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Der unerklärte NATO-Krieg. Anmerkungen zur Interessenpolitik im Kosovo-Krieg und zu deren Folgen

Von Michael Schmid (Erstveröffentlichung: Rundbrief des Lebenshaus Schwäbische Alb vom Juni 1999)

Zehn Wochen - unerklärter - NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Die mit ständig gesteigerter Intensität fortgesetzte Bombardierung durch die NATO zeigt unzweideutig die völlige Untauglichkeit militärischer Gewaltanwendung zur Lösung politischer Konflikte. Der humanitäre Notstand, mit dem der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien begründet wird, hat sich im Gefolge dieser Eingriffe zu einer dramatischen Tragödie gesteigert. Die Bombardierungen haben nicht einem einzigen Menschen im Kosovo geholfen. Die große Massenvertreibung mittels Mordkommandos, Niederbrennen von Dörfern und Zwangsdeportationen hat erst nach den Bombenangriffen der NATO eingesetzt. Kosovo ist verwüstet.

Und die Fortsetzung der blutigen Luft-Kampagne durch die NATO verwandelt das von Milosevic bereits abgewirtschaftete Jugoslawien zu einem Armenhaus. Neben vielen getöteten und verletzten Menschen werden die Industrie und alle lebenswichtigen Versorgungslinien der Republik Jugoslawien fast vollständig zerstört. Durch die NATO-Bombardierung wird zudem eine schlimme Umweltkatastrophe hervorgerufen, die selbst die Nachbarstaaten mit vergiftet. 1 Es wird ein Krieg gegen alle Menschen in Serbien, sogar die noch ungeborenen geführt. Wenn Millionen Menschen ohne Wasser und Strom, Patienten ohne Brot, junge Menschen ohne Zukunft bleiben und Kindern psychische Schäden zugefügt werden - dann gibt es nur einen Begriff dafür: Terror gegen die Zivilbevölkerung.

Das Zusatzabkommen zum Vertrag von Rambouillet zeigt, daß von der Republik Jugoslawien insgesamt eine Einschränkung ihrer staatlichen Souveränität unter Kontrolle der NATO verlangt worden wäre. Daß eine jugoslawische Regierung einem solchen Abkommen nicht zustimmt, das faktisch einem Diktat zur Aufgabe der eigenen Souveränität gleichkäme, konnte seitens der NATO-Staaten erwartet werden. Und da die NATO nach wie vor den vollständigen Abzug der jugoslawischen Streitkräfte aus dem Kosovo verlangt, dies aber aus jugoslawischer Sicht gleichzusetzen ist mit dem Verlust des Kosovo als jugoslawisches Staatsgebiet, kann es kaum verwundern, daß das Milosevic-Regime dies bisher abgelehnt hat.

Der Berliner Friedensforscher Theodor Ebert meint zu den Folgen dieser NATO-Forderung nach vollständigem Abzug: “Diese extreme Forderung der NATO wird allenfalls auf dem Wege der weitgehenden Zerstörung Jugoslawiens aus der Luft und bei entsprechend hohen Opfern unter der Zivilbevölkerung durchgesetzt werden können. Bleibt die NATO bei dieser Strategie, die jugoslawische Regierung in die Kapitulation zu bomben - und dies könnte noch Monate dauern -, dann werden aus den angeblich chirurgischen Schlägen gegen militärische Ziele mit der Zeit ausgewachsene Kriegsverbrechen. Der Zeitpunkt wird kommen, an dem die Zahl der von der NATO getöteten Zivilisten und Soldaten größer sein wird als die Zahl der von den serbischen Streitkräften getöteten Kosovo-Albaner.” 2

Milosevic mag verantwortlich für die Tragödie der Kosovo-Albaner sein. Doch für die systematische Zerstörung eines ganzen Landes, für das Quälen der Zivilisten aller Volksgruppen in Serbien ist die NATO ebenso verantwortlich. Deshalb ist zuzustimmen, wenn Harald Müller, Leiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, zur NATO-Aktion ohne UN-Mandat feststellt: “… diese Angriffe sind und bleiben ein Akt der Lynchjustiz.” 3

Angesichts dieser Ergebnisse einer angeblich klinisch fast sauberen Kriegführung, die ausschließlich der Menschlichkeit verpflichtet sei, kann kaum jemand länger daran glauben, daß es noch darum geht, was Außenminister Fischer als humanitäre Begründung für die Kriegführung ausgegeben hat: “Wir leisten Widerstand, verteidigen Menschenrechte, Freiheit und Demokratie.”

Nein, die NATO treibt hier keine ganz selbstlose Intervention zugunsten der unterdrückten und gepeinigten Kosovarinnen und Kosovaren. Wem es ernsthaft um die Verteidigung von Humanität und Menschenrechten gegangen ist, der muß heute wohl einsehen, daß die eingesetzten Mittel für dieses Ziel völlig untauglich waren. Und die ausgelöste Katastrophe kann leicht weiter zu einem Landkrieg eskalieren und könnte immer noch in einem 3. Weltkrieg enden. 4 Doch zugleich müßte auch die Erkenntnis folgen, daß sich täuschen ließ, wer meinte, die militärische Intervention habe in erster Linie bzw. überhaupt dem Schutz von Menschen gedient.

Denn es lassen sich ganz andere Interessen und Ziele ausmachen, welche die eigentliche Ursache für den Krieg gegen Jugoslawien sind. Hier ist nicht der Raum, dies gründlich zu analysieren und auszuführen. Aber zumindest einige Skizzierungen will ich machen. 5

Ein Kriegsgrund: Erprobung der neuen NATO-Strategie

Es spricht sehr viel dafür, daß die USA ihre Verbündeten in den Krieg hineingezwungen haben. Ein Indiz dafür ist, daß z.B. Schröder und Fischer gerade einmal 15 Minuten Zeit für ihre Entscheidung pro oder kontra Kriegsbeteiligung eingeräumt bekamen. Ein wichtigeres ist der National Security Strategy Report vom 30. Oktober 1998, die nationale US-Sicherheitsstrategie. Dort wird folgendes Ziel vorgegeben: “Kern der amerikanischen Strategie ist es, unsere Sicherheit zu erhöhen, unseren Wohlstand zu mehren und Demokratie und Frieden überall in der Welt zu fördern. Wesentlich zur Erreichung dieser Ziele ist amerikanisches Engagement und die Vorherrschaft in der Weltpolitik.” 6 Um diese Vorherrschaft auszuüben, setzen die USA in der nördlichen Hemisphäre auf die NATO.

Michael Klare, Professor am Hampshire College in Massachusetts und Kenner der amerikanischen Militärpolitik, sagte im Fernsehmagazin MONITOR: “Präsident Clinton war entschlossen, den Kosovo-Krieg unter amerikanischer und unter NATO-Führung durchzuführen. Vor dem 50. Jahrestag der NATO wollte er Macht demonstrieren und einen militärischen Erfolg vorführen. Er wollte zeigen, daß die NATO nun in der internationalen Sicherheitspolitik die Führungsrolle hat - und nicht die Vereinten Nationen. … Das Kosovo ist Opfer all dieser amerikanischen Anstrengungen, das heißt: Das Thema Kosovo kam in dem Moment auf die Tagesordnung, als Mister Clinton eine große Demonstration in Sachen neuer NATO-Strategie suchte. Das hätte sonstwo stattfinden können.” 7

Diese Strategie wurde von den USA gemeinsam mit anderen westlichen Industriestaaten seit dem Golfkrieg Schritt für Schritt vorangetrieben. Zu ihr gehört es, die UN - wie beispielsweise im Bosnienkrieg - als schwach und untauglich erscheinen zu lassen, Rußland durch die NATO-Osterweiterung auszugrenzen und dieses Land zu demütigen, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu schwächen und das Völkerrecht, durch eigenmächtige Militäraktionen wie im Irak-Konflikt Ende 1998 und im gegenwärtigen Kosovo-Krieg zu mißachten.

Ein Vorrang für zivile Konfliktbearbeitung hätte diesen Interessen entgegengestanden. Deshalb wurden nicht die notwendigen Mittel bereitgestellt. Und die OSZE beispielsweise, die durfte nicht, wie sie könnte, wenn man sie denn ließe. So sagt z.B. Willy Wimmer (CDU), Vizepräsident der parlamentarischen Versammlung der OSZE-Staaten, am 12. Januar 1999 in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk, das vergangene Jahr sei eigentlich davon gekennzeichnet gewesen, daß die USA alle anderen auch internationalen Organisationen an die Wand gespielt hätten. “Wir haben in den zurückliegenden Monaten … gesehen, daß die Europäische Union mit ihrer Politik der autonomen Maßnahmen gegenüber der Bundesrepublik Jugoslawien erfolgreicher war, als befreundete Staaten das eigentlich haben wollten. Wir wären im März des vergangenen Jahres wesentlich weiter gekommen, auch in Zusammenhang mit einer Lösung, die den Albanern im Kosovo entgegenkommt, wenn man die Europäische Union einfach nur gelassen hätte. Aber hier durften bestimmte Ergebnisse offensichtlich nicht erzielt werden, und deswegen ist das auch nichts geworden. Das hängt nicht mit Herrn Milosevic zusammen. Das ist natürlich der böse Bube, auf den man mit Fingern zeigen kann. Das ersetzt nur keine Politik, und ich glaube, daß es wenig Sinn macht …, daß man hier ein Feindbild aufbaut, das jedenfalls in der Wirklichkeit so nicht gerechtfertigt ist, jedenfalls wenn man die Situation auf dem Balkan in Rechnung stellt.” 8

Weitere Kriegsgründe: Aufteilung Restjugoslawiens und Herauslösung des Kosovo

Die Kriegsgründe lassen sich allerdings insgesamt nicht auf eine beliebige Erprobung der neuen NATO-Strategie verkürzen, wenn nicht wichtige geopolitische Zielsetzungen ausgeblendet werden sollen, die mit jedem Einsatz militärischer Gewalt verbunden sind. So kann die bereits mehr als halbierte Bundesrepublik Jugoslawien deshalb ins Visier geraten sein, weil sie der letzte Verbündete Rußlands in Mittelost- und Südosteuropa ist. Deshalb ist sie aus Sicht der USA ein Störfaktor für die NATO auf dem Balkan und deshalb zur weiteren Aufspaltung freigegeben. Dabei ist es nur der erste Schritt zur weiteren Aufteilung Restjugoslawiens, das Selbstbestimmungsrecht der Kosovarinnen und Kosovaren mit militärischen Mitteln durchzusetzen, im Wissen, daß dies früher oder später zu einem Ausscheiden aus dem jugoslawischen Staatsverband führt. Auch für die Teilrepublik Montenegro ist eine Abtrennung geplant. Beim “United States European Command” (EUCOM) in Stuttgart-Vaihingen ist der künftige Einflußbereich der USA auf einer Karte umrissen worden. Dieser reicht vom südlichen Afrika bis nach Weißrußland und zur Ukraine. Dabei ist die jugoslawische Teilrepublik Montenegro bereits als eigenständiger Staat eingezeichnet, die weitere Aufteilung Jugoslawiens also bereits beschlossene Sache. 9

Doch außer solchen kontinentalen geostrategischen Interessen spielen auch geopolitische Probleme, die in der Balkan-Region selber wurzeln, eine Rolle für den NATO-Krieg. Schmidt-Eenboom 10 zeigt, wie bundesdeutsche Interessen, nach der Öffnung Albaniens den Einfluß der Türkei zurückzudrängen, unter anderem durch militärische und nachrichtendienstliche Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland verfolgt werden. Bundesnachrichtendienst (BND) und Militärischer Abschirmdienst (MAD) mischen kräftig mit. Auch bei der Entwicklung der kosovarischen UCK, die vom Bundesamt für Verfassungsschutz als terroristische Vereinigung eingeschätzt und entsprechend überwacht, von bundesdeutschen Nachrichtendiensten aber gut unterstützt wurde. Dabei war klar, daß die UCK auf militärischen Kampf statt auf zivile Mittel setzt. Und es konnte abgesehen werden, daß sich durch das Auftreten der UCK mit dem Anspruch auf einen eigenständigen Staat Kosovo bzw. auf ein größeres Albanien die Lage für die jugoslawische Regierung in der südserbischen Provinz von Grund auf verändert. Aus Sicht der jugoslawischen Regierung wurde allein durch das Auftreten von militärischen Guerillakräften ihr staatliches Gewaltmonopol innerhalb der jugoslawischen Grenzen nachhaltig in Frage gestellt. Etwas, das nach allgemeinem Staatsverständnis keine Regierung zulassen darf. Und indem die UCK einen Anspruch auf nationale Unabhängigkeit des Kosovo bzw. eines größeren Albaniens verkörperte, wurde aus dem ehemals gewaltlosen Aufstand unter Rugova nun ein Krieg zur Herauslösung Kosovos, ein Sezessionskrieg. 11

Indem die NATO in diesem Konflikt um die Herauslösung des Kosovo aus Jugoslawien mit ihrem militärischen Eingreifen drohte, hat sie sich faktisch auf die Seite der UCK gestellt. Und die UCK konnte mit einigem Grund annehmen, daß sie die NATO für sich instrumentalisieren kann, wenn es ihr gelingt, die jugoslawische bzw. serbische Regierung durch ihren Kampf zu solchen Maßnahmen zu provozieren, die mit dem Bild “der Serben” im Westen übereinstimmen. Es entsprach der militärischen Taktik der Terror-Gruppen, mit ihren Kernverbänden serbische Polizeistationen und - konvois aus dem Hinterhalt anzugreifen und sich anschließend in die Berge zurückzuziehen, so daß die schlecht bewaffneten Dorfmilizen anschließend den brutalen Guerilla-Bekämpfungsschlägen der serbischen Sicherheitskräfte hilflos ausgeliefert gewesen sind. Bei ihren militärischen “Nadelstichen” gegen Regierungstruppen und Sonderposten hat die UCK seit dem Frühsommer 1998 zunehmend auch auf Angriffe gegen die serbische Minderheit im Kosovo gesetzt, um sie dort zu vertreiben. Insgesamt war die rasch anwachsende UCK am Frieden wenig interessiert und hat den Bürgerkrieg eskaliert und im September 1998 40 Prozent des Kosovo kontrolliert. Deshalb war es aus Sicht der jugoslawischen Regierung eine notwendige Strategie gegen die Rebellenarmee, daß sie Anfang 1999 wieder mit starken Militär- und Polizeikräften in den Kosovo einrückte und die von der UCK kontrollierten Gebiete wieder zurückeroberte. Theodor Ebert stellt als Erkenntnis aus seinen Studien von Guerilla und Konterguerilla fest: “Der Antiguerillakampf ist ein grausames Verfahren. Wer einen Guerillakrieg beginnt, muß nach den vorliegenden Erfahrungen damit rechnen, daß etwa zehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung im Laufe der Kriegshandlungen getötet werden.” 12

Der Weilheimer Friedensforscher Schmidt-Eenboom beschreibt in seiner Analyse über die Rolle der Geheimdienste, daß der BND durch den amerikanischen CIA entmachtet worden sei, nachdem die UCK an Bedeutung gewonnen habe. Insgesamt haben offensichtlich Kräfte zusammengewirkt, welche den Einfluß der UCK aufrechterhalten bzw. noch stärken wollen.

Der “Fehltreffer” amerikanischer Kampfflugzeuge auf die chinesische Botschaft in Tirana ist zunächst in völlig unglaubwürdiger Weise auf veraltete Stadtpläne der CIA geschoben worden. Anschließend hat die Variante die Runde gemacht, ein UCK-Kämpfer habe vorsätzlich eine Lasermarkierung für die NATO-Bomber auf der Vertretung Pekings angebracht. In jedem Fall war aber der Luftangriff auf die chinesische Botschaft ein Anschlag auf die Entscheidung der G-8, die dem Weltsicherheitsrat bei der Einsetzung einer Übergangsverwaltung für die Provinz Kosovo eine bestimmende Rolle zuschreiben und gleichzeitig die Demilitarisierung der UCK festlegen will. 13

Keine deutsche Kriegsbeteiligung unter Kohl?

Kann man sich angesichts dieser hier nur angedeuteten Hintergründe der Meinung Erich Schmidt-Eenbooms verschließen, daß die alte Kohl-Regierung einer Selbstmandatierung der NATO wohl nicht zugestimmt hätte? Die frischgebackene und in so vielen Politikfeldern ungefestigte rot-grüne Bundesregierung habe sich seit Oktober 1998 und vor allem in Rambouillet ohne nachhaltige Widerrede auf US-Kurs zwingen lassen. “Joseph Fischer, der sich auf dem glatten internationalen Parkett so sicher zu bewegen schien, ist ausgerutscht und hart gefallen. Eine für manche und manchen aus der Friedensbewegung bittere Erkenntnis lautet: Ein für eine letzte halbe Amtszeit als Kanzler wiedergewählter Helmut Kohl hätte sich nicht von Bill Clinton in 15 Minuten zur Entscheidung über Krieg und Frieden drängen und als Scheinselbständiger behandeln lassen. Er hätte alles getan, um Europa diesen Krieg zu ersparen.” 14

Für kriegsbereite und kriegführende Parteien gilt, daß sie sich nicht mehr in die Karten schauen lassen. Das gilt auch für Joschka Fischer, der offensichtlich bei seinem Besuch in Belgrad von Milosevic ein auf den 8. März 1999 datiertes Papier persönlich erhalten hat, in dem es um die Unterstützung der UCK durch die Bundesrepublik Deutschland ging und damit ein Signal, daß Milosevic an die zu diesem Zeitpunkt angebotene Entwaffnung der UCK ernsthaft nicht glauben konnte, weil Nachrichtendienste von NATO-Staaten die Rebellenarmee zugleich mit leichten Waffen versahen. 15

Aus alledem schließt Schmidt-Eenboom: “Ein grünes Parteivolk in diese Hintergründe und die Komplexität der Machtspiele im Kosovokrieg einzuweihen, … wäre für den Außenminister einem politischen Selbstmord gleichgekommen. So konzentrierte sich der profilierteste Realpolitiker darauf, die grüne Seele mit der Magermilch der frommen Denkungsart abzuspeisen und jenes permanente Mitleid mit den geschundenen Kosovarinnen und Kosovaren vorzuweisen, das er für die stumme Vielfalt humanitärer Katastrophen in anderen Weltregionen noch nicht entdeckt hat. Rächen könnte sich die Fixierung auf den kategorischen Imperativ eines um jeden Preis Menschlichkeitherbeibombens, wenn die geheimen Manöver der Beteiligten klarere Konturen bekommen und unterdrückte Fakten sich die Bahn in die Öffentlichkeit brechen. Die Anwürfe aus den Reihen von Bündnis 90/Die Grünen gegen Fischer würden wohl - je nach eigener Realititätsnähe - vom Vorwurf der vorsätzlichen Unterschlagung der ganzen Wahrheit bis zum Verdacht des Realitätsverlustes reichen.” 16

Gewaltfreiheit braucht langfristige Orientierung sowie Einmischung in aktuelle Konflikte

“Der Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit.” Dieser Satz aus der Grundsatzerklärung der pazifistischen Internationale WRI (War Resisters` International) bewahrheitet sich auch jetzt wieder. Gewiß ist nichts verkehrter als eine vermeintliche Toleranz gegenüber den Machenschaften eines jeglichen Gewalttäters. Dies gilt immer und überall. Wer angesichts von Gewalt schweigt oder die Augen verschließt, stimmt zu und macht sich mitschuldig. Mit Toleranz hat dies nichts zu tun. Aber was getan werden kann, muß gut überlegt sein. Dies erfordert Analysieren statt einem Handeln aus dem Bauch.

Von Deutschland sollte nie wieder Krieg ausgehen. Seit dem 24. März beteiligen sich nun deutsche Kampfflugzeuge an den NATO-Luftangriffen. Viele von uns, auch in der Friedensbewegung, sind innerlich zerrissen zwischen dem Wunsch, Menschen vor Terror zu schützen und dem Abscheu vor dem Mittel des Krieges. Doch statt mit verkehrten Mitteln zu antworten, kann es unter Umständen hilfreicher sein, lieber nichts zu tun. Ist eine solche Haltung angesichts der Opfer nicht zynisch? Es kann so scheinen. Doch zeugt es nicht von Machbarkeitswahn, wenn wir meinen, jedes Leid abwenden zu können? Und dies möglichst schnell. Die verheerenden Auswirkungen des NATO-Krieges bestätigen dies leider auf tragische Weise.

Im Kosovo sind seit Jahren schlimme Menschenrechtsverletzungen passiert. Vielleicht müssen wir so ehrlich sein und uns eingestehen, daß wir uns nicht intensiv genug um Alternativen zur Gewalt gekümmert haben, als dies noch möglich war. Und den jahrelangen gewaltlosen Kampf der Kosovarinnen und Kosovaren haben wir kaum richtig zur Kenntnis genommen. Allerdings haben viele Organisationen aus der Friedensbewegung und Friedensforschung schon seit Jahren darauf hingewiesen, daß sich im Kosovo der nächste Krieg zusammenbraut. Sie haben seit Beginn der 90er Jahre Vorschläge mit weiter Perspektive zur Stabilisierung des Balkans gemacht, die jedoch ignoriert wurden. Als Lebenshaus haben wir uns daran beteiligt, Informationen weiterzuverbreiten. Und wir haben uns zumindest für die Anerkennung von kosovarischen Flüchtlingen als Asylberechtigte eingesetzt und uns gegen ihre Abschiebung gewandt.

“Der Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit”, heißt es in der Grundsatzerklärung der WRI. Und diese Erklärung geht weiter: “Ich bin daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und an der Beseitigung aller Kriegsursachen mitzuarbeiten.”

Die Arbeit an der Beseitigung von Kriegsursachen braucht eine langfristige Orientierung. Erst dann zu reagieren, wenn bereits Krieg ist - und zahlreiche Kriege gibt es ständig irgendwo auf diesem Globus - greift zu kurz. Als wir einst während des Golfkrieges in Gammertingen sieben Wochen lang Tag für Tag Mahnwache standen, hofften wir, diese Erkenntnis mit vielen anderen Menschen zu teilen. Das war für uns ein wesentlicher Ansatzpunkt für die Initiative zum Aufbau des Lebenshauses. Gegen schlimme Übel zu protestieren und zu widerstehen und gleichzeitig etwas Konkretes tun für Gewaltopfer im weitesten Sinn und etwas Konstruktives aufbauen, von dem wir uns wünschen, daß es in unserer Gesellschaft Raum greift.

Die Beseitigung der Kriegsursachen, die Entwicklung von Frieden braucht langfristige Prozesse zur Veränderung von Einstellungen und Verhaltensweisen. Und sie braucht konstruktive, gewaltfreie Alternativen. Gewaltfreiheit braucht lange Zeit zu ihrer Entfaltung. Sie kann nicht auf kurzfristige, schnelle “Lösungen” ausgerichtet sein. Sie braucht im Gegensatz zur Gewalt den langen Atem der Geduld und Gelassenheit.

Doch diese langfristige Orientierung entläßt uns nicht aus der Verantwortung, uns im Rahmen unserer Möglichkeiten auch in aktuelle Konflikte einzumischen. Deshalb sollten wir alles unternehmen, was uns möglich ist, damit der Bombenkrieg der NATO beendet wird, bevor weiteres Unheil damit angerichtet wird. 17

Trotz weitreichender Zweifel und Kritik am NATO-Krieg kommt die Friedensbewegung nach Jahren der Stagnation erst langsam auf die Beine. Offensichtlich sind nicht alle Menschen bereit, die den Krieg ablehnen, ihre Kritik öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Doch auch früher hat es eine Weile gedauert, bis bundesweite Großdemonstrationen möglich wurden. Da “die Friedensbewegung” kein zentral geführter Konzern ist, hängt die Stärke, die sie entfalten kann, vom persönlichen Engagement vieler einzelner ab. Gemeinsam mit dem Netz der verbliebenen Friedensgruppen hoffen wir, daß die in Friedensbewegung und -forschung erarbeiteten Positionen und Alternativen zum Krieg zunehmend Widerhall in der Gesellschaft finden. Eine Abkehr vom Krieg wird es nur geben, wenn in den NATO-Staaten der Krieg innenpolitisch nicht länger durchzusetzen ist. Deshalb hoffen wir auf eine breite Mobilisierung, je länger der Krieg weitergeführt wird. Der Krieg in Vietnam wurde nicht zuletzt auch durch die Friedensbewegungen in aller Welt beendet.

Wir sehen uns eingebunden in ein großes Netzwerk von Gruppen und Organisationen der Friedensbewegung. Das freut uns und ist ermutigend. Durch die unterschiedlichen Aktivitäten erreichen uns fast täglich wichtige Stellungnahmen und Artikel zum Krieg. Dabei sind wir allerdings überfordert, dies alles gründlich zu lesen. Andererseits sind sehr viele Informationen dabei, die es wert wären, von vielen Menschen zur Kenntnis genommen zu werden. Deshalb bieten wir auf beiliegenden Listen verschiedene Materialien an, die über das Lebenshaus bezogen werden können. Bei großem Interesse kann auf Nachfrage auch weiteres aktuelles Material zugestellt werden.

Wir haben uns in den vergangenen Wochen mit der Forderung der Kriegsbeendigung in zahlreichen Schreiben an verschiedene Politiker und ihre Parteien gewandt. Ebenso wegen einer großzügigen Aufnahme von Flüchtlingen. Wir haben zwischen unseren Rundbriefen eine Erklärung zum Krieg an unseren gesamten Verteiler verschickt - mit überwiegend positiver Resonanz. Wir planen eine inhaltliche Veranstaltung gegen den Krieg. Zudem haben wir uns am Ostermarsch in Calw beteiligt. Für den 29. Mai war eine landesweite Demonstration in Stuttgart geplant, zu der wir Sie/Euch auch alle anschreiben und einladen wollten. Die Umschläge waren schon fertig adressiert, Listen mit Materialien in mehrhundertfacher Auflage versandfertig kopiert, ein Team zum Eintüten zusammengestellt - da kam zu der Stunde, als wir mit dem Versand beginnen wollten, ein Fax vom Friedensnetz in Stuttgart: Aus Gründen der Terminüberschneidung wurde die Demo kurzfristig abgesagt. Eine landesweite Aktionskonferenz wird nun darüber entscheiden, ob und wann eine solche Demonstration stattfinden wird. Als Lebenshaus werden wir dazu beitragen, daß es möglichst zu einer kraftvollen Äußerung der Friedensbewegung gegen den Krieg kommt. Deshalb würden wir es sehr begrüßen, wenn eine solche Antikriegsdemonstration in Stuttgart stattfände und es wäre wichtig, daß viele friedensbewegte Menschen aus Baden-Württemberg und darüber hinaus daran teilnehmen.

(2. Juni 1999)

Anmerkungen:

1 So hat das Umweltbundesamt (UBA) in einer internen Studie mit dem Titel “Erste Einschätzungen der ökologischen Auswirkungen des Krieges in Jugoslawien” darauf hingewiesen, daß die Gefahr von langfristigen Schädigungen der Umwelt und damit auch der Menschen - über die jugoslawischen Landesgrenzen hinaus - desto größer sein werden, je länger der Krieg dauere. Siehe taz vom 20.5.99.

2 Ebert, Theodor: Tragödie und Torheit. Kein Friede im Kosovo ohne Verständnis für die Staatsräson Jugoslawiens. Überlegungen zu einer gradualistischen Strategie, den Krieg zu beenden und den Vertriebenen die Rückkehr zu ermöglichen. In: Junge Kirche - Zeitschrift europäischer Christinnen und Christen. Heft 5/99, S. 270. In diesem lesenswerten Beitrag setzt sich Ebert gründlich damit auseinander, daß in der deutschen Öffentlichkeit versäumt wurde, nach dem serbischen Verständnis des Konfliktes um den Kosovo zu fragen. Einer der auffallendsten Aspekte der Verhandlungen mit der jugoslawischen Regierung sei gewesen, daß der Standpunkt dieser Regierung in unseren Medien nicht in deren eigenen Worten dargestellt worden, sondern nur der Langmut unserer Regierungen und die Sturheit der Jugoslawen betont worden sei. Wenn man sich in einem Konflikt mit einer anderen Regierung befinde, müsse auch nach deren Staatsräson gefragt werden und nach der Staatsräson der anderen am Konflikt Beteiligten. Erst wenn man dies gründlich analysiert habe, solle man sich überlegen, ob es sinnvoll sei, sich in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einzumischen.

3 taz 29.5.99.

4 Lediglich als eine Stimme, die vor dieser Gefahr warnt, soll hier Dr. Mary Wynne Ashford, Ko-Präsidentin der Internationalen Ärzte für die Verhütung eines Atomkriegs (IPPNW) zu Wort kommen. Sie schreibt in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau vom 29.5.99: “Ich schreibe mit einem starken Gefühl der Dringlichkeit und Furcht. Ich war gerade mit einer Delegation in Moskau und anschließend bei einem Seminar im Olof-Palme-Institut in Stockholm. Die Treffen haben mich überzeugt, daß wir durch eine ungewollte Eskalation des Krieges gegen Jugoslawien an den Rand eines Atomkriegs geraten. Die westliche Presse und das Fernsehen berichten nicht über den deutlichen Politikwechsel Rußlands hinsichtlich der Atomwaffen. … Die Welt ist in der gefährlichsten Krisensituation unserer Zeit. Wir müssen alle unsere Netzwerke mobilisieren, bevor wir in den Krieg schlittern.” Mit Krieg ist hier der 3. Weltkrieg gemeint.

5 Wichtige Grundlage für das Folgende war vor allem der lesenswerte Artikel “Kosovo-Krieg und Interesse - einseitige Anmerkungen zur Geopolitik” von Erich Schmidt-Eenboom, Leiters des Forschungsinstituts für Friedenspolitik e.V. Dieser Artikel wird in dem Buch von Klaus Bittermann/Thomas Deichmann (Hg.): Wie Dr. Joseph Fischer lernte, die Bombe zu lieben. Die Grünen, die SPD, die Nato und der Krieg auf dem Balkan” im Verlag Critica Diabolis 86 abgedruckt. Eine 22seitige Kopie des Manuskriptes dieses Artikels ist auch beim Lebenshaus erhältlich.

6 Zit. nach Schmidt-Eenboom, a.a.O., S. 2.

7 Zit. nach dgl., S. 3.

8 Zitiert nach Junge Welt vom 19.1.99. Diese Einschätzung wird auch durch Clemens Ronnefeldt, Friedensreferent des Internationalen Versöhnungsbundes - Deutscher Zweig geteilt. In einem Brief vom 22.5.99 schreibt er: “Die OSZE durfte keinen Erfolg haben - sie war auf einem guten Weg dahin - damit die NATO unter Führung der USA militärisch eingreifen konnten. Was sich vor unseren Augen abspielt, ist die vielleicht größte Tragödie seit dem 2. Weltkrieg - und sie kann immer noch leicht in einem 3. Weltkrieg enden.”

9 Vgl. Schmidt-Eenboom, a.a.O., S. 5.

10 Vgl, dgl., S. 14ff.

11 Vgl. hierzu ausführlich Ebert, a.a.O., S. 266ff.

12 Dgl., S. 268.

13 Vgl. Schmidt-Eenboom, a.a.O., S. 18.

14 Dgl., S. 19.

15 Vgl. dgl., S. 21.

16 Dgl., S. 22.

17 Über politische Strategien der schnellstmöglichen Kriegsbeendigung kann hier nicht weiter diskutiert werden. Vgl. z.B. zu einer gradualistischen Strategie der Kriegsbeendigung Ebert, a.a.O.

Veröffentlicht am

21. September 2001

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