Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Tschetschenien-Konflikt: Russlands schwere Hypothek

Von Karl Grobe

Wladimir Putin hat mit harten Worten auf den Anschlag in Grosny reagiert, dem sein Vertrauensmann Ahmad Kadyrow, einige seiner Partner und viele Unschuldige erlegen sind. Ein russischer Präsident kann nicht anders als einen Mord auf staatsrechtlich russischem Gebiet verurteilen. Die Form seiner Reaktion entspricht dem Zerrbild, mit dem er “die” Tschetschenen darzustellen pflegt. Es ist ein einfacher Rachegedanke.

Einem russischen Präsidenten stünde es zudem gut an, sich um die Verfolgung von Verbrechern zu bekümmern, die im Namen seiner Regierung von Söldnern, Geheimdienstlern und Soldaten tagaus, tagein verübt werden. Die Untaten werden öffentlich nicht einmal erwähnt. Doch sie sind die letzte Ursache, welche die Kriminalität erzeugt, der die Todesopfer von Grosny erlegen sind. Putins Reaktion rechtfertigt die uniformierten Täter.

Damit sind die Täter von Grosny ebenso wenig entschuldigt wie jene, die - als Selbstmörderinnen - bei Popkonzerten Unbeteiligte töten, die ein Musical-Theater besetzen und Zuschauer zu Geiseln nehmen (die dann teils bei der Befreiung am Giftgas der Befreier sterben) und anderswo Attentate verüben. Bedenklich ist, wie sehr sich die Rache-Rhetorik des Präsidenten auf die Ebene jener begibt, die er nur als Terroristen kennt.

Das ist ein bestürzendes Indiz für das Scheitern der Restwerte an Politik, die Putins - und vorher schon Jelzins - Regierung im Nordkaukasus zu betreiben hoffte. Jelzin immerhin, oder sein damaliger Sicherheitsberater General Lebed, war zu der Erkenntnis gekommen, dass ein Vertragsschluss mit der gewählten Vertretung der Tschetschenen das komplizierte Problem eher lösen kann als staatliche Rachefeldzüge. Den Vertrag von 1997, der nahezu den Charakter eines Abkommens zwischen Staaten hatte, ohne aber Tschetschenien ganz zu einem souveränen Staat zu machen, ist nie auch nur annähernd erfüllt worden. Der Zerfall der administrativen Ordnung inTschetschenien war der andere Faktor des Scheiterns, wiederum in ursächlichem Zusammenhang mit dem Verhalten Moskaus.

Es ist keine Chance genutzt worden, den gewählten tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow aus der Umklammerung durch Extremisten und - den tschetschenischen Traditionen fremden - Islamisten saudisch-wahhabitischer Provenienz zu befreien, ihm Handlungsfreiheit gegen zugewanderte Söldner zu verschaffen, ihn als den Partner zu akzeptieren, der er 1997 war. Ob ein weiterer Versuch in dieser Richtung noch sehr aussichtsreich wäre, steht dahin; gleichwohl wäre er wohl die letzte aller Chancen, aus dem sich selbst nährenden Kreislauf der Gewalt auszubrechen.

Auch im Interesse der russischen Gesellschaft, und damit letztlich des Präsidenten Putin, läge ein solcher Versuch. Der Vernichtungsfeldzug, der schon über ein Zehntel der Tschetschenen mit sich gerissen hat, führt ja nicht nur durch das öffentliche Verschweigen gerade in die Unkultur der Selbstzensur sowohl der Presse als auch der Gesellschaft. Die mittlerweile wohl eine Million russischer Täter, Mittäter, Augenzeugen und Vertuscher wirkt, traumatisiert und wichtigen sozialen Normen entfremdet, unmittelbar in die russische Gesellschaft zurück. Autoritäre Ordnung kann diesen Effekt gefährlich verstärken; doch auch eine offene, zur schmerzhaften Selbstkritik fähige Gesellschaft hätte an der Hypothek schwer zu tragen.

Es geht auch um Russland, den notwendigen Partner Europas. Das Schweigen der Institutionen, die Personen-Freundschaft der Regierenden trägt die Hypothek auch in den Westen hinein. Der Verantwortung für deutliche, kritische, beharrliche Worte dürfen sich Bundeskanzler, der Außenminister und ihre Kollegen in der EU nicht entziehen, um des tschetschenischen Volkes willen, das kaum mehr andere Fürsprecher hat, und um der Partnerschaft mit der friedlichen Mehrheit in Russland willen.

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 11.05.2004. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Veröffentlicht am

12. Mai 2004

Artikel ausdrucken

Weitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von