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Irak: Der schleichende Krieg

Ein Jahr nach dem offiziellen Ende des Waffengangs in Irak haben Not und Elend der Bevölkerung noch lange kein Ende

Von Karl A. Ammann

Große Teile der Bevölkerung verarmen, die Energie- und Wasserversorgung sind mangelhaft, die alltägliche Gewalt nimmt zu - die Not der Irakerinnen und Iraker ist größer denn je. Die Menschen sind auf internationale Hilfe von außen angewiesen. Der Autor, Irak-Koordinator von Caritas international, beschreibt die Lage im Land.

Ein Jahr nach Beginn des zweiten Golf-Krieges ist die Not der einfachen Iraker größer denn je. Die Kindersterblichkeit ist stark gestiegen, Trinkwasser ist für viele Menschen noch immer ein rares Gut, das Pro-Kopf-Einkommen ist in 20 Jahren auf ein Fünftel gesunken. Hilfe aus dem Ausland ist dringend notwendig. Doch Anschläge und Attentate machen das Helfen für viele internationale Organisationen zu einem unkalkulierbaren Risiko.

Als die US-Regierung nach sechswöchigen Kämpfen am 1. Mai 2003 die Operation Iraqi Freedom für beendet erklärte, atmete die Welt kurz auf. Weniger Menschen waren getötet worden als befürchtet, weniger Infrastruktur war zerstört als erwartet. Für Hilfsorganisationen wie Caritas international jedoch war schon damals klar: Für das einfache Volk haben Not und Elend noch lange kein Ende. Dem “heißen Krieg” wird der “schleichende Krieg” folgen.

Schon die Folgen des ersten Golf-Krieges von 1991 und die zuvor verhängten Sanktionen gegen Irak durch die Vereinten Nationen hatten mehr Opfer gefordert als der eigentliche Krieg. Schätzungen internationaler Beobachter zufolge sollen von 1991 bis 2002 bis zu 1,5 Millionen Iraker an verseuchtem Wasser, mangelhafter Ernährung und unzureichender medizinischer Versorgung gestorben sein. Wären diese Menschen unmittelbar durch militärische Angriffe ums Leben gekommen, hätte es vermutlich einen internationalen Aufschrei gegeben. Für diesen “schleichenden Krieg” aber gab es keinen sichtbaren, eindeutig verantwortlichen Täter. Er machte kaum Schlagzeilen. Für die irakische Bevölkerung aber war er tagtägliche Realität. (…)

Vier Kriege innerhalb von 20 Jahren haben das Land, das bis 1982 noch selbst Entwicklungshilfe leistete, in Armut versinken lassen. Zu Beginn des Iran-Irak-Krieges 1982 verdiente ein Durchschnitts-Iraker noch 4500 Euro pro Jahr. Heute ist er glücklich, wenn es 800 Euro sind. Nur für die Staatsbediensteten verbessert sich die Situation seit Ende vergangenen Jahres: Ihre Gehälter haben sich mindestens verzehnfacht. Sie gehören damit zu den wenigen Irakern, die die Verdoppelung der Preise seit Ende des zweiten Golf-Krieges gut verkraften.

Familienleben bricht zusammen

Vielen Familien aber ließ die schleichende Verarmung keine andere Wahl, als Schmuck, Möbel, Erbstücke und manchmal ganze Häuser zu verkaufen, um beispielsweise lebensnotwendige Medikamente kaufen zu können. Jeder zweite erwerbsfähige Iraker ist arbeitslos. Oft brach das Familienleben gänzlich zusammen. Folge davon sind Jugendkriminalität, Bettelei und Prostitution. Experten macht die Situation der Kinder und Jugendlichen besondere Sorgen. Irak ist ein sehr junges Land: Die Hälfte der Bevölkerung ist unter 20. 30 bis 40 Prozent der Kinder aber gehen heutzutage nicht mehr zur Schule, sondern arbeiten in irgendeiner Form auf der Straße, um das Familieneinkommen aufzubessern. Ein Viertel aller Irakis hat bewusst nur die Kriegs- und Nachkriegszeiten mit dem einhergehenden Zerfall von Ethik, Moral und Werten erlebt.

Medizinisch waren die Iraker im regionalen Vergleich in der Vergangenheit sehr gut versorgt. Das hat sich geändert: Viele der besten Ärzte haben auf Grund des dauernden Kriegszustandes das Land verlassen. Die Lebenserwartung ist in einem Jahrzehnt um zwei bis drei Jahre gesunken; es gibt 157 Prozent mehr Patienten als 1990. Kinderlähmung, Malaria, Augenkrankheiten, Kwashiokor und Herzkrankheiten machen den Ärzten die größten Probleme. Aber auch Anzeichen von Stress- und Geisteskrankheiten mehren sich. Die Anzahl der Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen hat sich in zehn Jahren verdoppelt. Um effektiv helfen zu können, fehlen den Ärzten medizinisches Gerät und Medikamente. Der größte Engpass sind - anders als man vielleicht angesichts der vielen Verletzten nach Terroranschlägen vermuten könnte - Medikamente gegen chronische Erkrankungen.

Die schlechte Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln hat zur Folge, dass Irak einen traurigen Rekord hält: In keinem anderen Land der Welt nahm die Kindersterblichkeit von 1990 bis 2000 so dramatisch zu. Während sie sich im selben Zeitraum in den Nachbarländern Jordanien, Syrien, Iran und Türkei um neun bis 42 Prozent verringerte, stieg sie in Irak um 160 Prozent. Eine Studie des UN-Kinderhilfswerks Unicef von 1999 kommt zu dem bedrückenden Ergebnis, dass jedes siebte Kind in Irak seinen fünften Geburtstag nicht erlebt; mindestens 400 000 Kinder seien auf Grund der mittelbaren Kriegsfolgen gestorben.

960.000 Kinder unter fünf Jahren gelten als chronisch unterernährt, ein Fünftel aller Kinder haben Untergewicht und neun Prozent leiden gar unter akuter Mangelernährung. Hauptursache für diese bedrückenden Zahlen ist die Wasserversorgung. Schlechtes Trinkwasser und mangelhafte Abwasserentsorgung führen zu lebensgefährlichem Durchfall. Im September 1989 starben auf Grund dessen 123 Kinder, im September 2001 waren es 2932.

95 Prozent der städtischen und 75 Prozent der ländlichen irakischen Familien hatten 1990 einen Wasserhahn im Haus. Der war Garant für gutes Trinkwasser. Dieses irakische Trink- und Abwassersystem aber war auf ununterbrochene Stromzufuhr für die Pumpsysteme angewiesen. Fatalerweise legten die USA ihren Angriff 1991 so an, dass die gesamte Energieversorgung des Landes lahm gelegt wurde. Erschwerend kam hinzu, dass die internationalen Sanktionen Reparaturen verzögerten. Zudem wurden bei Ende des Krieges 2003 die Ersatzteillager für die Wartung der Trinkwasseranlagen geplündert. Wo wiederum Ersatzteile vorhanden sind, verhindert all zu oft die prekäre Sicherheitslage, dass die Anlagen repariert werden können.

Erklärungen für die katastrophalen hygienischen Zustände im Land gibt es also viele, die Iraker stellen nüchtern fest: Noch immer funktionieren Energie- und Wasserversorgung, Telefon und Müllabfuhr nicht so gut wie vor dem Krieg.

Gewöhnen musste sich der einfache Iraker auch daran, dass er tagtäglich Angst um sein Leben haben muss. Dabei geht es nicht in erster Linie um die Gefahr, bei Attentaten auf Polizei- und Besatzungstruppen in die Schusslinie zu geraten. Oder Opfer von Terroranschlägen zu werden. Es geht darum, dass mittlerweile auch bei helllichtem Tage Raubüberfälle und Geiselnahmen zwecks Lösegelderpressung an der Tagesordnung sind.

Erheblich erschwert wird der Aufbau des Landes dadurch, dass Mitglieder der Baath-Partei aus ihren alten Führungspositionen in der Verwaltung entfernt wurden. 2000 Akademiker, die (zwangsläufig) Parteimitglieder waren, um ihrer wissenschaftlichen Karriere nachgehen zu können, haben seit Kriegsende das Land verlassen. (… ) Sie vergrößern das Kontingent der zwei Millionen, meist aus den gebildeten Mittelschichten stammenden Iraker, die bereits zwischen den beiden Kriegen von 1991 und 2003 das Land verlassen hatten.

“Öl für Nahrungsmittel”

Was können die Hilfsorganisationen angesichts dieser prekären Situation tun? Das wichtigste Hilfsprogramm, “Öl für Nahrung”, haben bereits 1997 die Vereinten Nationen angestoßen. “Öl für Nahrung” wird seit November 2003 von den provisorischen irakischen Behörden fortgeführt. Dank dieses Programms können Nahrungsrationen, die den Kalorienbedarf eines Büroarbeiters voll decken, subventioniert verkauft werden. Schätzungsweise 14 bis 16 Millionen Iraker, also zwei Drittel der Bevölkerung, leben ausschließlich von diesen subventionierten Lebensmitteln. Der Durchschnitts-Iraker zahlt pro Ration 5000 Dinar (rund zwei Euro), für eine Familie mit drei Kindern sind das 25 000 Dinar. Auf dem freien Markt müsste er das Vierfache zahlen. Bis vor kurzem verdiente dieser Normalverbraucher als Fahrer im Staatsdienst gerade den Preis dieser Ration, als Arzt das 10- bis 40-fache. Fast die Hälfte aller Familien aber verdient nicht genug, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen.

Die subventionierten Nahrungsrationen sind nach wie vor unverzichtbar. Allerdings enthalten sie kein Gemüse und kein Fleisch, so dass es der Diät an Vitaminen und Spurenelementen fehlt. Zusatznahrung aber ist für die meisten Familien unerschwinglich. Ein Kilo Fleisch kostet 4500 Dinar, ein Huhn immerhin noch 1750 Dinar, ein Kilo Orangen 600 Dinar. Angesichts der chronischen Unterernährung bei 960.000 Kindern unter fünf Jahren sahen die Helfer von Caritas Irak ihre Hauptaufgabe nach Ende des Krieges deshalb darin, die ärmsten Familien mit Kindern unter fünf Jahren mit Zusatznahrung zu versorgen. Das Kriterium für die Auswahl ist allein der Ernährungszustand der Kinder. 10.000 Familien mit 20.000 Kindern werden derzeit über das “Well Baby Program” versorgt. Von einem anderen Programm profitieren seit Ende des Krieges 7.000 Alte, Waise und Behinderte. (…)

Zweiter Schwerpunkt der aktuellen Hilfsmaßnahmen ist der Wiederaufbau der städtischen Wasserversorgung. Zwölf Jahre nach dem ersten Golf-Krieg, der speziell darauf ausgerichtet war, die Infrastruktur in Irak zu zerstören, sind die Wasserversorgungs-Systeme erst zu zwei Dritteln wieder instand gesetzt. Früher sauberes Wasser ist heute gefährlich. Fälle von Typhus sind um das Zehntausendfache gestiegen. Aktuell arbeitet Caritas daran, in Basra und Samawa Wasseraufbereitungsgeräte und Verteilungssysteme zu installieren. Zuvor wurden in Najaf, Qara Qosh, Mossul und Amara bereits für 290.000 Menschen Trinkwassersysteme repariert oder neu aufgebaut.

Bereits in Vorbereitung auf den Krieg vom März 2003 waren für jedes der zwölf von Caritas Irak betriebenen Sozialzentren und acht weiteren finanziell und logistisch unterstützten Zentren des irakischen Halbmondes Wassercontainer, Wasserreinigungs- und Desinfektionsmittel, ärztliche Notfallausrüstungen sowie Notfallmedikamente angeschafft worden. Über 700.000 Euro standen dafür bereit. Dank der unerwartet kurzen Dauer des Krieges, der zudem diesmal nicht die Zerstörung der Infrastruktur zum Ziel hatte, mussten glücklicherweise nicht alle Hilfsgüter eingesetzt werden. Um so hilfreicher sind diese Medikamente und Ausrüstungsgegenstände aktuell bei den immer wiederkehrenden Attentaten (…).

Lebensgefahr für die Helfer

Die Arbeitsbedingungen für die Helfer in Irak waren schon immer extrem schwierig. Nach den grausamen Attentaten auf das UN-Hauptquartier am 19. August 2003 und auf das Büro des Internationalen Komitee des Roten Kreuzes am 27. Oktober 2003 aber ist das Helfen für viele der einst in relativ großer Zahl vertretenen internationalen Hilfsorganisationen zu einem unkalkulierbaren Risiko geworden. Erstmals wurden die Helfer selbst zum Opfer von Gewalt; auch irakische Caritas-Mitarbeiter haben bei den beiden Anschlägen Familienangehörige und Verwandte verloren. Viele Hilfsorganisationen sahen sich gezwungen, Irak aus Sicherheitsgründen zu verlassen. Ein schwerer Schlag für alle humanitären Aktivitäten im Land. Caritas Irak profitiert in dieser Situation davon, dass sie eine rein irakische Organisation ist. Als Iraker teilen die 160 Mitarbeiter das Schicksal ihrer Landsleute.

Karl A. Ammann ist Berater von Caritas international. Als Koordinator der internationalen Caritas-Hilfe in Irak hat der 61-Jährige am Wiederaufbau nach dem ersten und dem zweiten Golfkrieg mitgewirkt. Er lebte und arbeitete 15 Jahre in Libanon. In den vergangenen Monaten hat Caritas Irak neben dem Well Baby Programm zur Unterstützung unterernährter Kleinkinder und ihrer Familien vorwiegend medizinische Notfallversorgung und Hilfe für Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten geleistet. Insgesamt ist Caritas Irak an zwölf Standorten im Land aktiv (www.caritas-international.de). Der hier dokumentierte Text wird in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift “neue caritas - Politik - Praxis - Forschung” erscheinen.

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 15.03.2004

Siehe ebenfalls:
>> “Das ist unser Leben ?” - Ein Bericht über eine Reise in den Irak . Von Eva-Maria Hobiger
>> Kinder müssen sterben, weil sie die Kinder des Feindes sind . Von Eva-Maria Hobiger

Veröffentlicht am

28. März 2004

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