbetreuung, Kleidung, medizinische Versorgung, Fahrgeld/Fahrten, sonstiges).” Auf der anderen Seite, so Street, würden in den USA 20 Prozent aller Lebensmittel weggeworfen oder vergammelten - eine Menge, mit der sich, so Street, 49 Millionen Menschen ernähren ließen, mehr als doppelt soviele, wie Jahr für Jahr an Hunger sterben.

“40 Millionen Amerikaner (16 Prozent) - darunter eine Million Kinder - haben keinerlei Krankenversicherung.” “In der ganzen industrialisierten Welt arbeitet keiner so lange wie wir Amerikaner - und keiner hat einen längeren Arbeitsweg - was mit zu unserem weitverbreiteten Job-Frust führt. Es führt aber auch dazu, dass den Leuten immer weniger Muße für bürgerschaftliches Engagement bleibt.”

“Die USA - selbstproklamierte Heimstätte und Hauptquartier der Freiheit der Welt - stellen nur 5 Prozent der Weltbevölkerung”, schreibt Street, aber 25% der Weltgefängnispopulation. Damit seien die USA die größte Gefängnisnation der Welt überhaupt. “Derzeit kommen auf je 100.000 US-Amerikaner 699 Strafgefangene. 1970 waren es noch ungefähr 100 auf 100.000.” “In den USA gibt es zwischen 10 und 15 Millionen Alkoholiker und Problemtrinker (…) die USA halten bei den Industrienationen den Rekord an Drogenmissbrauch”, so Street. “Jährlich erkranken (…) 18 Millionen Amerikaner an einer Depression (…) Im Jahr 2000 nahmen sich 29.350 Amerikaner und Amerikanerinnen das Leben. ‘Selbstmord’ war damit die elfhäufigste Todesursache bei uns überhaupt. Bei Kindern zwischen 10 und 14 Jahren war es sogar die dritthäufigste Todesursache, ebenso in der Altersgruppe der 15- bis 19jährigen und der 20- bis 24jährigen.” Sieht so die Zukunft Europas aus?

Die Mär von der Notwendigkeit der “Reformen”

Anfang 1997, 5 Jahre vor seinem Tod, sagte der französische Soziologe und Globalisierungskritiker Pierre Bourdieu gegenüber dem deutschen ‘Spiegel’: “Der neue Kapitalismus ist logisch und grausam zugleich: Sein Erfolg, eine hochprofitable Produktionsmaschine, die immer neue Exportrekorde aufstellt, ist eng mit dem Mißerfolg, der abnehmenden Zahl von Jobs, verknüpft. Der Boom der Börse - ohne die Baisse am Arbeitsmarkt ist er so wenig denkbar wie ohne den technischen Fortschritt, der die Rationalisierungssprünge ermöglicht (…) Personal kennen die Analysten vor allem als Kostenfaktor, und Massenentlassungen tauchen unter der Überschrift ‘Headcount’ in übersichtlichen, profitversprechenden Grafiken auf…” 4 Man könnte meinen, Bourdieu beschreibe die Situation Deutschlands im Jahr 2004 - also 7 Jahre nach diesen prophetischen Worten. Deutschland ist Exportweltmeister 2003, gleichzeitig sind unsere weitgehend steuerbefreiten, politisch gehätschelten Konzerne Spitzenreiter bei der Arbeitsplatzvernichtung.

Bereits 1996 hatte Bourdieu in einem ‘Spiegel’-Interview erläutert: “Was als Rationalisierung daherkommt, ist der Triumph eines ungebremsten, zynischen Kapitalismus. Man ist dabei, die europäische Staatszivilisation, die mehrere Jahrhunderte gebraucht hat, um sich zu entwickeln, zu zerstören - und das im Namen des dümmsten Gesetzes der Welt, nämlich der Gewinnmaximierung…” 5

Im selben ‘Spiegel’-Interview erklärt Bourdieu: “Der Neoliberalismus ist heute das, was für die Theologen des Mittelalters die ‘communis doctorum opinio’ war, die gemeinsame Überzeugung der Gelehrten (…) Es gibt gegenwärtig so etwas wie eine kollektive Blindheit. Alles, was die Währung, die Weltbank, den Internationalen Währungsfond oder die Deutsche Bank umgibt, ist zu einem fast schon religiösen Phänomen geworden. Die Losungen, die so frenetisch ausgegeben werden - Globalisierung, Flexibilisierung: Man weiß doch gar nicht, was das bedeutet: es sind nur vage, unscharfe Begriffe im Umlauf, wie bei einem religiösen Bekenntnis…” 6

Und die deutschen Medien sind Teil des Problems. Die Ausgabe des ‘Spiegel’ von Mitte August besteht zu fast 1/3 aus Werbung - darunter eine Werbeanzeige der Bundesregierung zu Hartz IV. Ein derart vereinnahmtes Medienprodukt kann nicht der Information dienen - schon gar nicht der unvoreingenommenen. Die ‘communis doctorum opinio’ des beginnenden 21. Jahrhunderts ist hineingestanzt in (fast) alle Presseprodukte - egal, ob in neuer oder alter Rechtsschreibung. Die Gleichschaltung der Medien schreitet mit Siebenmeilenstiefeln voran. Und während deutsche TV-Sender eine Desinformationskampagne nach der andern starten, um das “Volk, den großen Lümmel” (Heine) einzulullen - Hartz IV schaffe neue Arbeitsplätze, Hartz IV verbessere die Situation der Sozialhilfeempfänger, Hartz IV zwinge “nur in Ausnahmefällen” zur Kündigung von Lebensversicherungen -, frißt Hartz IV schon Hartz II: die Ich-AGs werden abgeschafft, da vermeintliche Überlebensschlupflöcher für Hartz-IV-Betroffene.

Haupt-Spin der “Reform”-Propagandisten: Die öffentlichen Kassen seien leer, der Sozialstaat unbezahlbar. Stimmt, der Sozialstaat ist unbezahlbar - nämlich Konzern-Wohlfahrt und Sozialhilfe für Reiche. Noch nie seit Ende des Zweiten Weltkriegs haben sich die Eliten in Deutschland so schamlos aus öffentlichen Kassen bedient wie heute: Abschaffung der Vermögenssteuer, Kappung des Spitzensteuersatzes, Konzernsubventionierung ohne Ende, Public-Private-Partnership-Deals (siehe Toll-Collect-Desaster), bei denen eine schmutzige Hand die andere wäscht. Ein weiteres Beispiel sind Exportbürgschaften für deutsche Unternehmen: “Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) muss stärker als bisher geplant in seinem Etat für mögliche Milliardenverluste aus Export-Bürgschaften vorsorgen. Bis zum 30. Juni habe sich das Entschädigungsrisiko, das der Bund bei Exportgeschäften trägt, “gegenüber dem Vorjahr um 2,3 Milliarden auf 76,6 Milliarden Euro erhöht”, heißt es in einer Vorlage des Finanzministeriums für den Haushaltsausschuss des Bundestags.” 7

Wein trinken und Wasser predigen

Die Mitglieder der deutschen Regierung erhöhen sich die eigenen Bezüge und Pensionsansprüche, während sie vom Volk “Umdenken” und ein “Ende des Anspruchsdenkens” fordern: “Weg mit der Vollkaskomentalität, mehr Eigenverantwortung!” salbaderte ein Bundespräsident nach dem andern - schamlos überversorgte Bundespräsidenten übrigens. Als sich Johannes Rau dieses Jahr nach nur einer Amtszeit in den Ruhestand verabschiedete, hatte er sich für diese 5 Jahre Ansprüche erworben, für die ein Durchschnittsverdiener 700 Jahre Beiträge entrichten müßte - neben Raus Pensionsansprüchen aus früheren Tätigkeiten, versteht sich. Zur Zeit leistet sich Deutschland gleich 5 Bundespräsidentengehälter: Neben dem aktiven Bundespräsidenten Köhler beziehen 4 Altbundespräsidenten den sogenannten “Ehrensold”: Scheel, von Weiszäcker, Herzog (“ein Ruck muß durch Deutschland gehen”) und Rau werden ihr Bundespräsidentengehalt in voller Höhe bis zu ihrem seligen Ende genießen können. Im Falle Scheels - Bundespräsident 1974 - 1979 - belaufen sich die Versorgungsbezüge bereits auf weit über 4 Millionen. Paßt das zu den angeblich leeren Kassen Deutschlands?

Zu beobachten ist eine zunehmende Galvanisierung der politischen und privatwirtschaftlichen Eliten. Laut einer kürzlichen Umfrage sind derzeit rund die Hälfte der über 800 “Wirtschaftsführer” Deutschlands mit Kanzler Schröders Politik zufrieden, aber nicht einmal ein Drittel des deutschen Volks. Kein Wunder, während Hartz IV ab 1. Januar 2005 1,7 Millionen neue Arme schafft, wird der Spitzensteuersatz um weitere 3 Prozentpunkte gesenkt. Das Volk, die Zivilgesellschaft, verliert dramatisch an Bedeutung, an politischem Einfluß - auch im Zuge der Europäisierung. In unserer Lobby-Demokratie sitzt ausgerechnet die breite Mehrheit zwischen allen Stühlen. Ein Referendum wie in Venezuela - in Deutschland undenkbar. Die Regierung Schröder/Fischer könnte sich nicht einmal ein Drittel der Stimmen sichern. Wer sich nach der Mehrheitsmeinung richtet, gilt in Deutschland nicht als Demokrat sondern als Populist. Die Entfremdung der Herrschenden von ihrem angeblichen Souverän verdeutlicht auch eine Umfrage der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung vom August 2004: “Politikern misstrauen die Menschen am meisten nicht nur in Deutschland, sondern in insgesamt 19 europäischen Ländern und den USA (…) In Deutschland wie in Polen aber ist das Ansehen der Politiker am schlechtesten: Nur jeweils sechs Prozent sprechen ihnen das Vertrauen aus.” 8 .

‘Leere Kassen’

Wie erklärt sich dieses Phänomen? Warum hat die drittgrößte Industrienation der Welt es angeblich nötig, (zusätzlich) anderthalb Millionen Menschen, darunter viele Kinder, unter die Armutsgrenze zu drücken? Die Antwort geben Oskar Lafontaine, die PDS, die Sozialbewegungen und Gewerkschaften seit langem. Deutschland leidet an einem akuten Nachfragedefizit, einer lahmenden Binnennachfrage - Folge der “Reformen” und der berechtigten Angst der Bürger vor weiteren Einschnitten sowie Folge fehlender staatlicher Investitionen in den öffentlichen Bereich.

‘Leere Kassen’ sind andererseits durchaus gewollt. In neoliberalen Gesellschaften dienen sie als Totschlagsargument gegen die Zivilgesellschaft. Wie dieser Mechanismus funktioniert, erläutert uns Paul Krugman 9 in seinem ZNet-Artikel ‘Maestro der Chuzpe’: In den 80ger Jahren beschloß der US-Kongreß Steuererhöhungen, die vor allem untere und mittlere Einkommen belasteten und einen Überschuß in die Kassen der amerikanischen Sozialversicherungen brachten. Und was tat das neoliberale Amerika? Es senkte die Steuern für Besserverdienende und Unternehmen, so daß neue Haushaltslöcher entstanden. Mit diesen Defiziten - die vielbeschworenen ‘leeren Kassen’ - ließen sich Kürzungen im öffentlichen Bereich, bei Sozialleistungen rechtfertigen, und man hatte einen Grund, die unteren und mittleren Einkommen erneut zu schröpfen. “‘Das Biest aushungern’ ist nicht länger nur ein hypothetisches Szenario”, schreibt Krugman. “Seit Jahrzehnten versuchen die Konservativen, Steuerkürzungen durchzusetzen - nicht, weil diese finanzierbar wären sondern umgekehrt, weil sie nicht finanzierbar sind. Steuerkürzungen führen zu Haushaltsdefiziten, diese wiederum liefern die Rechtfertigung für Kürzungen bei den Staatsausgaben (…) Staatsausgaben drosseln heißt nicht automatisch, bei unnötigen Programmen sparen, die ohnehin keiner will. Vielmehr heißen die Angriffsziele Sozialversicherung und Medicare (…) Man muß hinzufügen, die Ideologen auf der Rechten haben die Hoffnung nie ganz aufgegeben, die Sozialversicherung doch noch restlos abzuschaffen (…) Falls Mr. Bush im November gewinnt, seien wir gewiss, sie werden mit der Privatisierung fortfahren, mit der Schaffung individueller Rentenanwartschaftskonten. Das wird uns dann als Weg verkauft, wie die Sozialversicherung zu ‘retten’ sei (aus einer Krise, die gar nicht existiert). Im Endeffekt wird so aber deren Finanzierung unterminiert. Und genau das ist der Punkt” 10 .

Der US-Staat funktioniert wie eine Pumpe: Das Geld, das untere und mittlere Einkommensbezieher als Lohnsteuer und Sozialabgaben an die öffentlichen Kassen transferieren, wird möglichst weit nach oben gepumpt. Diese Umverteilung von unten nach oben erzeugt eine Kluft bei Einkommen und Vermögen, die immer größer wird. Und genau dieses Phänomen beobachten wir zur Zeit auch in Deutschland. So schreibt der ansonsten neoliberale ‘Spiegel’: “Nicht nur die Zahl der Armen wächst, immer größer wird auch der Abstand zu den Wohlhabenden der Republik. In den vergangenen Jahren sind die Reichen reicher und die Armen ärmer geworden, zeigt eine neue Analyse des Statistischen Bundesamtes. Danach stieg das durchschnittliche Nettogeldvermögen des reichsten Viertels gegenüber dem ärmsten vom Achtfachen auf das Zwanzigfache” 11 .

Ziel der Agenda 2010: Ein erheblicher Teil der Bevölkerung soll unter die Armutsgrenze gedrückt werden - zur “europäischen Homogenisierung” - die Deregulierung des Arbeitsmarktes soll vorangetrieben, die gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherungssysteme zugunsten privater Vorsorge demontiert und der öffentliche Sektor ausgetrocknet werden, was beispielsweise Bibliotheken in Antiquariate verwandelt. Das Lamentieren unserer Regierung über zu wenig Einnahmen klingt angesichts wachsenden Eliten-Reichtums mehr denn heuchlerisch. Die Kassen leer? Wer hat die Hand in der Kasse, ist wohl eher die Frage.

Ein Nebenargument in der Hartz-Debatte: Die Sozialsysteme gingen zu Lasten “kommender Generationen”, also unserer Kinder. Aber eine Regierung, die mit Hartz IV hunderttausende Kinder in Armut bringt, die die medizinische Versorgung von Kindern verschlechtert und im Bildungs- und Betreuungsbereich einspart, macht sich mit solchen Argumenten einfach nur lächerlich. Wie lange dauert es wohl noch, bis die Lernmittelfreiheit in Schulen abgeschafft und unerschwingliche Studiengebühren an Universitäten und Fachhochschulen eingeführt sind?

‘Ex oriente lux’ oder: ‘Wir sind das Volk’

‘Es gibt zwei Sorten Ratten:
Die hungrigen und satten.
Die satten bleiben vergnügt zu Haus,
Die hungrigen aber wandern aus’

‘Die Wanderraten’ von Heinricht Heine

Der kalte Krieg ist zurück. Zu verantworten haben ihn jene, die dem sozialen Frieden in Deutschland den Kampf angesagt haben: die Eliten. Ein heißer Herbst steht (hoffentlich) bevor, nachdem es bereits im Frühjahr bundes- bzw. europaweit zu mächtigen Sozialdemonstrationen kam, die in Deutschland eine halbe Million Menschen auf die Straße brachten.

Und wieder wird im Osten gegen eine Mauer demonstriert - diesmal gegen die wachsende Barriere zwischen Arm und Reich. Wie schiefgelaufen die “demokratische” Wende 1989 ist, verdeutlicht allein schon die Tatsache, daß die Partei, die im Osten 27% der Wähler und Wählerinnen auf sich vereint, nicht einmal im Bundestag vertreten ist - zumindest nicht als Fraktion. Der Osten leidet an einem Bandwurm. Was seit anderthalb Jahrzehnten in die ?neuen Länder’ transferiert wird, landet unweigerlich im Magen parasitärer Westimplantate. Die Bilanz nach 15 Jahren “Einheit”: Potemkinsche Fassadenstädte - ansonsten Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit. Der Osten ist maroder denn je. Folgen sind Perspektivlosigkeit, Verarmung, Abwanderung - siehe Heines ‘Wanderratten’. Hartz IV ist der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt. Mit vor Pathos bebender Stimme sprechen Medienkommentatoren neuerdings von “Gefährdung der deutschen Einheit”. Was es nie gab, kann nicht gefährdet werden. Die anschwellenden Proteste, die neue Sozialbewegung, die längst in den Westen übergeschwappt ist, kann die Einheit vollziehen. Ost und West gemeinsam: Zeigen wir den Eliten, die uns den sozialen Krieg erklärt haben - wir sind das Volk!

Anmerkungen:

1 ‘Der Bäcker bäckt ums Morgenrot’, gesungen von Ernst Busch (aus: ‘Der Silbersee’, Wintermärchen mit Musik’ von Kurt Weill/Georg Kaiser, 1933)

2 Informationen zur Lissabon-Strategie bzw. ‘Agenda 2010’ unter: www.staytuned.at/sig/0024/32890.html

3 Paul Street: Das Leuchtfeuer der Welt

4 ‘Der Spiegel’, 12/1997, S.99 und 105

5 ‘Der Spiegel’ 50/1996, S.176

6 ‘Der Spiegel’, 50/1996, S.172

7 ‘Der Spiegel’ 34/2004, S.18

8 ‘Reutlinger Generalanzeiger’ vom 11. August 2004

9 Paul Krugman, Starökonom und Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Princeton University, ist regelmäßiger Kommentator der New York Times und Buchautor

10 Paul Krugman: ‘Maestro der Chuzpe’

11 ‘Der Spiegel’, 34/2004, S.25

Quelle: ZNet Deutschland vom 22.08.2004.

Veröffentlicht am

23. August 2004

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