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Klaus Vack: Aus meinen Notizen Krieg in Irak

Von Klaus Vack (der vollständige Text findet sich unter: Vor dem Krieg, im Krieg, nach dem Krieg )

In Michelstadt und Obersensbach
am Samstag, den 29. März 2003

Es ist nun der zehnte Tag der anglo-amerikanischen Aggression in Irak. Inzwischen empfinde und denke ich, daß die Wirklichkeit das Schreckenswort Krieg fast harmlos erscheinen läßt, denn was wir zu sehen und zu hören bekommen, deutet eher auf eine Massenhinrichtung gegen ein diktatorisches Regime hin, und zwar unter Inkaufnahme des Mordes an ungezählten Zivilisten. Wir “Altvorderen” der lokalen Friedensbewegung haben uns heute erneut zum Samstags-Mahnkreis auf dem Michelstädter Rathausplatz versammelt. Mit Osterglocken haben wir das Peace-Zeichen auf das Straßenpflaster gelegt und bilden mit etwa vierzig Menschen einen Kreis.

Einige sprechen darüber, wie es ihnen in den letzten Tagen gegangen ist. Wir spüren: Ohnmachtsgefühle und Ängste verlieren etwas von ihrer Sogkraft, wenn wir so beisammen stehen und miteinander sprechen. Allein gelassen mit sich selbst, sind die täglichen Horrorbilder kaum noch zu ertragen, wenn man seinen Verstand nicht ganz verlieren will.

Ich erwähne meine depressive Gemütslage und höre, daß ich nicht der einzige bin, dem es so geht. In der Nacht hat es wieder schwere Bombardements und Raketenangriffe auf Bagdad gegeben. Die irakische Seite beziffert die zivilen Opfer der vergangenen 24 Stunden auf 68 Tote und 107 Verletzte. Solche Zahlen sagen wenig. Sie können nach oben oder unten manipuliert sein. Für jedes Opfer ist es der eigene Schrecken, Schmerz oder gar Tod, wie viele auch immer betroffen sind.

W.G., er ist seit dem ersten Mahnkreis dabei, der heutige ist der zehnte, sagt, daß er seit einer Woche nur noch die Tagesschau und den meist sich anschließenden “Brennpunkt” der ARD anschaut und sich ansonsten durch Lesen der Zeitung und Hören der Hintergrundsendung “Der Tag” im Hessischen Rundfunk “auf dem Laufenden” hält. Ich lese nun zum dritten Mal bei Friedensaktionen “seit Kriegsbeginn” das Gedicht Bertolt Brechts KINDERKREUZZUG: “In Polen, im Jahre neununddreißig, / war eine blutige Schlacht, / die hatte viel Städte und Dörfer / zu einer Wildnis gemacht…”, wohl wissend, daß dieses Gedicht auf den Krieg bzw. diese Massenhinrichtung gegen Irak nicht anwendbar ist. Aber diese einfache, herzzerreißende Geschichte ermöglicht, sich das Undenkbare gerade noch vorstellen zu können, während das, was jetzt in Irak geschieht, die Vorstellungskraft sprengt.

Wichtig für uns ist, daß wir heute im Mahnkreis wieder zusammen sind, aber auch, was in diesen Tagen alles an Friedensaktivitäten geschehen ist. Zum Beispiel sind am letzten Montag laut Lokalpresse tausend Schülerinnen und Schüler in Michelstadt auf die Straße gegangen; zweihundert von ihnen haben für eine halbe Stunde die Kreuzung der B 45/B 47 blockiert. In Rai-Breitenbach haben sich Schülerinnen und Schüler auf Anregung und mit Unterstützung einiger Lehrer zu einem NO WAR! auf dem Schulhof gruppiert. Überall entstehen spontan neue Friedensaktionen, bilden sich ad hoc Friedensinitiativen. So will sich heute zwischen Münster und Osnabrück eine fünfzig Kilometer lange Menschenkette zusammenfinden. Die Kampagne “resist” hat erneut zu einer Samstags-Großblockade vor der US-Airbase Rhein-Main aufgerufen. In Italien flattern bereits drei Millionen PACE-Fahnen in den Regenbogenfarben aus Fenstern, von Balkonen und Dächern, oder an Denkmälern angebracht, gegen den Krieg.

Während des Mahnkreises sammeln wir weiterhin Unterschriften zur “Michelstädter Friedens-Erklärung”, obwohl wir nicht so recht wissen, was wir jetzt noch damit anfangen können; aber es kommen immer wieder Leute, die etwas gegen diesen verrückten Krieg tun wollen und sei es “nur” durch ihre Unterschrift. Wir vertreiben Buttons mit der Friedenstaube oder dem Peace-Zeichen, verteilen Osterglocken mit einem kurzen erläuternden Text: “Blumen statt Bomben”. Die weiße Friedenstaube auf blauem Grund ist besonders gefragt, und nicht selten gibt es Begegnungen mit Leuten, die man nicht persönlich kennt, die sich die Friedenstaube an die Kleidung gesteckt haben. Im Mahnkreis haben sich die meisten inzwischen auch das Zeichen mit dem gebrochenen Gewehr zugelegt, das ich selbst, seit ich es mir 1962 zum ersten Mal angesteckt habe, fast immer am Revers, an der Mütze oder am Rucksack trage, und zwar im Alltag und nicht nur, wenn es zu einer Friedensdemo geht.

Der Mahnkreis geht um 12 Uhr auseinander. Viele gehen noch zu dem sich anschließenden Friedensgebet in die Stadtkirche. Heute fällt mir dieses Auseinandergehen bis zum nächsten Mal besonders schwer. Die Kraft, die mich in den letzten Monaten getrieben hat, scheint erschöpft. Die Müdigkeit, die mich überkommt, hat vor allem das Gefühl von Resignation zur Ursache.

Hanne schlägt, wie meist in solchen Situationen, einen Spaziergang vor, der auch stets hilft, den Gefühlsstreß abzubauen. Wieder zu Hause in unserem Obersensbach machen wir uns bald auf die Beine und durchschreiten bei lupenrein blauem Himmel, kräftiger Sonne und kühlem Wind den noch unbelaubten, merkwürdig kahlen Wald, der uns die wieder erwachende Natur mit den ersten gelben Huflattichblüten und mit zartweißen Anemonen signalisiert, unterstützt von dem fröhlich wirren Gezwitscher der flirtenden Vögel, wobei anzumerken ist, daß dazu auch das aggressive Gezänke und Warngeschrei der Vogel-Männer gehört, die ihr Revier gegen Nebenbuhler abgrenzen und “verteidigen”. Der gut zweistündige Spaziergang kräftigt und nimmt etwas von der Trübsal weg. Er kann jedoch nicht die Bilder von Tod und Zerstörung verdrängen. Ich denke an den KINDERKREUZZUG und murmele: “Eine Elfjährige schleppte / ein Kind von vier Jahr, / hatte alles für eine Mutter, / nur nicht ein Land, wo Frieden war…”

Trotz alledem, wieder zu Hause, geht es mir etwas besser. Ich lese die Briefe von gestern und heute, Botschaften der Friedenssehnsucht und/oder der Kriegsangst, die zahlreicher geworden sind in den letzten zehn Tagen. Zwei, drei Mal greife ich zum Telefon, zweimal antworte ich mit Mails, vier Antwortbriefe bringe ich noch zum Briefkasten.

Ich denke an W.G. und verzichte für heute ganz aufs Fernsehen. (…) Ich spreche die Ereignisse meines heutigen Tages auf Band und begebe mich zu Bett. Hanne schläft bereits. Ein kleiner Kuß, ein hingehauchtes “schlafe gut”, dann drehe ich mich zur Seite und bin auch bald eingeschlafen.

In Obersensbach am Sonntag, den 30. März 2003 (11. Kriegstag)

Gestern vor dem Einschlafen habe ich mir vorgenommen, heute nicht in mein Arbeitszimmer zu gehen. Allerdings werde ich, wenn meine Stimmung danach ist, heute abend meine Aufzeichnungen mit dem elften Kriegstag fortsetzen, um meine Wahrnehmungen vor dem Krieg und Gedanken darüber hinaus, also für die Zeit nach dem Krieg, weiterhin festzuhalten.

Heute Nacht um zwei Uhr wurde der Uhrzeiger eine Stunde weiter gedreht auf drei Uhr und uns so eine Stunde “geklaut”. Die Zeit im Vergleich: Bagdad Ortszeit ist jetzt drei Stunden nach Sommerzeit “old Germany” und nur noch fünf Stunden vor Washington D.C. Als Eulen-Mensch, also spät zu Bett-Geher und Morgenmuffel, bin ich Nutznießer der Sommerzeit, weil nun das Tageslicht verlängert wird, so daß ich die “geklaute” Stunde billigend in Kauf nehme. Allerdings habe ich heute die mir seit Jahren wichtigen Sendungen von hr 1 verschlafen, um acht Uhr dreißig die evangelische oder katholische Morgenfeier, danach das Kulturjournal u.a. mit dem kabarettistischen Wochenrückblick von Urban Priol und darauf folgend das Funkkolleg, in diesem Winterhalbjahr “Glück und Globalisierung”. Ich bleibe bis 12 Uhr (Sommerzeit) im Bett und lese dabei im “Bush-Imperium” das zehnte Kapitel “Neuer Hund, alte Tricks”.

Nach meinem “Frühstück”, zugleich Hannes Mittagsvesper, machen wir uns erneut auf zum Spaziergang. Wir kehren zu Kaffee und Kuchen (auf letzteren muß ich wg. Diabetes verzichten) in die Waldgaststätte R. ein. Fast eine Stunde unterhalte ich mich mit dem Seniorchef K. über den, wie er es nennt, “Scheiß Ami-Krieg”. Um 18 Uhr kommen wir von fast drei Stunden Laufen ziemlich erschöpft zu Hause an, wobei die Sonne in der, wie es nun scheint, “geschenkten” Stunde noch recht hoch im Westen strahlt, obwohl sie sich um die “gleiche” Zeit gestern bereits anschickte, hinter den Bergen unterzugehen.

Wir entschließen uns nun doch noch etwas zu arbeiten und schreiben zwei Geburtstagsbriefe zu einem dreiundsiebzigsten und einem fünfundsiebzigsten Geburtstag an einen/eine Naturfreunde-Genossen/Genossin. Am 20. März fünf Uhr dreißig Bagdad-Zeit wurde mit den Bombenabwürfen und Raketenbeschießungen begonnen. An diesem Tag ist das Tierkreiszeichen Fische ausgelaufen und ab 21. März steht das Sternbild Widder im Zenit der Sonne. Heute ist es bereits der vierte und fünfte Geburtstagsglückwunsch, den wir an Widder-Geborene geschickt haben, Grüße, bei denen wir nicht darauf verzichten können, das Problem “Geburtstag im Krieg” anzusprechen. “Unsere Geburtstägler” sind allesamt Friedensleute.

Ich nehme den Anfang eines Briefes an E.F. zum 75. Geburtstag in diese Notizen: “…eigentlich ist es ja recht traurig, daß dein 75. Geburtstag in die Zeit eines neuen schrecklichen verbrecherischen Krieges fällt. Bei genauem Zurückerinnern würden wir allerdings feststellen, daß es wohl kein Jahr in deinem und unser aller Leben gibt, in dem nicht irgendwie Krieg gemacht wurde. Manchmal waren wir mitten drin, wie zum Beispiel im Zweiten Weltkrieg, mal waren uns ‘ferne’ Kriege so nahe, daß wir sie mit durchleiden mußten, wie etwa der Vietnamkrieg und heute der dritte Golfkrieg, und oft waren es aus unserer Wahrnehmung ‘kleine’ und ‘weit entfernte’ Kriege, die jedoch für die jeweils Betroffenen von solchem Mord und Totschlag, solchem Zerstören und Ausplündern, der für sie schlimmste Krieg waren. Es ist zum Heulen, und wir weinen in diesen Tagen oftmals, weil es einfach das Herz zerreißt, über das, was man trotz Zensur durch Bilder zu sehen und durch Berichte zu hören und zu lesen bekommt und sich aufgrund der eigenen Lebenserfahrungen in der ganzen Furchtbarkeit vorstellen kann … Trotz alledem, alles Gute und alles Liebe zum Geburtstag. Auch wenn der Krieg in dieser Zeit nicht weggedacht werden kann, so brauchen wir alle, die wir ‘verschont’ sind, Stunden der Geselligkeit und du heute an deinem 75. auch der Rückbesinnung auf ein nun doch schon langes wechselhaftes Leben mit Freude und Trauer, mit Leid und Kummer und immer wieder mit Glück…”

Im Fernsehen zu später Stunde erfahren wir, daß der US-Generalstabschef Richard Meyers den Tod britischer Soldaten durch “friendly fire”, also durch Beschuß aus den Reihen der US-Army, “bedauert”. Ob Kriegsgegner dabei klammheimliche Freude empfinden? Ich empfinde keine Genugtuung. Gewiß, an Kurt Tucholskys “Alle Soldaten sind Mörder” gibt es kein Jota zu deuteln, doch die Mord-Anstifter sitzen in Washington D.C. und in Downing Street 10; dort sind sie gut geschützt vor “friendly” und vor “unfriendly fire”.

Ich lese weiter im “Bush-Imperium”, und zwar das Kapitel elf “Eins nach dem andern” und zwölf (dieses ist das letzte) “Große Erwartungen”, in dem dargelegt wird, wie George W. Bush von den Republikanern als Kandidat gekürt und durch Wahlmanipulationen zum 45. US-Präsidenten inthronisiert wurde.

Ich habe das Buch bereits einmal im Herbst vergangenen Jahres gelesen. Nochmalige Lektüre war mir im Lichte des aufziehenden Schlages gegen Irak wichtig. Vor allen die Instrumentalisierung fundamentalistischer religiöser Gefühle, die in den USA in der Vergangenheit schon öfter zur Rechtfertigung von Staatsverbrechen benutzt wurde, ist beängstigend.

Seit dem 11. September 2001 konnte jeder zur Kenntnis nehmen, daß der Präsident George W. Bush sich als von Gott berufen sieht. Dieses borniert religiöse Sendungsbewußtsein, das von einem “Erweckungserlebnis” unter Einfluß des Evangelisten Billy Graham im Jahr 1986 herrühren soll (damals wurde der Trinker und Playboy George “auf den rechten Weg geführt”), sagte dem heutigen Präsidenten, daß der Allmächtige höchst persönlich eingegriffen habe. “O-Ton” George W. Bush: “Ich habe den Ruf erhalten. Ich glaube, Gott möchte, daß ich mich um die Präsidentschaft bewerbe.” Das will wohl heißen, daß Gott in Verkörperung des US-Präsidenten George W. Bush mitregiert. So macht es auch Sinn, daß Bush seine Kabinettssitzungen mit gemeinsamem Gebet beginnt und für regelmäßige Bibelstunden im Weißen Haus sorgt.
Bei der Amtseinführung dieses 45. US-Präsidenten wurden weder Juden noch Moslems, weder Buddhisten noch Hindus erwähnt, die ja in nicht unerheblicher Zahl in den USA leben. Die vielen Gebete, die das amtliche Washington an jenem Tag himmelwärts schickte, wandten sich allein an den christlichen Gott.
Wenn die US-Krieger in der arabischen Wüste auf den Einsatzbefehl warten, ist die Teilnahme am täglichen Gottesdienst Pflicht für alle. “Unabhängig von unserem Hintergrund”, predigte George W. Bush in einem nationalen Frühstücksgebet, “teilen wir im Gebet etwas Universelles, eine Sehnsucht, zu unserem Schöpfer zu sprechen und ihm zuzuhören, um den Plan für unser Leben zu erfahren”.

Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika verfügt über die wohl größte politisch-militärische Machtfülle im Vergleich mit jeder Regierung dieser Erde, gleich welcher Art. Eine solche Macht im Besitz eines religiös “legitimierten” Machthabers ist gefährlicher als ein bin Laden. Ich weiß, daß wirtschaftspolitische (Öl u.a.) und geopolitische (Amerika ist überall) Interessen, also die ganze Macht des US-amerikanischen Kapitals, für einen solchen “Enthauptungsschlag” (dieses Wort prägte der 42. US-Präsident Reagan, einst gegen die UdSSR gemünzt) die materielle Basis abgeben. Doch ein “Glaube” in der Manier der Kreuzzüge (von Ende des 11. bis Ende des 13. Jahrhunderts) bedeutet in einer mit modernsten Waffen ausgerüsteten Nation eine unvorstellbare Gefährdung, die auch ABC-Massenvernichtungswaffen nicht ausschlösse, “wenn Gott so befiehlt”.

Beunruhigt lege ich das Buch aus der Hand und beschließe den Tag mit einem Satz aus einem Zeitungskommentar, den ich dieser Tage gelesen habe: “Von allen religiösen Geschmacksfragen abgesehen offenbaren das republikanische Establishment und sein Umfeld ein erschreckendes Maß an Irrationalität. Ein US-Präsident, der scharf denkt, wäre für die Welt besser als einer, der fest glaubt.”

In Obersensbach und Fürth (Odenwald)
am Montag, 31. März 2003

Es ist dies der zwölfte Kriegstag. Die Zeitungslektüre am Morgen ist weiterhin widersprüchlich. Doch so viel kann man zusammengefaßt feststellen: das Morden und Zerstören nimmt an Ausmaß und Brutalität zu. Die Explosion auf einem Marktplatz in Bagdad, bei der mehr als 50 Menschen getötet wurden, wird durch den US-Militärsprecher vernebelt. Warum meldet er sich überhaupt zu Wort? Oder freut sich das Kind, das britischen Soldaten winkt, tatsächlich über seine “Befreiung”? Was wird mit den Bildern bezweckt? Sollen sie bei uns Mitleid erregen oder sollen sie uns abstumpfen und an die Kriegsfratze gewöhnen, als wäre das etwas Alltägliches? Wieder geht mir Bertolt Brecht’s KINDERKREUZZUG mit seiner einprägsamen und bildhaften Sprache durch den Kopf: “…Wo einst das südöstliche Polen war, / bei starkem Schneewehn, / hat man die Fünfundfünzig / zuletzt gesehn. —- Wenn ich die Augen schließe, / seh ich sie wandern / von einem zerschossenen Bauerngehöft / zu einem zerschossenen andern. —- Über ihnen, in den Wolken oben / seh ich andere Züge, neue, große! / Mühsam wandernd gegen kalte Winde, / Heimatlose, Richtungslose. —- Suchend nach dem Land mit Frieden, / ohne Donner, ohne Feuer, / nicht wie das aus dem sie kamen. / Und der Zug wird ungeheuer…”

Heute wird in der Presse die “humanitäre Katastrophe” vor allem in Basra in den Vordergrund gerückt und die Diskussion über “Wiederaufbaupläne” angestoßen. Ich denke an meine Erfahrungen mit staatlicher “humanitärer Hilfe”, einschließlich jener, die von Großorganisationen wie UNHCR oder dem “Roten Kreuz” während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien geleistet wurde. In Bosnien kommt noch heute (mehrere Jahre nach offizieller Beendigung dieses Krieges) 90 Prozent der Wiederaufbauhilfe den Nachkriegsgewinnlern zugute. Die restlichen zehn Prozent zerbröseln und helfen jenen Hunderttausenden, die noch immer ein Flüchtlingsdasein fristen, gerade mal von der Hand in den Mund zu leben. Das ist der Zynismus solcher “Kriege”, daß sie jede zivile Infrastruktur zerschlagen und daß gleichzeitig in riesigen Büros, z.B. in Chicago, San Francisco oder Dallas, also fast eine halbe Weltreise von Irak entfernt, auf imaginären Reißbrettern der “Wiederaufbau” konstruiert wird, ohne jede Ahnung davon, wie es dort am Ende aussieht.

Auch am zweiten Kriegswochenende hat es hierzulande und weltweit wieder viele Antikriegsdemonstrationen gegeben. “Die deutsche Friedensbewegung beweist einen langen Atem beim Protest gegen den Irakkrieg”, steht in einer Zeitung. So haben wieder 50.000 Menschen an der Berliner Siegessäule demonstriert. Rund 35.000 Demonstranten bildeten in Westfalen eine Menschenkette. Bei Frankfurt blockierten Friedensaktivisten die Autobahn. An der nun dritten Sitzblockade vor der US-Airbase Rhein-Main beteiligten sich über 2000 Demonstranten. Etwa 1000 wurden von der Polizei weggetragen. Insgesamt fanden am Samstag/Sonntag 110 Friedensaktionen statt. Hinzu kommen 200 - 300 Friedensgebete in Kirchen. Weltweit sollen am Wochenende wieder 1,3 Millionen Menschen gegen den Krieg in Irak demonstriert haben. Die größte Kundgebung fand mit 200.000 Menschen in Jarkata/Indonesien statt.

Im Wechselbad meiner Gefühle, hier der verbrecherische und grausame Krieg, da die Friedensaktionen, überwältigend in Zahlen, aber auch ermutigend durch Vielfalt neuer, bunter Ideen, stoße ich auf einen ironisch abwertenden Artikel in der “Welt am Sonntag” (WamS) von gestern: “Schwarz, Rot, Peace - Das Peace-Zeichen hat die gute, deutsche Kaffeetafel erreicht…” Ich bin kein Fetischist, aber Symbole sind aus meinem knapp vierzigjährigen friedenspolitischen Engagement nicht wegzudenken. So habe ich seit der großen Friedensdemonstration in Berlin am 15. Februar auch die Regenbogenfahne stets dabei. Sie hängt inzwischen neben dem Bettuch-Transparent “Nein zum Krieg!” ebenfalls an unserem Haus. Meine Enkelkinder haben die Fahne mit dem Wort “PACE” mit meiner dezenten Beihilfe in etwa zwei Dutzend Exemplaren in DIN A 5 Format gemalt. Einige zieren die Töpfe mit Frühlingsblumen, andere den Sandkasten, zwei den Kletterbaum, eine noch junge, aber kräftige Rotbuche. Ich finde in solchem kindlichen Tun etwas Entlastung bei den schmerzenden Anwandlungen von Verzweiflung, die meine Gefühle ebenso terrorisieren, wie sie mir den Kopf verwirren.

In dieser Weise durch den WamS-Artikel unangenehm berührt, vor allem allerdings, weil ich heute Abend zu einer Pfadfindergruppe in einem etwa 25 Kilometer entfernten Ort eingeladen bin, um über die Taube und das Peace-Zeichen zu reden und zu diskutieren, beginne ich meine umfangreiche Sammlung von Ansteckzeichen (Buttons), Tüchern und Bändern nach Symbolen zu durchforsten, die “langlebig sind” und mir noch immer etwas bedeuten. Dazu gehört mit der wohl längsten Tradition das gebrochene Gewehr. Es ist auch heute noch kein Massen-Zeichen, weist aber seit 1921 seine Träger als unverbrüchliche Pazifisten aus. Die Einführung des gebrochenen Gewehrs geht einher mit der Gründung der “war resister’s international” infolge des Ersten Weltkriegs. Das gebrochene Gewehr tragen zu dürfen, war anfangs verbunden mit der Selbstverpflichtung: “Krieg ist ein Verbrechen gegen die Menschheit! Ich bin daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und für die Beseitigung aller seiner Ursachen zu kämpfen.”

Die meisten Zeichen jedoch, die sich behaupten konnten, sind meines Wissens nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Erwähnenswert sind neben Taube und Peace-Zeichen “Schwerter zu Pflugscharen” oder “Atomkraft? Nein Danke!” oder der Stahlhelm, aus dem eine Blume wächst. Auch der Button, kombiniert aus der Lithographie von Edvard Munchs “Der Schrei” mit zwei martialisch daher kommenden Tieffliegern, der 1983 im Odenwald von dem damaligen Gymnasiasten Gerhard Lang gestaltet wurde, hat weltweite Verbreitung gefunden.

Wirklich durchgesetzt haben sich die Taube und das Peace-Zeichen. Picasso’s weiße Taube begann ihren Flug 1949. Sie ist der friedliche Gegenpart zum räuberischen Adler und brachte es nie dazu, wie dieser als Wappentier zu figurieren, denn Tiere als Staatssymbole, dazu zählt z.B. auch der Löwe, sollen die Menschen unterjochen, disziplinieren und in Kriegsfanatismus treiben, aber nie die Sehnsucht nach Frieden entflammen.

Anders als die Taube, die Picasso zu ungezählten Variationen inspirierte, wirkt das Peace-Zeichen eher statisch. Und doch gehört es zu den am weitesten verbreiteten Symbolen schlechthin. Aus erster Hand weiß ich, daß es 1958 aus dem Signal-Alphabet kombiniert wurde und für die Buchstaben ND steht, für Nuclear Disarmament = Nukleare Abrüstung. Obwohl die Atomwaffengegnerschaft besonders in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine weltweite Bewegung hervorbrachte, dürfte dies kaum der alleinige Grund für die enorme Verbreitung des “ND”Peace-Zeichens gewesen sein. “Hochrechnungen” zufolge könne nach einer AP-Meldung aus Anlaß der “Jahrtausendwende” davon ausgegangen werden, daß in den nördlichen westlichen wie östlichen Völkern, aber auch in Lateinamerika, in weiten Teilen Südostasiens, in Südafrika, in Australien und Neuseeland, über vierzig Prozent aller Acht bis Achtzigjährigen mit dem einstmaligen Antiatomzeichen das Wort Frieden assoziieren. Trotz meiner Skepsis gegenüber “Meinungsumfragen” und “Hochrechnungen” entspricht diese 40%-Angabe meiner Empirie.

So, wie es der weißen Taube zugute kam, daß sie aus dem infolge des Zweiten Weltkriegs in Schutt und Asche liegenden “alten Europa” aufstieg und mit dem Ölzweig im Schnabel die nie wieder Verderbnis-Verheißung nach der Sintflut verband, so entstand das Peace-Zeichen in einer Zeit, in der sich der Kalte Krieg zuspitzte, in der bereits wieder neue Kriege tobten (z.B. Korea) und weitere wetterleuchteten (z.B. Vietnam). Es war die Zeit für ein abstraktes Symbol, die “Kehrseite” zur konkreten Friedenstaube. Der Ring oder der Kreis einerseits und das runenhaft wirkende Gebilde andererseits finden sich als Symbole in fast allen früheren Kulturen.

Zu der Veranstaltung in Fürth sind etwa 30 Pfadfinder gekommen. Es sind aufmerksame Zuhörer sowie interessierte und höchst motivierte Frager und Diskutanten. Das Zeichen mit dem gebrochenen Gewehr habe ich in zehn Exemplaren dabei, und obwohl das Stück zwei Euro kostet, nehme ich zusätzlich noch acht Bestellungen entgegen. Die drei Original-Aufnäher “Schwerter zu Pflugscharen” aus der DDR-Zeit, die ich ebenfalls dabei habe, sind so gefragt, daß sie ausgelost werden. Der dreistündige Abend hat sich, ausgehend von dem Thema Friedens-Symbole, allerdings weitgehend um das “Was tun?” gegen den Krieg gedreht. Zwischendurch lese ich Antikriegstexte vor, z.B. Wolfgang Borchert “Dann gibt’s nur eins, sag Nein!”, Kurt Tucholsky “Drei Minuten Gehör…”, Erich Kästner “Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn?” und erneut Bertolt Brecht KINDERKREUZZUG: “Da war eine Schule und / ein kleiner Lehrer für Kalligraphie. / Und ein Schüler an einer zerschossenen Tankwand / lernte schreiben bis zu Frie…”

In Obersensbach am Montag, den 7. April 2003

Heute, am neunzehnten Tag meiner gegenwärtigen “Zeitrechnung” Irakkrieg, bin ich endlich wieder aus dem schwarzen Loch der Depression, die mich tagelang gefangen hielt, heraus gekommen. Mein “Gehirn”-Doktor tippte eher auf einen jahreszeitlich bedingten “Schub” und wollte (womit er, wie ich es heute selbst empfinde, recht hatte) nicht alles nur auf meinen Zorn und meine Trauer wegen des schaurigen Krieges abschieben. Er hat mein Gefühl von Hilflosigkeit zwar bedacht und wie stets, seitdem ich in seiner Obhut bin (August 2001) nicht unberücksichtigt gelassen, setzt aber zugleich auf ein zweites, also zusätzliches, aber vorübergehendes Antidepressiva mit dem Wirkstoff Mirtazapin, das die gestörten Stoffwechselprozesse im Gehirn bei Vorliegen einer “endogenen Depression” hilfreich regulieren soll. Bereits seit zwei Tagen verspüre ich eine Verbesserung meines gesundheitlichen Zustandes und heute greife ich endlich auch wieder “zur Feder”.

Ich freue mich, wieder Kraft und Lebensmut zu schöpfen, denn nur so kann ich meiner theoretisch und durch Fakten durchaus begründbaren pessimistischen Einschätzung des aktuellen kriegerischen Geschehens, sowie der Situation in der heutigen Menschheitsgesellschaft mit meinem persönlich optimistischen und aktiven Tun widersprechen. “Es gibt nichts Gutes, es sei denn, man tut es” (Erich Kästner).

Wenn ich von einem “schwarzen Loch” spreche, dann meine ich weniger, daß ich nicht wahrgenommen hätte, was im gegenwärtigen Krieg in Irak geschieht, sondern vor allem eine extreme Vernebelung und Verlustigkeit dessen, was ich meiner täglichen Zeitungslektüre und den Rundfunk-Nachrichten entnehmen kann; seit dem 31. März sehe ich vorerst nicht mehr fern.

Meine letzten ausführlichen Notizen datieren auf diesen vergangenen Montag, also den zwölften Tag der “neuen Zeitrechnung” Irakkrieg. Wenn ich allerdings das nur kurz Notierte überfliege, muß ich über mich staunen.

So habe ich am 1. April einen weiteren Geburtstagsbrief an einen langjährigen guten Genossen zu seinem 70sten geschrieben. Ich hatte ein langes Telefonat mit M.K., einer deutschen Freundin, die in Tuzla (Bosnien) lebt und dort seit gut sieben Jahren trotz dieser für eine junge Frau langen Zeit auch heute noch höchst engagiert basispolitische humanitäre Hilfe organisiert und koordiniert. M. bittet um Rat, eventuell ein verständlich geschriebenes Buch mit Ernährungsvorschlägen, aber auch sonstige Unterstützung für eine Frau aus ihrem Betreuungsumfeld, bei der plötzlich im Alter von zweiundzwanzig Jahren Diabetes mellitus Typ 1 diagnostiziert wurde (Jugendlichen-Diabetes). Ich, Diabetiker Typ 2 (“Altersdiabetes”), verstehe eine Menge von dieser Krankheit - auch deshalb ruft mich M. an - und bitte um den medizinischen Befund des Arztes in Tuzla, mit dem ich mich dann an die hier bekannte Beraterin des “Diabetikerbundes”, dessen Mitglied ich bin, wenden werde. Außerdem hatte ich an diesem Montag eine Stunde physiotherapeutische Behandlung wegen meiner sich versteifenden Hände. Mit einigen Freundinnen und Freunden habe ich an diesem 1. April Telefongespräche geführt, nicht wegen meiner depressiven Anwandlungen, sondern um Einschätzungen zur Kriegssituation, insbesondere zu den Zeitungsnachrichten “Alliierte Truppen kämpfen zunehmend in den Städten” und “US-Außenminister Powell warnt Iraks Nachbarn Iran und Syrien” zu diskutieren.

Am Mittwoch, 2. April, gelingt mir ein Leserbrief an die “Frankfurter Rundschau”, in der am Tag zuvor unter der Rubrik “Aus aller Welt” hintergründiges zu den Symbolen der Friedensbewegung berichtet worden war; über dieses Thema habe ich ja gerade erst bei einer Pfadfindergruppe gesprochen. Aus der Regionalzeitung “Odenwälder Echo” habe ich u.a. folgende Schlagzeilen notiert: “Schlacht um Bagdad hat begonnen”, “Albtraum Straßenkampf” und “US-Armee tötet Frauen und Kinder bei Kontrolle”. (…)

Ich finde unter dem 3. April notiert: Heute ist D.H. bei mir. Es geht mir ganz und gar nicht gut, aber der Termin ist seit längerem vereinbart, und ich wollte D. nicht kurzfristig absagen. Bei D. handelt es sich um einen jungen Journalisten und Kleinverleger. Er plant ein Hörbuch über “die” Friedensbewegung im allgemeinen und über die Ostermärsche der sechziger Jahre im besonderen. Er stellt mir eher wenige, aber präzise Fragen. D. ist ein guter Zuhörer, was mich zum Reden animiert und meine depressiven Irritationen zurück drängt. Ich spreche in das Mikrofon von D.s Tonbandgerät über meine Erlebnisse und Erfahrungen als Kriegskind, über die Jugend bei den Naturfreunden, über die “Sag Nein!”-Bewegung und die Kriegsdienstverweigerung, über die Ostermärsche der Atomwaffengegner von 1960 bis 1970 und (die siebziger und achtziger Jahre werden ausgespart) den Protest und gewaltfreien Widerstand vor, während und nach dem zweiten Golfkrieg 1991 sowie die friedenspolitischen Aktivitäten, verbunden mit humanitärer Hilfe, darunter die Aktion “Ferien vom Krieg”, in den neunziger Jahren im ehemaligen Jugoslawien. D.H. reist mit fünf Stunden Bandaufnahmen ab; wir haben uns zur Fortsetzung Anfang Mai verabredet. Nun bin ich echt erschöpft, aber auch froh, daß ich mich auf D. eingelassen habe.

Zum Wochenende 5./6. April ist nur wenig notiert: Am Samstag machen Hanne und ich mit unserer Tochter Aicha und den Enkeln Joscha (6) und Leon (4) einen gut dreistündigen Spaziergang am Neckar entlang, wobei die Kleinen ihre Fahrräder dabei haben und wir Erwachsenen kräftig ausschreiten müssen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Zum gestrigen Sonntag habe ich notiert: Es geht mir spürbar besser; morgen sollte ich zumindest einige Stunden im Arbeitszimmer verbringen, Zeitung lesen, Rundfunk hören, einige Telefongespräche tätigen und wieder schreiben…

Die “Frankfurter Rundschau” von heute (Montag, 7. April) faßt das Kriegswochenende zusammen. Sie berichtet vom Vorrücken amerikanischer Panzer auf Bagdad. Bei dem Vorstoß sollen bis zu 3000 Iraker ums Leben gekommen sein. US-Journalisten berichteten von “fanatischem Widerstand” der “Elitetruppen” der Republikanischen Garden und zurück geschlagenen Angriffen von Selbstmordkämpfern. Der irakische Propagandaminister Saijed el Sahhaf, der seit einigen Tagen nicht mehr vom Fernsehschirm wegzudenken ist, verliest eine “Erklärung” Saddams, in der die Bevölkerung von Bagdad zum Widerstand, notfalls bis zum bitteren Ende, aufgerufen wird. Allah werde sie belohnen. Am Sonntag soll es zu dem bisher schwersten Zwischenfall mit mutmaßlichem US-Eigenbombardement, “friendly fire”, gekommen sein, bei dem es viele tote und verletzte US-Soldaten gegeben habe. Ein Konvoi mit russischen Diplomaten, darunter der russische Botschafter in Irak, Wladimir Titorenko, soll auf dem Weg von Bagdad zur syrischen Grenze vom US-Militär angegriffen worden sein. Britische Truppen sollen am Montag in das Zentrum der wider Erwarten heftig “verteidigten” Stadt Basra vorgedrungen sein. Den Fall Basras wollte man eigentlich bereits vor zwei Wochen verkünden. Nach wie vor bestimmt der Krieg gegen Irak die Überschriften auf der Titelseite und das Titelbild. Letzteres zeigt eine irakische Familie, die mit Schrecken die “Gefechte” in einem Außenbezirk von Bagdad verfolgt. Das Bild auf “Seite drei” verdeutlicht, wie US-Soldaten für eine Art fröhliches Familienfoto mit hochgereckten schweren Handfeuerwaffen vor einer Plakatwand Saddam Husseins posieren. Während die CDU-Vorsitzende Angela Merkel ungeniert für uneingeschränkte Solidarität mit den US-amerikanischen Kriegsfreunden wirbt, gibt es erneut Friedensdemonstrationen, nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in Großbritannien, Spanien, Brasilien usw. Noch ist der weltweiten Friedensbewegung der Atem nicht ausgegangen, aber die Teilnehmerzahlen sind am dritten Kriegswochenende merklich gesunken.

Mein Kopf ist wieder klar, auch wenn mich meine Gefühle und Wahrnehmungen noch immer so irritieren, daß sie mein Denken zu verwirren scheinen. Doch es geht nicht alleine mir so, wie mir mehrere Telefongespräche und vor allem an Hanne und mich geschriebene Briefe bestätigen, ob sie nun per e-mail, Telefax oder mit der “alten Dampfpost” ankommen. Da hat sich bis zum heutigen neunzehnten Kriegstag eine ganze Menge auf dem Schreibtisch angesammelt.
Um meine “Genesung” nicht zu gefährden, waren Hanne und ich beim Samstags-Mahnkreis in Michelstadt nicht dabei. Wir hören, als wir uns in Telefongesprächen informieren lassen, daß auch bei uns im Odenwald weniger Leute gekommen sind. Nach meinen Erfahrungen im Auf und Ab von friedlichem Protest und gewaltfreiem Widerstand weiß ich, daß solche Ermüdungen von Gruppen, Initiativen und Bewegungen unvermeidlich sind, was jedoch nicht besagt, daß sie bereits aufgegeben haben.

In Obersensbach und Michelstadt
am Dienstag, 8. April 2003

Hanne und ich verständigen uns mit Klaus Schimmel. Unsere Namen stehen inzwischen für den Michelstädter Samstags-Mahnkreis “Wir sagen auch weiterhin NEIN zu Krieg!” Klaus ist evangelischer Pfarrer i.R., war bis zu seiner Pensionierung vor zwei Jahren als Seelsorger in der Odenwald-Gemeinde Mümling Grumbach tätig und die letzten Jahre seines Berufslebens zusätzlich Leiter des evangelischen Dekanats Erbach. Klaus betreute und unterstützte seit drei Jahrzehnten Kriegsdienstverweigerer und tut dies, wenn er gebeten wird, noch heute. Er ist einer der ersten, die mit dabei waren, als wir Ostern 1982 den jährlichen “Odenwälder Friedensmarsch” begannen und das “Odenwälder Friedensforum” gründeten. Er blockierte wie weitere achtzig Friedensmenschen aus unserem Odenwälder Zusammenhang in Mutlangen, und wurde am 23.6.1988 vom Amtsgericht Schwäbisch Gmünd durch Richter Offenloch wegen “Nötigung” zu einer Kriminalstrafe mit zwanzig Tagessätzen à sechzig DM verurteilt. Durch einen Vergleichsvorschlag der zweiten Instanz, dem Landgericht Ellwangen, wurde die Hälfte des Strafgeldes von Klaus Schimmel an den Rechtshilfefonds des Komitees für Grundrechte und Demokratie bezahlt. Klaus ließ einen großen Ballon zum Protest gegen Tiefflieger von der evangelischen Kirche in Mümling Grumbach aufsteigen. Er war dabei, als wir die 5,8 km lange Umzäunung eines in unserem Landkreis gelegenen Militärdepots mit einem schwarzen Trauerband umwickelten. Bei dieser Aktion schnitten einige Aktivisten ein Loch in den Zaun und drangen, Friedenslieder singend, in das Depot ein. Ende 1990 wurde dieses Depot vollständig geleert. Wenig später mußten wir schmerzlich erfahren, daß viele Tonnen mit gehärteter uranabgereicherter Munition während des von der UNO legalisierten Golfkriegs 1991 auf irakisches Land, auf Dörfer und Städte abgeschossen, gewissermaßen “verschrottet” wurden und bis heute vor sich hin strahlen.
Klaus Schimmel ist aus unserer lokalen Friedensbewegung nicht wegzudenken. Inzwischen lebt er in Michelstadt. Er besuchte uns Vacks Anfang Januar diesen Jahres in Obersensbach. Eigentlich wollte er nur ein altes Anti-Kriegs-“Sandwich”-Plakat, das auch in diesen Vorkriegsmonaten 2003 noch Gültigkeit hat, abholen. Er entschied sich für die Parole “Unser größter Feind ist der Krieg!” Mit einer Hand voll Leuten aus der kleinen Pax Christ-Gruppe wollte Klaus vor der Stadtkirche Michelstadt seine christlichen Schwestern und Brüder auf die erneut heranziehenden Kriegswolken über Irak aufmerksam machen. Aus dieser Aktion entstand unser Michelstädter Samstags-Mahnkreis.

Als wir am letzten Samstag nicht dabei sein konnten, war Klaus Schimmel aus viel triftigerem Grund verhindert. Er trug seinen besten Freund in Berlin zu Grabe. Heute besprechen wir am Telefon, wie es weitergehen soll. Keine Frage, wir werden weiter mahnen, weiter demonstrieren. Und so schicken wir im Lichte der heutigen Nachrichtenlage wieder einmal ein Einladungsschreiben an die Adressen unserer Mit-Alten, siebenundvierzig an der Zahl.

Wir schreiben: “Heute, gegen Ende der dritten Kriegswoche, deuten die noch immer widersprüchlichen, nach wie vor propagandistisch ausgewählten Bilder und Nachrichten erstmals an, daß die anglo-amerikanische Schieß- und Zerstörwut ihren fragwürdigen ‘Triumph’ erzielen dürfte. Vielleicht sagen uns die mächtigen Kriegsherren in den nächsten Tagen, daß Saddam Hussein und seine Clique ausgeschaltet sind, daß bereits das erste frische Grün aus den Trümmern (wir fügen hinzu: unter dem blutroten ‘Gottes’-Himmel der Bush-Feuer) zu sprießen begänne. Das alles werden wir auch weiter in der Sprache des Unmenschen zu hören bekommen; lediglich die Stimme des irakischen ‘Informationsministers’ dürfte dann verstummt sein.

Wie immer das Kriegsszenario aussehen mag, es gibt keinen Anlaß, unseren Michelstädter Samstags-Mahnkreis einzustellen. Für wahrscheinlich gar nicht so wenige Leute ist unsere wöchentliche Friedensaktion eine Art ‘Barometer’, das nicht plötzlich verschwinden sollte, so, als wären wir zufrieden und einverstanden, daß nun wieder alles in Ordnung ist. Mitnichten! So laden wir erneut ein, am kommenden Samstag, 12. April…

Am Ostersamstag, 19. April, geht der Odenwälder Friedensmarsch 2003 von Bad König nach Michelstadt. Wir unterstützen den Ostermarsch und rufen alle aus dem Samstags-Mahnkreis zur Teilnahme auf, selbst wenn möglicherweise die Kriegs-Massenhinrichtung mit Panzern, Bomben und Raketen gegen Irak eine ‘Verschnaufpause’ einlegt und wahrscheinlich bereits von ‘Wiederaufbau’ geredet wird… Wer ist nach Afghanistan (dem ersten) und Irak (dem zweiten) der Nächste beim US-amerikanischen ‘Kreuzzug des Guten gegen das Böse’? Syrien? Iran? Nordkorea?…

In schweren Zeiten mit unverbrüchlich herzlichen Grüßen, eure Klaus Schimmel/Klaus + Hanne Vack”.

In Michelstadt am Samstag, den 12. April 2003 (24. Kriegstag)

Was treibt mich dazu, meine “Kriegsnotizen” bis ins Detail auszuformulieren? Ist dieses “Szenario” nicht ein Plagiat der Fieberträume des Johannes, der 95/96 n. Chr. während der Christenverfolgung unter Kaiser Domitian auf der griechischen Insel Patmos die geheime Offenbarung der “Apokalypse” geschrieben haben soll? Die Bilder dieses Krieges in Irak sind so entsetzlich, daß mein Zorn, der mich doch schon so oft im Leben zu widerständigem Handeln, wenigstens zu Widerspruch aufbrachte, mir heute gerade mal die Kraft zu einigen schlaffen, ohnmächtigen Flügelschlägen der weißen Taube gibt. Es ist die wissende Angst, die mir die Kraft zu demonstrativen Aktivitäten raubt.
Was hilft mir in dieser Situation mein Wissen, mit dem ich bestimmen kann, welche politischen und ökonomischen Interessen die Bush’s in ihrem imperialen Wahnsinn antreiben. Ich habe schon lange begriffen: Krieg bringt keine Lösung irgend eines Problems. Und oft genug habe ich vor Beginn dieses dritten Golfkrieges mit meinen Worten das gesagt, was andernorts landauf, landab von hunderten Rednerinnen und Rednern ebenfalls ausgerufen wurde: Krieg im 21. Jahrhundert kann nur verbrecherisch motiviert sein und verbrecherisch durchgeführt werden.

Heute, am vierundzwanzigsten Tag meiner “Zeitrechnung” Irakkrieg, haben wir unseren dreizehnten Samstags-Mahnkreis auf dem Michelstädter Rathausplatz. Wir sind gerade mal knapp zwanzig, davon zwei jüngere Leute, drei mittleren Alters, also unsere Kindergeneration, die anderen - wie Hanne, Klaus Schimmel und ich - Alte, weitgehend rüstige Alte. Wir stehen im Kreis um das mit Blumen gelegte Peace-Zeichen, diesmal mit schwarzen Stoffstreifen als Trauerflor dazwischen.

Wir reden über die Schlagbilder und Schlagzeilen der Woche und darüber, was wir denn nun weiterhin tun könnten. H.S. macht sich und uns Mut, indem er nahe legt, nicht an unserem alarmierenden Betroffensein zu verzweifeln: “Ich mußte mich heute zusammenreißen mit meinem Entschluß, zu unserem Mahnkreis zu kommen. Am vergangenen Samstag waren wir dreiundvierzig; ich habe gezählt. Doch ich nehme an, heute ist es den meisten von euch so gegangen wie mir. Mich hat vor allem hierher getrieben, daß wir in den vergangenen drei Monaten nicht nur mit dem Samstags-Mahnkreis, sondern mit all den Aktivitäten und Demonstrationen der Antikriegsstimmung in weiten Kreisen der Odenwälder Bevölkerung politisch Ausdruck verleihen konnten. Auch heute sind ja wieder viele Passanten und Touristen da. Sie sollen sehen, daß dieser Krieg mit den Bildern von geplünderten Krankenhäusern nicht gleich die ganze Friedensbewegung weggefegt hat. Das hat für mich den Ausschlag gegeben. Deshalb bin ich hier und freue mich, daß auch ihr hier seid.”
Die meisten von uns beim Mahnkreis haben Schwierigkeiten mit den Bildern und Berichten über die Plünderungen in Basra und Bagdad, aber auch andernorts in Irak. In diesem Krieg werden wir gleichsam im Zeitraffer mit einer gräßlichen Bilderflut überschüttet, so daß sich Gespräche meist auf das beziehen, was wir aktuell gerade mit ansehen müssen.

Die Schlagzeile in unserer lokalen Heimatzeitung vom vergangenen Montag lautete: “Opferzahl im Kampf um Bagdad steigt dramatisch”. Sie war beziehungsreich verknüpft mit einem martialischen Bild, das schwer bewaffnete US-Soldaten zeigt, wie sie eine Ruine “sichern”. Am nächsten Tag die Schlagzeile “Lage in Kliniken kritisch”, illustriert durch ein Bild in tiefstem Gram schreiender Frauen, die bei einem toten Kind knien. Einen weiteren Tag später lesen wir, daß die US-Luftwaffe schwere Bomben einsetzt, um ein “vermutetes Saddam-Versteck” zu zerstören. Dazu das Bild eines in helle Flammen und schwarzen Rauch gehüllten Busses, der mitsamt seiner Insassen getroffen wurde. Tags darauf: “Saddams Regime verliert den Krieg um Bagdad”, ergänzt um die Erläuterung “Ohne Gegenwehr rollen US-Panzer in Bagdads Stadtzentrum ein”. Dann erste Meldungen und Bilder über Plünderungen und den Sturz und die Zerstörung monumentaler Saddam-Statuen, auch über einen “Siegeszug” von Kurden in die Ölstadt Kirkuk mit triumphierenden Kämpfern. Doch die Bilder- und Nachrichtenflut über Plünderungen in Bagdad machen den “Kampf um Kirkuk” zu einem drittrangigen Ereignis. Das Szenario steigert sich ins Unfaßbare angesichts der Plünderungen in den Bagdader Krankenhäusern und der Nachricht, daß das Gesundheitswesen zusammengebrochen sei.

Aus einem Zeitungskommentar von heute: “Wenn das Pentagon nur mit der gleichen Akribie für den Frieden geplant hätte wie zuvor für den Krieg, sähe es in Irak heute anders aus. Denn die neue Freiheit, die in der berühmt-berüchtigten Rumsfeld’schen Diktion schon ein wenig ‘unsauber’ daherkommt, bringt vielen Irakern derzeit den Tod.” Recht hat er, der Kommentator, aber nur halb, denn solche Plündereien in der allgemeinen Enthemmung, die Kriege bedeuten und begleiten, können eigentlich nicht überraschen.

Hinzu kommt, daß die irakische Bevölkerung seit Jahrzehnten, spätestens seit dem ersten Golfkrieg 1980 - 1988, während dessen die USA und andere westliche Staaten das Saddam Hussein-Regime massiv förderten, gebeutelt worden ist, bis unter das Existenzminimum. Der UN- und bundesdeutsch unterstützte zweite Golfkrieg 1991 tat das Seine zur fortgesetzten Verelendung. Den von den USA im Sicherheitsrat bis zur mangelnden Wasserversorgung verschärften Sanktionen der UNO nach 1991 sind bis 2001 mehr als eine halbe Million Kinder unter fünf Jahren zum Opfer gefallen.

Wir alle standen dabei und haben diesen Kindermord, über den wir hätten informiert sein müssen, als gezielte strukturelle Gewalt geschehen lassen. Jetzt aber, fernseh-unmittelbar, als sähen wir “authentische” Wirklichkeit, kann es mit westlichen Augen betrachtet so erscheinen, als fehle es den Nachkommen einer der ältesten Zivilisationen der Erde an europäisch-angelsächsischer und selbstredend an anglo-amerikanischer “Zivilisiertheit”. Und das, obwohl gerade die ach so “zivilen Gesellschaften” der USA, Großbritanniens und anderer, von Spanien bis Polen, mit modernstem Militär überlegen, ihre Menschen vernichtenden Interessen in Blut, Tränen und Zerstörung exekutiert haben. Welcher Zynismus versteckt sich hinter den Fernsehreden Bushs und Blairs am 10. April “an die irakische Bevölkerung”, in denen die beiden in abgedroschenem Jargon beziehungsweise in hochgestochenem Oxford-Englisch erneut als “Freunde und Befreier” des irakischen Volkes und nicht als “Besatzer” daher redeten.

Dieser Krieg ist noch nicht ausgestanden, seine Wunden werden über Jahre bluten, aber jetzt, da Bagdad “gestürmt” wurde und “gefallen” sein soll und Saddam scheinbar untertauchen konnte wie weiland bin Laden, läßt sich die Kriegstrompete Donald Rumsfeld mit einer unmißverständlichen Drohung an die Adresse Syriens vernehmen. Man vermute, daß die Massenvernichtungswaffen, die in Irak nicht gefunden wurden, nun wohl in Syrien zu finden seien. Und könnte nicht Saddam Hussein in dem Nachbarland Unterschlupf gefunden haben? Daß Syrien als Unruhestifter den Staat Israel bedrohe, sei auch zu bedenken…

Schlagzeilen, Bilder werden in unserem kleinen Mahnkreis ausgesprochen, erinnert. Wir haben in den vergangenen Samstags-Mahnkreisen stets auch Informationen ausgetauscht und unsere Gefühle nicht voreinander versteckt. Eins scheint heute neu. Vor dem Krieg demonstrierten wir gegen einen kriegerischen Überfall, den “Präventivschlag”. So, als könnten wir ihn verhindern. Mit Beginn des Krieges demonstrierten wir gegen ihn mit Zorn, Wut und Trauer. Inzwischen bedrängt uns mehr und mehr die Frage, was können wir noch tun? Darüber muß nachgedacht werden. Die Frage ist offen und die Antwort müssen wir noch finden. Fest steht nur, daß wir uns am Ostersamstag beim “Odenwälder Friedensmarsch” von Bad König nach Michelstadt wieder treffen werden und daß wir mit anderen reden wollen, die mitdemonstrieren sollten, auch um ihrer selbst willen.

In Obersensbach am Sonntag, den 13. April 2003 (25. Kriegstag)

Nochmals die Frage, warum schreibe ich noch immer einen Teil meiner Wahrnehmungen und Gedanken auf? So sehr Ohnmachtsgefühle auch in mir und um mich herum zum Resignieren drängen, kommen wir nicht um die Erkenntnis herum, daß wir, die wir den Frieden wollen, auf eine Politik hinwirken müssen, die in all ihren Teilen und in all ihren Instrumenten nach innen und nach außen friedensgerichtet ist. Wir müssen mit unseren Sinnen, mit unserem ganzen Verstand, mit all unserer Emotion und all unserer Rationalität diese Friedenspolitik selbst auf den Weg bringen. Jede Aktion gegen den Krieg war richtig, so wenig sie ihn hindern, geschweige denn verhindern konnte. Wichtig für uns Alte und Ältere, ebenso wie für die Jüngeren und Jungen, die nun zum ersten Mal die Friedenstaube fliegen ließen.

Ich stelle mir die Frage “Was tun?” und finde keine hinreichende Antwort. Diese Frage habe ich mir, soweit ich mich eigener Erfahrungen in der Vergangenheit erinnere, immer wieder gestellt und sie muß nach vorne in die Zukunft gestellt werden, selbst dann, wenn ich die Antwort verfehle und an eine neue Fragewand stoße. Warum hatte ich nicht das geringste Gespür dafür, daß unser Entsetzen über die Terroranschläge des 11. Septembers gewendet und mißbraucht werden konnte, um nach der endgültigen Besiegelung des “dritten Weltkrieges”, des Kalten Krieges, den vierten Weltkrieg im Sturmschritt einzuleiten?

Nun scheint der Krieg fast vorbei. Was aber ist vorbei, wenn dieser Krieg im Sinne unmittelbar aktuellen Kampf-, sprich kollektiven Mordgeschehens vorüber ist? Die Führung der USA wollte ihn unbedingt so, allen Gegengründen, allem fast kindischen Spiel mit der UNO, ihrem Sicherheitsrat und den gröblich mißbrauchten Inspektoren zum Trotz. Denn die USA sind der King-Kong der Welt. Ihrer gottgegebenen, im Namen Gottes stellvertretend ausgeübten Macht und Stärke kann niemand widerstehen. Was aber nun, da die im Präsidenten Bush maskengleich verkörperte Superarroganz der gegenwärtigen Supermacht ihre tödliche Herrschaft fürs erste erfolgreich demonstriert hat?

Erneut die Frage: Was tun? In jedem Falle ist zu versuchen, aus der weit, fein und oft unsichtbar umgarnenden Politik der Lüge auszubrechen. Das ist keine Anstrengung, die nur einmal zu leisten wäre. Die Gefahr, daß “guter” Glauben kriegszielende Politik rechtfertige, ist jeden Tag gegenwärtig. Der Lüge zu entgehen, verlangt folgerichtig auch, sich nicht auf irgendwelche Institutionen und ihre Repräsentanten als politische Stellvertreter zu verlassen.

Etwa, indem man sich vorgaukelt und vorgaukeln läßt, die UNO, so wichtig sie ist, könne Gerechtigkeit wirklich werden lassen und Kriege vermeiden. Das konnte die UNO von allem Anfang als Einrichtung von Staaten nicht. Der emphatische Begriff Völkerrecht ist unzutreffend. Das “Völkerrecht” ist ein Staatenrecht. Obwohl die Charta der Vereinten Nationen 1945 historisch neu bestimmte, Kriege dürften nicht mehr selbstverständlicher Teil staatlicher Souveränität sein und qua einseitigem, machtstaatlich zusammengesetzten Sicherheitsrat auf kollektive Konfliktlösungen drängte, vermag die UNO nur so viel, wie es im Interesse vor allem der ökonomisch-militärisch machtvollsten Staaten ist, nicht zuletzt der USA. Viel verlangte Reformen der UNO kommen gerade darum nicht zustande.

Ebenso trügerisch ist es, wenn man nun das US-amerikanisch gescholtene Teil-Europa militärisch neu entdecken will. Ein friedenspolitisch gerichtetes Europa, auch wenn man darunter “nur” die EU versteht, gibt es nicht. Es gibt nicht einmal ein einigermaßen auch nur liberales und demokratisches Europa. Die in der EU versammelten Staaten, die BRD an der Spitze, treiben durchgehend eine Politik, die der “Festung” Europa gilt, damit der europäische Wohlstand, weltweit erzielt, nur von den Europäern genossen werden könne. Diese EU aber zu einem Militärstaat aufzurüsten, der den USA partnerschaftlich, zuweilen eigeninteressiert kritisch das Wasser reichen könnte, ist friedenspolitisch eine geradezu abstruse Idee. Sie weiter zu verfolgen, wäre verhängnisvoll.
Noch mehr als trügerisch wäre es, auf die gegenwärtige Regierung der BRD und ihre herrschenden Gruppen als “Hoffnungsträger” zu setzen. Das Schröder-Fischersche Nein zum aktuellen Krieg gegen den Irak, zuerst vor allem vom Wahlkalkül motiviert, wandelt diese und andere deutsche Staatsvertreter mitnichten zu Tauben. Haben beide und ihre Regierung nicht den völkerrechtswidrigen Kosovokrieg mit vom Zaun gebrochen? Standen sie beim Angriff auf Afghanistan beiseite? Schröder verkündete im Herbst 2001, Deutschland müsse eine Weltmarkt- und eine Weltmachtrolle spielen. Dazu aber seien nun einmal Militär und Kriegsbereitschaft notwendig. Noch während sie sich gegen den Krieg gegen Irak wandten, verkündeten Schröder und Fischer unablässig, daß Deutschland sich nach wie vor uneingeschränkt am “Krieg gegen den Terrorismus” beteilige. Das tut die Schröder-Fischer-Schily-Regierung durch die Antiterrorgesetze auch innenpolitisch. Den Resten liberaler Menschenrechte wird je nach Situation der Hals umgedreht. Mit der phantastisch aufgeblasenen Gefahr eines bin Laden und seiner Al Qaida werden alle inneren Repressalien und alle äußeren Kriegstümmeleien gerechtfertigt. Auch das ist eine Politik der Lüge.

Nein, wir sollten keinen Illusionen anhängen, die nur die gegenwärtige, Kriegsursachen fort und fort befördernde Politik legitimieren. Wir können nur das wenige tun, was in unserer eigenen Macht steht. Diese können und sollten wir vergrößern. Auch indem wir gegenwärtig mit Irakis und anderen an Konzepten mitarbeiten, die deren konfliktreiche Situation nach eigener Bestimmung zu entspannen versucht. Zu tun gibt es viel zu viel. Wir müssen hier und heute auch und gerade in der Bundesrepublik anfangen. Wir dürfen uns nicht deswegen zu Illusionen verführen lassen, weil unsere Kräfte gegenwärtig und in erwartbarer Zeit noch gering sind. Kompromisse sind in der Politik unvermeidlich. In Sachen Frieden und Menschenrechte kann es aber für uns keinen Kompromißspielraum geben.

In Obersensbach am Montag, 14. April 2003 (26. Kriegstag)

Meine gestrigen Gedanken zur alten und immer wieder neuen Frage “Was tun?” noch einmal bedacht, gestehe ich mir selbstkritisch ein, daß sie wenig originell ausgefallen sind. Doch mehr fällt mir zur Zeit nicht ein.
Vor dem Schlafengehen haben Hanne und ich nach dreiundzwanzig Uhr die ARD-Tagesthemen angeschaut. Wir werden wie andere FernsehzuschauerInnen rund um die Erde mit dem Bild eines Jungen aus Bagdad konfrontiert, der mit schwersten Verbrennungen und zwei notdürftig verbundenen Armstümpfen im Saddam General Hospital notdürftig behandelt wird. Der Junge schaut wohl direkt die Kamera und blickt uns aus dem Bildschirm an. Er spricht ins Mikrofon und sagt: “Bitte gebt mir meine Arme zurück”. Hanne und ich konnten nach diesem einfachen, entsetzlichen, gewiß von der Militärzensur übersehenen Bild lange Zeit nicht einschlafen. Heute beim Frühstück bekommen wir kaum einen Bissen herunter. Ich murmele mit von Tränen gebrochener Stimme, daß ich nicht von dem schrecklichen Gedanken wegkomme, dieser Junge mit seinem total verpfuschten Leben, mit seiner für immer zerstörten Zukunft, sei einer unserer Enkeljungen Joscha oder Leon.

Noch bedrohlicher wird dieses Gefühl, als Joscha wenig später bei uns ist. Wir haben uns verabredet, um mit Wasserfarben Regenbogen zu malen. Heute haben im Kindergarten die Osterferien begonnen. Joscha nutzt diese Gelegenheit, um schon morgens früh bei uns zu sein. Es erfüllt ihn mit Stolz, zu malen wie in der Schule (O-Ton: “Ich bin jetzt ein Vorschulkind”).

Ich habe die Zeitungen noch nicht beachtet, und Joscha, der in den letzten Wochen oft die Bilder darin betrachtet und sie sich erklären läßt (Fernsehen ist, Gott sei Dank, bisher bei ihm und seinem kleineren Bruder Leon noch nicht gefragt), schlägt die “Frankfurter Rundschau” auf und stößt auf Seite zwei auf ein großes Foto, das zum Glück nicht den verstümmelten Ali Ismail Abbas zeigt, sondern einen anderen verletzten Jungen, bei dem man als Erwachsener hoffend erwarten kann, daß seine Wunden verheilen werden; die äußeren Verletzungen, aber leider wohl kaum die der Seele. Hanne und ich stehen unserem sechsjährigen Enkel so gut wir es können Rede und Antwort, und nach einigen Fragen beginnen wir zu malen und konzentrieren uns darauf, die Wasserfarben so ineinander überlaufen zu lassen, daß unsere Bilder “echt wie ein Regenbogen” aussehen.

Später lese ich die “story” zu dem Bild, die der Londoner FR-Korrespondent einfühlsam darstellt. Und doch frage ich mich, warum bedurfte es dieses Bildes, um das Gewissen der Menschen in Großbritannien aufzuwühlen, wo es doch seit dem 21. März jedenfalls was die deutschen Zeitungen betrifft, die ich lese, keine einzige Zeitungs-Titelseite mit einem so oder so erschreckenden Bild von Krieg, Zerstörung, Verzweiflung und Fanatismus gegeben hat und auch keine ohne dick und fett gedruckte Kriegsüberschrift? Warum kommt dieser Aufschrei erst heute, nachdem Tausende irakischer Kinder in weniger als einem Monat mit Bomben und Granaten hingerichtet, gemordet und verstümmelt worden sind?

Das finnische Friedenslied mit seiner wunderschönen Melodie schrillt und klopft wieder bei mir an: “Grad hörte ich die Nachricht aus jenem fernen Land. / Sie gaben den Tod der Kinder, nichts als den Tod bekannt. / Mir fehlten die Kinderlieder, ihr Lachen und Spielgeschrei. / Ich ahnte nicht, daß sie starben. Nun füllt sich mein Herz mit Blei. / Die starren Augen der Kinder, / die Vater und Mutter ansehn, / auch dich und mich, und sie fragen: / Warum muß uns das geschehn?”

In Obersensbach am Donnerstag, 17. April 2003

Von gestern auf heute haben wir bereits die sechste klare Vollmondnacht in Folge. Seit dem 20. November 2002 triumphierte jeder Vollmond über den gesamten Sternenhimmel und brachte kalte - in den Wintermonaten klirrend kalte - Nächte über das Sensbachtal. Ein halbes Dutzend Vollmondnächte, die von keinem Wölkchen getrübt werden, das gibt es selten in unseren Breiten.
Heute ist der neunundzwanzigste Tag meiner “Zeitrechnung” Irakkrieg und zugleich Beginn der fünften Kriegswoche. Den voran gegangenen Vollmond konnten wir am 18. März im Zenit sehen. Von Vollmond zu Vollmond, das ist für den Himmelsbeobachter eine kurze Zeit. In einem Menschenleben können viele Monde zusammenkommen. In meinem fast achtundsechzig Jahre zählenden Leben hat sich der volle Mond über meiner Geburts- und Heimatstadt Offenbach beziehungsweise über Obersensbach, wo ich mit meiner Familie seit achtundzwanzig Jahren lebe, achthunderteinundzwanzig Mal gezeigt. Jedem Vollmond folgte, heute präzise berechenbar, der abnehmende Mond, der Neumond, der zunehmende Mond und wieder Vollmond. Minute um Minute, Stunde um Stunde, Tag um Tag und erneut Vollmond. In der bislang letzten Mondperiode meines winzigen Erdendaseins, also vom 18. März bis 16. April wurde Irak in Schutt und Asche gelegt. Flammen und Rauch verdunkelten Mond und Sonne.

Ich nehme mir meine gesamten Notizen, die ich in diesem Krieg aufgeschrieben habe, noch einmal vor. Ich lese vom Anfang bis zum Ende. Meist sind es Stich- und Erinnerungspunkte, die ich notiert habe. Während der depressiven Schübe zwischen dem ersten und siebten April sind sie weniger als das. Aber da sind auch die ausführlicheren Texte, die mir das Kriegsgeschehen eindringlich vor Augen führen; ich erinnere mich: die Bezeichnung “Kriegsgeschehen” verharmlost das Serien- und Massenmorden der vergangenen Wochen.

Ich meine, das, was ich da aufgeschrieben habe, könnte diese und jenen meiner Freundinnen und Freunde, meiner Genossinnen und Genossen interessieren. Bei einem Telefongespräch vor langer Zeit, also in den ersten Tagen dieses Krieges, fragte mich ein verzweifelter Freund, was er tun könne, um nicht verrückt zu werden. Ich habe ihm empfohlen, sich Notizen zu machen, etwas Ähnliches wie ein “Kriegstagebuch”. Ich würde das ebenfalls tun.

Von Bad König nach Michelstadt
am Ostersamstag, 19. April 2003 (31. Kriegstag)

Ostermärsche der Atomwaffengegner (so hießen sie zuerst), der Gegnerschaft der Kriegspolitik gehören seit vierundfünfzig Jahren zu meinem Leben. Über den Marsch vom britischen Atomwaffenzentrum Aldermaston nach London, Ostern 1959, hatte ich eine Bildreportage in der Illustrierten “stern” gesehen. 1960 demonstrierte der erste deutsche Ostermarsch von Hamburg, Braunschweig und Bremen zum Raketenübungsplatz Bergen-Hohne. Bereits ein Jahr später, 1961, wurden in der Bundesrepublik sieben drei- oder viertägige Ostermärsche veranstaltet. Ich war einer der Organisatoren des hessischen Ostermarsches, der von wechselnden Ausgangspunkten nach Frankurt am Main ging. Unser Marsch zog 1961 von Karfreitag bis Ostermontag von dem US-Raketenstützpunkt Miltenberg (am Main) über Obernburg, Aschaffenburg, Hanau und Offenbach zum Frankfurter Römerberg. In Miltenberg sprachen die Schriftsteller Stefan Andres und Carl Amery (letzterer publizierte 2002, inzwischen achtzigjährig, sein neuestes Buch “Global exit”). Hauptredner in Frankfurt war der Theologe Prof. Dr. Helmut Gollwitzer D.D.; er begeisterte uns jungen Leute mit einem Satz in seiner Rede: “Dies ist das erste Mal, daß junge Deutsche nicht in den Krieg, sondern für den Frieden demonstrieren.” Während des viertägigen Marsches waren wir stets zwischen vierhundert bis fünfhundert Teilnehmer. Zur Kundgebung auf dem Römerberg waren dreitausend Menschen gekommen.

Für uns Junge war der Ostermarsch ein Aufbruch. Mit den traditionellen Großorganisationen hatten wir Ende der fünfziger Jahre die bittere Erfahrung gemacht, daß sie mit der Eingliederung der Bundesrepublik in die Politik des Kalten Krieges, als Vorposten der Nato bisherige Ziele fallen ließen wie “heiße Kartoffeln”. Die SPD hatte versucht, die Remilitarisierung zu verhindern. Sie hatte versucht, Atomwaffen auf deutschem Boden zu verhindern. Als dies bei den Bundestagswahlen 1957 “vom Wähler nicht honoriert” worden war, wurde “die sozialdemokratische Bastion für Frieden” Knall auf Fall aufgegeben. Doch waren wir Dreitausend 1961 auf dem Frankfurter Römerberg fast ebenso motiviert, wie wenige Jahre zuvor bei der großen “Kampf dem Atomtod”-Kundgebung, bei der sich noch viel, viel mehr Menschen versammelt hatten.
Zwischen 1965 und 1968 nahmen die Teilnehmerzahlen an den Ostermärschen und an den Schlußkundgebungen am Ostermontag, die meist in einigen Großstädten, von Hamburg über Dortmund, Frankfurt, Stuttgart bis München, stattfanden, sprunghaft zu. Einhundertfünfzigtausend Teilnehmer wurden 1968 gezählt.

Richteten sich die Ostermärsche anfangs gegen die nuklearen Waffen, so wurden nach und nach weitere politische Forderungen erhoben. Der Slogan “Die Bombe muß weg!”, wurde ergänzt um: “Für ein atomwaffenfreies Europa” und “Keine Atomwaffen auf deutschem Boden”. Hinzu kamen das Eintreten für demokratische Rechte und die Kampagne gegen die Notstandsgesetze. Dann und nicht zuletzt: “Gegen den Krieg der USA in Vietnam!”. Auch der Name änderte sich von “Ostermarsch der Atomwaffengegner” bis hin zu “Ostermarsch - Kampagne für Demokratie und Abrüstung - Außerparlamentarische Opposition”.

1970 schien den meisten von uns, die wir Ostermärsche 1960 begonnen und zehn Jahre mit voran gebracht haben, eine politische Situation entstanden, in der neue Formen einer Kooperation von radikaldemokratischen und linken Gruppierungen möglich und notwendig wurden, also über die Kriegsgegnerschaft hinausgehend.

1982, unsere Familie war inzwischen von Offenbach in den Odenwald gezogen, habe ich dann erneut zum “Ostermarschieren” und anfangs mit einer Hand voll Leuten zum “Odenwälder Friedensmarsch” am Ostersamstag mit aufgerufen. Wieder ging es um eine nicht geringe Demonstrationsstrecke von etwa fünfundzwanzig Kilometern. Am Ostermontag 1982 ff. waren wir beim Ostermarsch von Offenbach nach Frankfurt dabei. Der “Odenwälder Friedensmarsch” mußte mangels Beteiligung eine “Verschnaufpause” von 1995 bis 2002 einlegen. Aber er war nicht vergessen. Der heutige Ostermarsch von Bad König nach Michelstadt hat für mich also eine lange und gute Vorgeschichte.
Mit diesen oder ähnlichen Worten habe ich die Tradition der Ostermärsche und die sich verändernden Zeitläufte in einer kurzen Rede bei der Auftaktkundgebung in Bad König uns Älteren in Erinnerung gerufen und den vielen jungen “Ostermarschierern” darzulegen versucht.
Ich wäre nicht der, der ich bin, hätte ich nicht auch hier ein Gedicht vorgetragen, das Bertolt Brecht 1950 geschrieben hat, - ich halte es noch immer für hoch aktuell:
“AN MEINE LANDSLEUTE —- Ihr, die ihr überlebtet in gestorbenen Städten, / habt doch nun endlich mit euch selbst Erbarmen! / Zieht nun in neue Kriege nicht, ihr Armen, / als ob die alten nicht gelanget hätten: / Ich bitt euch, habet mit euch selbst Erbarmen! —- Ihr Männer, greift zur Kelle, nicht zum Messer! / Ihr säßet unter Dächern schließlich jetzt, / hättet ihr auf das Messer nicht gesetzt, / und unter Dächern sitzt es sich doch besser. / Ich bitt euch, greift zur Kelle, nicht zum Messer! —- Ihr Kinder, daß sie euch mit Krieg verschonen, / müßt ihr um Einsicht eure Eltern bitten. / Sagt laut, ihr wollt nicht in Ruinen wohnen / und nicht das leiden, was sie selber litten. / Ihr Kinder, daß sie euch mit Krieg verschonen. —- Ihr Mütter, da es euch anheim gegeben, / den Krieg zu dulden oder nicht zu dulden, / ich bitt euch, lasset eure Kinder leben! / Daß sie euch

Veröffentlicht am

07. Juni 2003

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