Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Wie tief sollen wir graben?

Am 6. April 2004 hielt die bedeutende indische Schriftstellerin und Aktivistin Arundhati Roy einen großen Vortrag an der Aligarh Muslim University. Obwohl in Indien inzwischen Wahlen stattgefunden haben und eine neue Regierung gebildet wurde (siehe hierzu von Arundhati Roy: “Die Dunkelheit weicht?” ) hat dieser Text nichts von seiner Brisanz und Aktualität eingebüßt. Roy zeigt ausführlich staatliche Gewalttaten auf und geht der Frage nach, wie einfache Menschen auf den Angriff eines zunehmend gewalttätigeren Staat reagieren können. Obwohl sie sieht, dass der Boden, auf welchem gewaltfreier Widerstand fruchtbar sein kann, ziemlich ausgetrocknet worden ist, setzt sie sich nachhaltig für gewaltfreien Widerstand durch Graswurzel-Widerstandsbewegungen ein.

Von Arundhati Roy - ZNet 01.05.2004

Kürzlich erzählte mir ein junger Freund aus Kashmir über das Leben dort. Über den Morast politischer Käuflichkeit und über Opportunismus; über die metallische Gewalt der Sicherheitskräfte, den sich formenden scharfen Kanten, die sich schärfen, unter dem Druck einer von Gewalt übersättigten Gesellschaft, in welcher Militante, PolizistInnen, BeamtInnen des Geheimdienstes, Regierungsangestellte, Geschäftsleute, und sogar JournalistInnen, aufeindandertreffen, und sich langsam, im laufe der Zeit, immer ähnlicher werden. Er sprach davon, dass er mit diesen niemals endenden Ermordungen leben muss, den immer mehr werdenden “Vermissten”, dem Flüstern, der Furcht, den unaufgeklärten Gerüchten, der wahnsinnigen Kluft zwischen dem was wirklich passiert, von dem, was die Menschen in Kashmir selbst vor Augen haben, und dem, was dem Rest von uns über die Ereignisse in Kashmir erzählt wird. Er sagte: “Kashmir war einmal ein Geschäft. Jetzt ist es ein Irrenhaus”.

Je öfters ich über diese Bemerkung nachdenke, umso passender scheint mir diese Beschreibung für ganz Indien. Man muss zugeben, dass Kashmir und der Nordosten separate Flügel sind, welche den gefährlicheren Trakt der Anstalt beherbergen. Aber auch im Herzen des Landes ist die Spaltung zwischen Wissen und Information, zwischen dem was wir wissen, und dem was uns gesagt wird, zwischen dem was man nicht weiß, und dem was behauptet wird, zwischen dem was verborgen ist, und dem was ans Licht kommt, zwischen Fakt und Dichtung, zwischen der “echten” Welt und der angeblichen Welt, zu einem Ort nie endender Spekulation und potentiellem Wahnsinn geworden. Es ist ein gefährliches Gemisch, das hier gebraut wird, das umgerührt und am sieden gehalten wird, und welches einem ekelerregenden, zerstörerischen politischen Ziel dient.

Jedesmal wenn es einen sogenannten “Terroranschlag” gibt, eilt die Regierung herbei, um eifrig schuldzusprechen, mit wenig oder gar keinen Untersuchungen. Der Brandanschlag auf den Sabarmati Express in Godhra, der Angriff auf das Parlamentsgebäude am 13. Dezember, oder die Massaker an Sikhs, welche von so genannten “Terroristen” in Chittisinghpura begangen worden sein sollen, sind nur einige Beispiele, welchen große Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. (Die sogenannten Terroristen, welche später von den Sicherheitskräften ermordet worden sind, stellten sich als unschuldige Dorfbewohner heraus. Die Regierung dieses Bundesstaates hat anschließend zugegeben, dass gefälschte Blutproben zur Durchführung von DNA-Tests abgegeben worden sind).

In jedem dieser Fälle führte das Faktenmaterial das langsam an die Oberfläche kam zu unangenehmen Fragen, und so wurde dieses sofort unter Verschluss genommen. Man betrachte den Fall Godhras: gleich nachdem es passiert ist, verkündete der Innenminister, dass dies ein Komplott des [pakistanischen Geheimdienstes] ISI war. Die VHP [Hindi-Abkürzung für “Weltrat der Hindus”, eine nationalistische Partei] sagt, dass dies das Werk eines muslimischen Mobs war, welcher Brandbomben warf. Wichtige Fragen bleiben unbeantwortet. Die ununtermauerten Behauptungen hören nie auf. Jeder glaubt, was er oder sie glauben will, aber der Vorfall wird zynisch und systematisch dazu benutzt kommunale Raserei anzustacheln.

Die US Regierung nutzt die Lügen und Desinformation, welche sie um die Angriffe am 11. September herum schuf, nicht nur für die Invasion eines Landes, sondern von zweien - und wer kann sagen, was noch auf uns zukommt.

Die indische Regierung nutzt die gleiche Strategie nicht nur im Umgang mit anderen Ländern, sondern auch gegen ihre eigene Bevölkerung.

Im letzten Jahrzehnt ist die Zahl der Menschen, welche von den Polizei- und Sicherheitskräften getötet worden sind, im Bereich der Zehntausende gewesen. Kürzlich sprachen mehrere Polizisten aus Bombay offen mit der Presse darüber, wieviele “Gangster” sie auf “Befehl” von führenden Beamten eliminieren mussten. Andhra Pradesh kommt auf ungefähr 200 “ExtremistInnen”, welche im Durchschnitt jedes Jahr bei “Zusammenstößen” sterben. In Kashmir, in einer Situation, welche beinahe einem Krieg gleichkommt, wird geschätzt, dass 1989 ungefähr 80.000 Menschen getötet worden sind. Tausende sind einfach “verschwunden”. Laut Aufzeichnungen der Vereinigung von Eltern verschwundener Menschen sind 2003 in Kashmir mehr als 3.000 Menschen getötet worden, von denen 468 Soldaten waren. Seit die Regierung Mufti Mohammed Sayeeds im Oktober 2002 mit dem Versprechen an die Macht kam, “eine Heilende Wirkung” mitzubringen, gab es laut dieser Vereinigung 54 Tote in den Gefängnissen.

In diesem Zeitalter des Hyper-Nationalismus können die Mordenden, solange die Menschen, welche getötet werden, als Verbrecher, Terroristen, Aufständische oder Extremisten bezeichnet werden, als Krieger in einem Kreuzzug für das nationale Interesse herumstolzieren, und sind niemandem Rechenschaft schuldig. Auch wenn es wahr wäre (was es sicherlich nicht ist), dass jede Person, welche ermordet worden ist, tatsächlich ein Gangster, Terrorist, Aufständischer oder Extremist war - so sagt uns dies lediglich, dass mit einer Gesellschaft in welcher so viele Menschen zu so verzweifelten Maßnahmen gezwungen werden etwas ganz falsch laufen muss.

Die Neigung des indischen Staates Menschen zu verfolgen und zu beleidigen ist durch das Gesetz zur Verhinderung von Terrorismus (GVT, engl.: Prevention of Terrorism Act, POTA) institutionalisiert und heilig gesprochen worden. Es ist bereits in 10 Bundesstaaten ratifiziert worden. Man sieht schon nach einmaligem durchblättern des GVT, dass dieses Gesetz drakonisch ist und alles betrifft. Es ist ein für viele Zwecke einsetzbares Gesetz, welches jeden anvisieren könnte - vom Al Kaida Anführer, der mit einem Vorrat an Sprengstoff ertappt wird, bis zu einem Adivasi, der unter einem Neem-Baum Flöte spielt, auch dich, auch mich. Die Genialität des GVT ist, dass alles sein kann, was die Regierung gern hätte. Wir sind von der Gunst jener abhängig, die uns regieren. In Tamil Nadu ist es dafür benutzt worden um Kritik an der Regierung dieses Bundesstaats zum Schweigen zu bringen. In Jharkhand wurden im Rahmen des GVT 3200 Personen angeklagt, hauptsächlich arme Adivasis, denen vorgeworfen wird, Maoisten zu sein. Im Osten Uttar Pradeshs wird das Gesetz dafür benutzt, jene zu bestrafen, welche es wagen gegen die Entfremdung ihres Landes zu protestieren und gegen die Zunichtemachung ihres Rechts auf ein würdiges Leben. In Gujrat und Mumbai wird es fast ausschließlich gegen Muslime eingesetzt. In Gujarat wurden nach dem staatlich unterstützten Pogrom des Jahres 2002, in welchem schätzungsweise 2000 Muslime getötet und an die 150.000 aus ihren Heimen verjagt worden sind, im Rahmen des GVT 287 Personen angeklagt. Von diesen sind 286 Muslime und einer ist ein Sikh!

Das GVT gestattet es Geständnisse, welche in Polizeigefangenschaft erzwungen worden sind, als juristischen Beweis gelten zu lassen. Das GVT hat somit den Effekt, dass polizeiliche Folter die polizeiliche Untersuchung ablösen wird. Das ist schneller, billiger, und garantiert Ergebnisse. Das fällt wohl unter Sparmaßnahmen bei öffentlichen Ausgaben.

Letzten Monat war ich ein Mitglied eines Volkstribunales, das sich mit dem GVT befasste. In einem Zeitraum von zwei Tagen hörten wir grauenhafte Zeugenaussagen darüber, was in unserer wunderschönen Demokratie vor sich geht. Ich kann versichern, dass es auf unseren Polizeistationen alles gibt: Menschen werden gezwungen Urin zu trinken, sich ausziehen zu lassen, sie werden gedemütigt, sie bekommen Elektroschocks, werden mit Zigarettenenden verbrannt, Eisenstäbe werden in ihren After geschoben, sie werden geschlagen und zu Tode getreten.

Als Konsequenz des GVT wurden überall im Land Menschen, auch einige sehr junge Kinder, angeklagt und eingesperrt; es kann keine Kaution gestellt werden, und sie erwarten eine Verhandlung in einem speziellen GVT-Gericht, welches keiner öffentlichen Kontrolle untersteht. Eine Mehrheit von jenen, welche aufgrund des GVT eingesperrt wurden, sind an einem dieser beiden Verbrechen schuldig: Entweder sie sind arm - und meistens kastenlos oder Adivasis. Oder sie sind Muslime. Das GVT dreht das akzeptierte Diktum des Strafgesetzes um - dass nämlich eine Person solange unschuldig ist bis ihre Schuld bewiesen ist. Unter dem GVT, kommst du nicht auf Kaution frei, wenn du nicht beweisen kannst, dass du unschuldig bist - unschuldig eines Verbrechen, dessen man gar nicht formell angeklagt worden ist. Im Endeffekt musst du beweisen, dass du unschuldig bist, auch wenn du dir nicht denken kannst, was für eines Verbrechen du bezichtigt wirst. Und das betrifft uns alle. Technisch gesehen sind wir eine Nation, welche darauf wartet, angeklagt zu werden.

Es wäre naiv anzunehmen, dass das GVT “missbraucht” wird. Ganz im Gegenteil. Es wird genau für jene Zwecke verwendet, für welche es erlassen worden ist. Natürlich wird das GVT bald überflüssig sein, wenn die Vorschläge des Malimath Komitees umgesetzt werden. Das Malimath Komitee schlägt vor, dass in gewissen Bereichen das gewöhnliche Strafgesetz mit den Bestimmungen des GVT in Übereinstimmung gebracht werden soll. Es wird dann keine Kriminellen mehr geben. Nur noch Terroristen. Das ist ziemlich schick.

Schon heute erlaubt es das Militärische Sonderermächtigungsgesetz, dass nicht nur Offiziere, sondern auch niedrigrangigeres Armeepersonal, gegenüber jeder Person die sie verdächtigen, die öffentliche Ordnung zu stören oder eine Waffe zu tragen, Gewalt anzuwenden, und sie sogar zu töten. Auf Verdacht! Niemand der in Indien lebt kann sich darüber hinwegtäuschen, wozu das führen wird. Die Berichte von Folterungen, Leute die verschwinden, Tode in Gefangenschaft, Vergewaltigung und Gruppen-Vergewaltigung (durch Sicherheitskräfte), reichen aus, um einem das Blut in den Adern kalt werden zu lassen. Die Tatsache, dass Indien trotz all diesem in der internationalen Gemeinschaft und unter seiner Mittelschicht einen Ruf als legitime Demokratie beibehalten kann, ist ein Triumph.

Das Militärische Sonderermächtigungsgesetz ist eine verschärfte Version der Verordnung, die Lord Linlithgow 1942 erlassen hat, um mit der Quit India-Bewegung fertig zu werden. 1958 wurde sie in Gebieten in Manipur in Kraft gesetzt, welche mit “disturbed” bezeichnet wurden. 1964 wurde das ganze Mizoram, damals noch teil von Assam, als “disturbed” deklariert. 1972 wurde der Akt auf Tripura ausgeweitet. Bis 1980 ist ganz Manipur für “disturbed” erklärt worden. Was für weitere Beweise sollte irgendjemand noch verlangen, bevor es klar ist, dass repressive Maßnahmen das Gegenteil von dem bewirken, wozu sie gedacht sind, und das Problem verschlimmern?

Einher mit dieser verkommenen Bereitwilligkeit, Menschen zu unterdrücken und auszulöschen, geht die kaum verborgene Abgeneigtheit des indischen Staates, Fälle, in welchen es jede Menge Beweise gibt, zu untersuchen und vor ein Gericht zu bringen: das Massaker an 3000 Siksh in Delhi, im Jahr 1984; die Massaker an Muslimen in Bombay 1993 und in Gujarat 2002 (es gab bis heute keine einzige Verurteilung!); der Mord der vor wenigen Jahren an Chandrashekhar, dem früheren Präsidenten der JNU Studentenvereinigung, verübt worden ist; der Mord vor zwölf Jahren an Shankar Guha Nyogi von den Chattisgarh Mukti Morcha; das sind nur einige wenige Bespiele. Berichte von AugenzeugInnen und eine Menge beschuldigender Beweise sind nicht genug, wenn die ganze Maschinerie des Staates gegen dich steht.

Inzwischen informieren uns jubelnde Ökonomen von den Seiten der Wirtschaftszeitungen aus, dass die Wachstumsrate des BIPs phänomenal ist, so etwas hat es noch nicht gegeben. Die Geschäfte sind mit Konsumgütern überfüllt. Die Regierungswarenhäuser sind mit Getreide überfüllt. Außerhalb dieses Kreises des Lichts bringen sich Bauern zu Hunderten um, weil sie so stark verschuldet sind. Berichte von Hungertoten und Unterernährung kommen aus dem ganzen Land. In der gleichen Zeit lässt die Regierung zu, dass 63 Millionen Tonnen Getreide in ihren Speichern verrotten. 12 Millionen Tonnen wurden exportiert und zu einem subventionierten Preis verkauft, den die indische Regierung den Armen in Indien nicht anbieten wollte.

Utsa Patnaik, der bekannte Agrarökonom, hat für einen Zeitraum von fast einem Jahrhundert die Verfügbarkeit und den Verbrauch von Nahrungsgetreide (foodgrain) in Indien aus offiziellen Statistiken heraus berechnet. In der Zeit zwischen den frühen Neunzigern und 2001 ist die Aufnahme von Nahrungsgetreide auf ein niedrigeres Niveau als in der Zeit des Zweiten Weltkrieges gefallen, niedriger als während der Hungersnot in Bengalen, in welcher 3 Millionen Menschen verhungerten. Wie wir von den Arbeiten Professors Amartya Sen wissen, sehen Demokratien Hungertote nicht gern. Sie ziehen zuviel ungewollte Aufmerksamkeit der “Freien Presse” auf sich.

Also ist heute gefährliche Unterernährung und permanenter Hunger das bevorzugte Modell. 47% der unter drei-jährigen Kinder in Indien leiden an Unterernährung, 46% wurden so in ihrer Entwicklung gehemmt. Utsa Ptanaiks Studie zeigte, dass 40% der ländlichen Bevölkerung Indiens den gleichen Verbrauch von Nahrungsgetreide hat wie das Afrika südlich der Sahara. Heute isst eine durchschnittliche ländliche Familie im Jahr ungefähr 100 kg weniger Nahrung als Anfang der 90er. In den letzten fünf Jahren gab es den stärksten Anstieg der Ungleichheit zwischen Land und Stadt seit der Unabhängigkeit.

Aber im städtischen Indien siehst du, wo auch immer du hingehst, ob in Geschäfte, Restaurants, Bahnhöfe, Flughäfen, Gymnasien oder in Krankenhäuser, überall Fernsehschirme, in welchen Wahlversprechen bereits wahr geworden sind. Indien glänzt, Feeling Good. Und wenn der Stiefel eines Polizisten auf die Rippen eines Menschen tritt, musst du nur deine Ohren verschließen, um das Übelkeit erregende Brechen nicht zu hören; du musst nur deine Augen vom Schmutz, den Slums, den zerlumpten gebrochenen Leuten auf der Straße wegheben und einen freundlichen Fernsehschirm suchen, und du wirst in dieser wunderschönen Welt sein. Die singende, tanzende Welt von Bollywoods nie endendem Hüftschwung, von immer privilegierten, immer glücklichen InderInnen, welche die indische Tricolore halten, Feeling Good. Es wird immer schwieriger und schwieriger zu sagen, was die echte Welt und was die gefälschte ist. Gesetze wie das GVT sind wie Knöpfe auf dem Fernseher. Man kann sie benutzen um die Armen auszuschalten, die Störenden, die Ungewollten.

In Indien findet eine neue Art von Abspaltungsbewegung statt. Werden wir das Neuen Sezessionismus nennen? Es ist eine Umkehrung des Alten Sezessionismus. Wenn Menschen die in Wirklichkeit Teil einer ganz anderen Wirtschaft, eines ganz anderen Landes, eines ganz anderen Planeten sind, vorgeben, dass sie von hier sind. Es ist jene Art von Sezessionismus, in welchem eine relativ kleine Gruppe von Leuten unglaublich reich wird, indem sie alles für sich beansprucht - Land, Flüsse, Wasser, Freiheit, Sicherheit, Würde, fundamentale Rechte, wie das Recht zu protestieren - und das alles einer großen Gruppe von Menschen wegnimmt. Es ist eine vertikale Abspaltung, nicht eine horizontale, bzw. eine territoriale. Es ist die wirkliche strukturelle Anpassung - jene Art, welche das glänzende Indien von Indien trennt. Das Indien, die GmbH von Indien, dem öffentlichen Unternehmen.

Es ist eine Art von Abspaltung, in welcher die öffentliche Infrastruktur, der produktive öffentliche Besitz - Wasser, Elektrizität, Transport, Telekommunikation, Gesundheitsdienste, Bildung, natürliche Ressourcen - Besitz, den der indische Staat als Verwalter für die Menschen halten sollte, welche er repräsentiert - vom Staat an private Unternehmen verkauft werden. In Indien leben siebzig Prozent der Bevölkerung - siebenhundertmillionen Menschen - in ländlichen Gebieten. Ihr Lebend hängt vom Zugang zu natürlichen Ressourcen ab. Wenn diese ihnen weggerissen und als Gut an private Unternehmen verkauft werden, beginnt das eine Enteignung und Verarmung in einem barbarischen Umfang zu werden.

Die Indien-GmbH wird bald von einigen wenigen Unternehmen und großen multinationalen Konzernen besessen werden. Die Vorsitzenden dieser Unternehmen werden das Land kontrollieren, seine Infrastruktur und seine Ressourcen, seine Medien und seine JournalistInnen, aber sie werden seinen Menschen gegenüber keine Verpflichtungen haben. Sie sind auf keine Weise zur Verantwortung zu ziehen - weder legal, sozial, moralisch oder politisch. Jene, welche sagen, dass in Indien einige wenige dieser Vorsitzenden mächtiger als der Premierminister sind, wissen genau, was sie sagen.

Abgesehen von den wirtschaftlichen Folgen von all diesem, auch wenn alles so wäre, wie es präsentiert wird (was es nicht ist) - wundervoll, effizient, bemerkenswert, usw. - , ist die Politik, die damit einhergeht, akzeptabel für uns? Wenn der indische Staat sich entschließt seine Verantwortungen an eine Hand von Korporationen zu verpfänden, bedeutet das, dass dieses Wahltheater, welches gerade jetzt in all seiner Heftigkeit abgespielt wird, ganz ohne Bedeutung ist? Oder wird dem weiterhin eine Rolle zukommen?

Der Freie Markt (der in der Wirklichkeit ganz und gar nicht frei ist) braucht den Staat, und braucht ihn dringend. Während die Kluft zwischen den Reichen und Armen wächst, ist die Arbeit für den Staat in armen Ländern klar vorgegeben. Korporationen welche auf Jagd nach besonders entgegenkommenden Geschäften sind, welche enorme Profite für sie bedeuten, können diese Geschäfte in Entwicklungsländern nicht ohne die aktive Beihilfe der Staatsmaschinerie erzwingen und diese Projekte ohne diese nicht verwalten. Heute braucht die Globalisierung der Konzerne eine internationale Vereinigung von loyalen, korrupten, am besten autoritären Regierungen in armen Ländern, um unpopuläre Reformen durchzusetzen und Aufstände niederzuschlagen. Das wird so bezeichnet: “Ein gutes Investitionsklima schaffen”.

Wenn wir in diesen Wahlen wählen, werden wir wählen, welcher politischen Partei wir gerne die gewaltvolle, repressive Macht des Staates übergeben wollen.

Gerade jetzt müssen wir in Indien die gefährlichen Querströmungen von neoliberalem Kapitalismus und kommunalem Faschismus angehen. Während das Wort Kapitalismus seinen Glanz noch nicht ganz verloren hat, wirkt die Benutzung des Wortes Faschismus oft beleidigend. Also müssen wir uns fragen, ob wir das Wort zu leichtfertig verwenden. Übertreiben wir unsere Situation, oder ist das, was wir täglich erleben, als Faschismus einzuordnen?

Wenn eine Regierung mehr oder weniger offen ein Pogrom gegen Mitglieder einer Minderheit unterstützt, in welchem bis zu zwei tausend Menschen brutal getötet werden, ist das Faschismus? Wenn Frauen aus dieser Minderheit öffentlich vergewaltigt und verbrannt werden, ist das Faschismus? Wenn die Machthaber sich zusammentun um sicherzustellen, dass niemand für diese Verbrechen bestraft wird, ist das Faschismus? Wenn 150.000 Menschen von ihren Häusern vertrieben werden, in Ghettos gesteckt und wirtschaftlich und sozial boykottiert werden, ist das Faschismus? Wenn die kulturelle Gilde, welche im ganzen Land Hasslager betreibt, den Respekt und die Bewunderung des Premierministers, des Innenministers, des Justizministers und des Desinvestierungs-Ministers bekommt, ist das Faschismus? Wenn MalerInnen, AutorInnen, Intellektuelle und Filmemacher die protestieren, missbraucht und bedroht werden, ihre Arbeit verbrannt, verboten und zerstört wird, ist das Faschismus? Wenn eine Regierung ein Edikt erlässt, welches die willkürliche Abänderung von Schulbüchern vorschreibt, ist das Faschismus? Wenn Mobs Archive alter historischer Dokumente überfallen und verbrennen, wenn jeder noch so kleine Politiker sich als professioneller Historiker des Mittelalters und Archäologe ausgibt, wenn gewissenhafte wissenschaftliche Arbeit durch populistische Behauptungen zunichte gemacht wird, ist das Faschismus? Wenn Mord, Vergewaltigung, Vergiftung und Lynchjustiz von der Partei an der Macht und ihrem Stall voller braver Intellektueller als angemessene Antwort auf eine echte oder eingebildete historische Ungerechtigkeit, die Jahrhunderte zurückliegt, zugelassen werden, ist das Faschismus? Wenn die Mittelschicht und alle jene, denen es sehr gut geht, dann einen Moment stehen bleiben, Tut-Tut machen, und dann mit ihren Leben weitermachen, als wäre nichts gewesen, ist das Faschismus? Wen der Premierminister, welcher all diesem vorsteht, als Staatsmann und Visionär gepriesen wird, legen wir dann nicht die Fundamente für einen schrankenlosen Faschismus?

Dass die Geschichte der unterdrückten und bezwungenen Menschen zum Großteil ungeschrieben bleibt, ist eine Binsenweisheit, die nicht nur auf die Savarna Hindus zutrifft. Wenn die Politik, historische Ungerechtigkeiten zu rächen, der Weg ist den wir gehen wollen, dann haben sicherlich auch die Daliten und Adivasis in Indien das Recht zu morden, zu vergiften und nach belieben zu zerstören?

In Russland sagt man, dass die Vergangenheit unvorhersehbar ist. In Indien, wissen wir aufgrund unserer jüngsten Erfahrung mit den Geschichtsbüchern in der Schule, wie wahr das ist. Jetzt müssen alle “pseudo-weltlichen Leute” hoffen, dass die Archäologen, welche unter der Babri Majid Moschee graben, keine Überreste eines Ram-Tempels finden. Aber auch wenn es wahr wäre, dass ein Hindu-Tempel unter jeder Mosche Indiens liegt, was war unter dem Hindu-Tempel? Vielleicht ein anderer Hindu-Tempel, für einen anderen Gott. Vielleicht eine buddhistische Stupa. Sehr wahrscheinlich ein Adivasi-Schrein. Die Geschichte begann nicht mit dem Savarna Hinduismus, oder? Wie tief sollen wir graben? Wie viel sollten wir umwerfen? Und warum werden Muslime, welche sozial, kulturell und wirtschaftlich ein untrennbarer Teil Indiens sind, als fremd bezeichnet, während die Regierung zugleich eifrig Geschäfte mit Konzernen macht und Verträge für Entwicklungshilfe mit einen Land abschließt, das uns für Jahre kolonialisiert hat?

Zwischen 1876 und 1892, während der großen Hungersnöte, verhungerten Millionen Inder, während die britische Regierung weiterhin Nahrung und Rohmaterial nach England exportierte. Historische Aufzeichnungen schätzen, dass zwischen 12 und 29 Millionen Menschen starben. Das sollte bei der Politik der Rache auch eine gewisse Rolle spielen, oder etwa nicht? Oder macht Rache nur Spaß, wenn die Opfer verwundbar und leicht anzugreifen sind?

Erfolgreicher Faschismus braucht harte Arbeit. Und diese ist auch nötig, um “Ein gutes Investitionsklima zu schaffen”. Arbeiten die beiden gut zusammen? Historisch gesehen haben sich Korporationen selten vor Faschisten geziemt. Korporationen wie Siemens, I.G. Farben, Bayer, IBM und Ford machten mit den Nazis Geschäfte. Wir haben die aktuelleren Beispiele unserer eigenen Konföderation der Indischen Industrie (CII), welche auch noch nach dem Pogrom des Jahres 2002 mit der Regierung Gujarats Geschäfte macht. So lange wie unsere Märkte offen sind, wird ein bisschen selbst angebauter Faschismus keinem guten Geschäft in die Quere kommen.

Es ist interessant zu bemerken, dass gerade zu jener Zeit, in welcher Manmohan Singh, damaliger Finanzminister, die indischen Märkte auf den Neoliberalismus einstellte, L.K. Advana seine erste Rath Yatra veranstaltete, die den Zorn der ländlichen Bevölkerung aufwiegelte, und uns für den Neo-Faschismus vorbereitete. Im Dezember 1993 zerstören randalierende Mobs die Babri Majid Moschee. 1993 unterzeichnete die Regierung von Maharashtra ein Energiekauf-Abkommen mit Enron. Das war das erste private Energieprojekt in Indien. Der Vertrag mit Enron, so disaströs er sich auch entpuppte, startete die Zeit der Privatisierung in Indien. Jetzt, wenn die Kongress-Partei von den Zuschauertribünen aus jammert, hat die BJP den Prügel aus ihren Händen gerissen. Die Regierung veranstaltet ein außergewöhnliches Doppelkonzert. Während der eine Arm damit beschäftigt ist, die Reichtümer der Nation in großen Stücken auszuverkaufen, organisiert der andere Arm, um Aufmerksamkeit abzulenken, einen bellenden, schreienden und krankhaften Kultur-Nationalismus. Die unerbitterliche Rücksichtslosigkeit des einen Projekts nährt direkt den Wahnsinn des anderen.

Auch wirtschaftlich betrachtet ist dieses Doppelkonzert ein gangbarer Weg. Ein Teil der enormen Profite, welche in diesem Prozess der totalen Privatisierung (und dem Anwachsen des Glänzenden Indiens) entstehen, geht in die Finanzierung von Hindutvas riesiger Armee - dem RSS, dem VHP, dem Bajrang Dal, und an eine Vielzahl anderer Organisationen, welche Schulen, Spitäler und soziale Dienste verwalten. Der Hass, den sie predigen, verbunden mit der unaufhaltsamen Frustration, welche durch die rücksichtslose Verarmung und Enteignung durch das Globalisierungsprojekt der Konzerne entsteht, schürt die Gewalt von Arm gegen Arm - die perfekte Rauchwand, hinter welcher man die Strukturen der Macht intakt und ungestört arbeiten lassen kann.

Aber es ist nicht immer genug die Frustration der Menschen in Gewalt umzulenken. Um ein “Gutes Investitionsklima zu schaffen”, muss der Staat oft selbst eingreifen.

In den letzten Jahren hat die Polizei bei friedlichen Demonstrationen wiederholt Feuer auf unbewaffnete Menschen eröffnet, meistens Adivasis. In Nagarnar, Jharkhand; in Mendi Kheda, Madhya Pradesh, in Umergaon, Gujarat; in Rayagara und Chilika, Orissa; in Muthang und in Kerala sind Menschen getötet worden. Wenn es arme Menschen sind, und besonders Dali oder Adivasi-Gemeinschaften, werden sie dafür umgebracht, einen Wald zu betreten, (Muthanga), und auch wenn sie versuchen ihren Wald und ihr Land vor Dämmen, Bergbauarbeiten oder Schwerindustrie zu schützen (Koel Karo, Nagarnar). Der Widerstand geht weiter und weiter - Jambudweep, Kashipur, Maikanj.

Fast jedesmal wenn die Polizei auf Menschen schießt, werden jene, die beschossen worden sind, sofort Militante genannt (PWG, MC, ISI, LTTE).

Wenn die Opfer sich weigern Opfer zu bleiben, werden sie Terroristen genannt, und man geht mit ihnen auch so um. POTA ist ein Breitspektrumantibiotikum gegen die Krankheit Widerstand. Es gibt andere, spezifischere, Schritte, welche auch unternommen werden - Gerichtsurteile welche die Redefreiheit, das Recht zu streiken und das Recht zu leben einschränken. Die Ausgänge werden alle verschlossen. Dieses Jahr haben 181 Länder bei einer UNO-Versammlung für den verstärkten Schutz der Menschenrechte in der Zeit des Kriegs gegen den Terror gestimmt. Sogar die USA stimmte dafür. Indien enthielt sich der Stimme. Es wird alles für einen Großangriff auf die Menschenrechte vorbereitet.

Wie können also einfache Menschen auf den Angriff eines zunehmend gewalttätigeren Staat reagieren?

Der Boden auf welchem gewaltfreier Widerstand fruchtbar sein kann, ist ausgetrocknet worden. Nach mehrjährigen Anstrengungen stehen mehrere gewaltfreie Widerstandsbewegungen jetzt mit dem Rücken zur Wand, und fühlen ganz richtig, dass sie jetzt ihre Richtung ändern müssen. Ansichten darüber, welche Richtung das sein soll, sind zutiefst polarisiert. Es gibt jene welche glauben, dass ein bewaffneter Kampf der einzige Weg ist, der noch übrig bleibt. Lässt man auch fürs erste Kashmir und den Nordosten beiseite, so gibt es ganze Ketten von Gebieten, ganze Distrikte in Jharkhand, Bihar, Uttar Pradesh, Madhya Pradesh und UP, die jetzt von jenen kontrolliert werden, die dieser Ansicht sind. Andere glauben immer stärker, dass sie sich an der Politik der Wahlen beteiligen müssen - bei diesem System mitmachen müssen, um von innerhalb zu verhandeln. (Ist es nicht ähnlich wie die Entscheidungen, vor welchen die Menschen in Kashmir standen?) Was man aber nicht vergessen darf ist, dass, so sehr sich diese beiden Gruppen auch unterscheiden, teilen beide doch den Glauben (um es plump zu formulieren): Es Reicht! Ya Basta!

Es gibt zurzeit keine wichtigere Debatte in Indien. Das Ergebnis wird das Leben in diesem Land verändern, zum besseren oder zum schlechteren. Für alle. Reich, arm, ländlich, städtisch.

Bewaffneter Kampf führt zu einer massiven Eskalation der Gewalt von Seiten des Staates. Wir haben gesehen, in welchen Morast dies in Kashmir und im Nordosten geführt hat.

Also, sollten wir das tun, was unser Premierminister vorschlägt? Dem Widerstand entsagen und uns ins Wahlgetümmel werfen? Bei der Roadshow mitmachen? Beim schrillen Austausch von Beleidigungen mitmachen, welche nur dazu dienen zu verbergen, was sonst ein fast totaler Konsens ist? Vergessen wir nicht, dass bei all den großen Themen - den Nuklearwaffen, den großen Dämmen, der Kontroverse um Badri Masjid, bei der Privatisierung - die Kongresspartei die Saat gelegt hat, und die BJP herbeistürmte, um die bösartige Ernte zu kassieren.

Das bedeutet nicht, dass das Parlament keine Bedeutung hat, und man Wahlen ignorieren sollte. Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen einer unverholen kommunalistischen Partei mit faschistischer Ausrichtung oder einer opportunistischen kommunalistischen Partei. Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen einer Politik, welche offen und stolz Hass predigt und einer Politik, welche schlau und still die Menschen gegeneinander aufbringt.

Und natürlich wissen wir, dass das Erbe der einen uns den Horror der anderen gebracht hat. Zwischen ihnen haben sie jede echte Wahl ausgelöscht, welche eine parlamentarische Demokratie bieten sollte. Die Raserei, die Atmosphäre eines Messegeländes, die um die Wahl herum geschaffen wird, bekommt in den Medien die größte Aufmerksamkeit, weil sich jeder darin sicher ist, dass egal wer gewinnt, der Status Quo nicht herausgefordert werden wird. (Nach den eifrigen Reden im Parlament, scheint eine Widerrufung des GVT bei keiner der Parteien eine Priorität in ihrer Wahlkampagne darzustellen. Sie wissen alle, dass sie es brauchen, in der einen oder anderen Form.) Was auch immer sie während Wahlen oder wenn sie gerade in der Opposition sind sagen, keine Regierung des Staates oder eines Bundesstaates konnte die Hand des Neoliberalismus beiseite halten. Es wird keine radikalen Veränderungen “von innen” geben.

Ich persönlich glaube nicht, dass ein gangbarer Weg zu einer alternativen Politik über eine Beteiligung an den Wahlkämpfen führt. Nicht wegen der gespielten Zierlichkeit der Mittelschicht, welche sich in Aussprüchen wie “Politik ist schmutzig”, oder “alle PolitikerInnen sind korrupt” äußert, sondern weil ich glaube, dass man strategische Kämpfe von einer Position der Stärke und nicht von einer der Schwäche aus führen muss.

Die Ziele eines zweifachen Angriffs von kummunalem Faschismus und von Neoliberalismus sind die Armen und die Minderheiten (welche mit fortschreitender Zeit immer mehr verarmt werden). Während der Neoliberalismus seinen Keil zwischen Arm und Reich treibt, zwischen dem Glänzenden Indien und Indien, wird es für jede Mainstream-Partei zunehmend absurd vorzugeben, sowohl die Interessen der Armen als auch die der Reichen zu vertreten, weil die Interessen der einen nur auf Kosten jener der anderen vertreten können. Meine “Interessen” als eine reiche Inderin (würde ich nach ihnen handeln), würden kaum den Interessen eines armen Bauern in Andhra Pradesh ähneln.

Eine politische Partei, welche die Armen vertritt, wird eine arme Partei sein, eine Partei mit sehr geringfügigen Geldern. Heute ist es nicht möglich eine Wahl ohne Gelder zu führen. Ein paar gut bekannte soziale AktivistInnen ins Parlament zu setzen ist interessant, aber nicht wirklich politisch bedeutungsvoll. Kein Prozess, der es Wert wäre, all unsere Energie zu schlucken. Individuelles Charisma und Personenpolitik kann keine radikale Veränderung bewirken.

Aber arm zu sein bedeutet nicht schwach zu sein. Die Stärke der Armen liegt nicht innerhalb von Regierungsgebäuden und Gerichtshöfen. Sie liegt außerhalb, in den Feldern, den Bergen, den Straßen und auf jedem Universitätscampus des Landes. Dort müssen die Verhandlungen abgehalten werden. Dort muss der Kampf geführt werden.

Gerade jetzt sind diese Orte an die Hindu-Rechte abgegeben worden. Was auch immer man von ihrer Politik hält, man kann nicht leugnen, dass sie da draußen sind und sehr hart arbeiten. Während der Staat sich seiner Verantwortung entledigt und Gelder für elementarste öffentliche Dienste wie Gesundheit und Bildung reduziert, sind die Soldaten der Sangh Parivar einmarschiert. Neben den zehntausenden Shakhas (örtlichen Vereinen) welche tödliche Propaganda austeilen, betreiben sie Schulen, Spitäler, Kliniken, Ambulanzdienste und Katastrophenschutzstellen. Sie verstehen die Machtlosigkeit. Sie verstehen auch, dass Menschen, und besonders machtlose Menschen, Wünsche haben, welche nicht nur praktische Alltagsbedürfnisse sind, sondern auch emotional, spirituell und die Erholung betreffend. Sie haben einen bösartigen Schmelztiegel entworfen, in welchen der Ärger, die Frustration, die alltägliche Unwürdigkeit, und die Träume einer anderen Zukunft abgegossen werden können, um für einen tödlichen Zweck eingesetzt zu werden.

Inzwischen träumt die traditionelle Mainstream-Linke davon “an die Macht zu kommen”, aber bleibt seltsam festgefahren, nicht bereit sich den Fragen der Zeit zu stellen. Sie hat sich selbst in eine Ecke gestellt und in einen abgelegenen intellektuellen Raum zurückgezogen, wo antike Argumente in archaischer Sprache, welche nur wenige verstehen, vorgelegt werden.

Die einzige mögliche Herausforderung für den Großangriff der Sangh Parivar stellen die Graswurzel-Widerstandsbewegungen dar, welche im ganzen Land verstreut sind, die Enteignung und Verletzung ihrer elementarsten Rechte bekämpfen, was seinen Ursprung im aktuellen “Entwicklungs”-Modell hat. Die meisten dieser Bewegungen sind isoliert und arbeiten (trotz nie endender Anschuldigungen, dass sie “vom Ausland bezahlte ausländische Agenten” seien) fast ohne Geld und Ressourcen. Sie sind hervorragende Feuerwehrleute, sie stehen mit dem Rücken zur Wand. Aber sie stehen in Kontakt zur Realität und sehen genau, was passiert. Sie wissen, wie die düstere echte Welt aussieht. Wenn sie zusammenarbeiten würden, wenn sie unterstützt und gestärkt werden würden, könnten sie zu einer Kraft werden, die man beachten muss. Ihr Kampf wird, wenn er gefochten wird, ein idealistischer sein müssen - kein starrer und ideologischer.

In einer Zeit, in welcher Opportunismus alles ist, wenn die Hoffnung verloren scheint, wenn alles sich auf einen zynischen Geschäftsabschluss reduziert, müssen wir die Courage finden zu träumen. Die Romantik wiedererobern. Die Romantik, an Gerechtigkeit, Freiheit und Würde zu glauben. Für alle. Wir müssen gemeinsam gehen, und um das zu tun, müssen wir verstehen, wie diese große alte Maschine arbeitet - für wen sie arbeitet und gegen wen sie arbeitet. Wer zahlt, wer profitiert? Im ganzen Land führen gewaltfreie Widerstandsbewegungen isolierte Kämpfe um einzelne Themen, und beginnen zu begreifen, dass diese Art der Politik, einzelne Interessen zu vertreten, welche ihre Zeit und ihren Ort hatte, nicht länger ausreichend ist. Dass sie sich in eine Ecke gedrängt und ineffektiv fühlen, ist nicht Grund genug, vom gewaltfreien Widerstand als Strategie abzukehren. Es ist jedoch Grund genug einige ernsthafte Fragen an uns selbst zu stellen.

Wir brauchen eine Vision. Wir müssen sicherstellen, dass jene von uns welche sagen, dass wir die Demokratie wiederaufrichten wollen, in unseren eigenen Abläufen und Methoden egalitär und demokratisch sind. Wenn unser Kampf ein idealistischer sein soll, können wir keine Ausnahmen für interne Ungerechtigkeiten vorsehen, die wir einander, Frauen oder Kindern, antun. Zum Beispiel dürfen jene, welche den Kommunalismus bekämpfen, die wirtschaftliche Ungerechtigkeit nicht einfach ignorieren. Jene, welche Dämme oder Entwicklungsprojekte bekämpfen, dürfen Themen wie Kommunalismus oder Kastenpolitik in ihrer Einflusssphäre nicht einfach ausweichen - sogar auf Kosten von kurzfristigen Erfolgen in ihren Kampagnen. Wenn Opportunismus und Praktikabilität auf Kosten unserer Überzeugungen akzeptiert werden, dann unterscheidet uns nichts von Mainstream-PolitikerInnen. Es ist Gerechtigkeit, was wir wollen, und das muss Gerechtigkeit und gleiche Rechte für alle bedeuten - nicht nur für Einzelgruppen mit Einzelinteressen. Darüber kann nicht diskutiert werden.

Wir haben es zugelassen, dass der gewaltfreie Widerstand beim Theater der Fühl-Dich-Gut-Politik mitmacht, was bestenfalls eine Photogelegenheit für die Medien darstellt, und im schlechtesten Fall einfach ignoriert wird.

Wir müssen uns umsehen und dringend Strategien des Widerstandes besprechen, echte Kämpfe führen und echten Schaden zufügen. Wir müssen uns daran erinnern, dass der Salzmarsch nicht nur ein gutes politisches Theater war. Er war ein Angriff auf das wirtschaftliche Fundament des britischen Imperiums.

Wir müssen die Bedeutung von Politik wieder neu definieren. Die “NGO”-isierung der Gesellschaft führt uns geradewegs in die falsche Richtung. Sie entpolitisiert uns. Sie macht uns abhängig von Hilfe und Geschenken. Wir müssen die Bedeutung von zivilem Ungehorsam wiederentdecken.

Vielleicht brauchen wir ein gewähltes Schattenparlament außerhalb der Lok Sabha, ohne deren Unterstützung und Bestätigung das Parlament nicht mehr problemlos funktionieren kann. Ein Schattenparlament welches im Untergrund einen Takt vorgibt und Informationen zur Verfügung stellt (was die Mainstreammedien immer weniger machen). Furchtlos, aber gewaltfrei, müssen wir die Bestandteile dieser Maschine, welche uns aushölt, ausschalten.

Uns geht die Zeit aus. Schon während wir sprechen, schließt sich der Kreis der Gewalt um uns.

Auf welchem Weg auch immer, die Veränderung wird kommen. Sie könnte blutig sein, oder sie könnte wunderschön sein. Es hängt von uns ab.

Quelle: ZNet Deutschland vom 19.06.2004. Übersetzt von: Matthias, mit leichter Bearbeitung von Michael Schmid. Orginalartikel: “How Deep Shall We Dig?” . Weitere Artikel von Arundhati Roy unter: Roy, Arundhati .

Veröffentlicht am

26. Juni 2004

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