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Chemie-Terrorismus: Nur noch eine Frage der Zeit

Die Katastrophe im indischen Bhopal vor 20 Jahren sollte heute mehr denn je als Menetekel empfunden werden

Insgesamt 71.373 Tonnen an Kampfstoffen umfassen die Chemiewaffen-Arsenale (siehe Übersicht) weltweit. Viele Lagerstätten dieser Munition gelten als unzureichend gesichert, so dass die zuständige Kontrollorganisation OPCW in Den Haag den Schutz dieser Depots inzwischen als Aufgabe von höchster Priorität in ihr Arbeitsprogramm aufgenommen hat. Allerdings sind die getroffenen Abwehrmaßnahmen bisher nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Sie sind keine zuverlässige Prävention gegen den möglichen Zugriff terroristischer Gruppierungen, die - schenkt man etwa den Angaben der in Afghanistan operierenden Taleban Glauben - bereits über erhebliche Bestände an chemischen Kampfmitteln verfügen. Wir schließen unsere dreiteilige Folge über Terrorismus und Massenvernichtungswaffen mit dem Thema Chemie-Waffen ab.

Von Wolfgang Kötter

Es ist der 20. März 1995 morgens zwischen sieben und acht Uhr in Tokio, als fünf Mitglieder der Sekte Aum Shinrikyo gleichzeitig jeweils einen Waggon der unterirdischen Marunouchi-, Hibiya- und Chiyoda-Linie besteigen. Alle drei Metro-Trassen kreuzen sich im Tunnel unter dem Regierungsviertel Kasumigaseki. Jeder der Angreifer lässt mehrere mit dem Nervengift Sarin gefüllte, luftdicht verschweißte Plastiktüten fallen. Dann stechen die Attentäter mit den angeschärften Spitzen ihrer Regenschirme Löcher in die Beutel und flüchten. Kurze Zeit später brechen die ersten Passagiere in den Waggons zusammen, Hunderte krümmen sich vor Schmerz mit blutigem Schaum vor dem Mund auf den Bahnsteigen und auf dem Asphalt des U-Bahn-Zugangs Kasumigaseki.

Der nahezu blinde Guru Shoko Asahara und seine pseudo-religiöse Sekte Höchste Wahrheit haben an diesem Tag in barbarischer Weise zugeschlagen. Das Attentat fordert zwölf Todesopfer. 54 weitere Passagiere haben das verdampfende Nervengas eingeatmet und sind schwer, 980 leicht verletzt. Ambulant müssen die Hospitäler der japanischen Hauptstadt fast 6.000 Menschen behandeln. Die Haupttäter werden Jahre später zum Tode verurteilt.

Was damals in Tokio geschah, kann sich jederzeit an einem anderen Ort der Welt wiederholen. Bei einem ähnlichen Anschlag ebenfalls mit Sarin in der japanischen Stadt Matsumoto waren bereits ein Jahr vor dem Inferno von Kasumigaseki sieben Menschen getötet und 144 verletzt worden. Vergleichbare terroristische Aktionen mit biologischen oder chemischen Kampfstoffen könnten - so urteilt Rohan Gunaratna, der Leiter des Internationalen Zentrums für Politische Gewalt und Terrorismusforschung in Singapur - “nur noch eine Frage der Zeit” sein. In aufgefundenen Dokumenten der für die Bali-Anschläge (12. Oktober 2002) mit 202 Opfern verantwortlichen Terrorgruppe Jemaah Islamiyah sei zum Beispiel der Einsatz so genannter “Chem-Bio-Waffen” beschrieben.

Aber die Gefahren gehen nicht allein vom internationalen Terrorismus aus. Nur der Zufall hatte im Frühjahr 2003 in den USA eine hausgemachte Katastrophe verhindert. Auf der Suche nach den Herstellern gefälschter Ausweise entdeckten die Ermittler in der texanischen Kleinstadt Noonday ein Lager mit hochgefährlichen chemischen Giftstoffen (darunter Natriumzyanid, Salzsäure und Salpetersäure) sowie Maschinengewehren und erheblichen Mengen an Munition. Außerdem wurde rechtsextremes Propagandamaterial sichergestellt, unter anderem Schriften der white supremacists, einer Bewegung militanter Rassisten. Nach Angaben des lokalen Fernsehkanals hatte der Hauptverdächtige, William Joseph Krar, bereits eine Zyanidbombe fabriziert, bei deren Explosion eine tödliche Gaswolke freigesetzt worden wäre. Nur mit viel Glück konnte die Polizei diese innere Verschwörung aufdecken und schätzungsweise 6.000 Menschen das Leben retten.

Die jordanische Regierung informierte im April 2004 über geplante Chemieanschläge in Amman. Zehn mutmaßliche Terroristen wurden verhaftet, die unter ihrem Anführer Asmi Jajusi Giftgasanschläge auf die US-Botschaft, das Büro des Premierministers und die Geheimdienstzentrale vorbereitet hatten. Nach Angaben der Polizei wollte das Kommando für seine Operation 20 Tonnen Chemikalien einsetzen. Dazu waren mehrere schwere Fahrzeuge so umgebaut worden, dass sie Tore und Mauern durchbrechen konnten. Asmi Jajusi gab zu Protokoll, er sei von dem im irakischen Untergrund operierenden Abu Mussab al Sarkawi rekrutiert und in Afghanistan im Umgang mit Sprengstoffen und Giften ausgebildet worden. Laut einer Expertenstudie hätten die bei einer möglichen chemischen Explosion in Amman ausströmenden Giftgase Lungen und Augen angegriffen und in dieser dicht besiedelten Agglomeration bis zu 80.000 Menschen ersticken können. Zuvor hatte ein ehemaliger afghanischer Diplomat vor Journalisten im pakistanischen Peshawar erklärt, auch die Taleban seien im Besitz von Chemiewaffen, die von “befreundeten Staaten” geliefert worden seien und “zu passender Zeit” eingesetzt würden.

Zielobjekt Chemiefabriken

Eine lange unter Verschluss gehaltene Studie der US-Armee, die später von der Washington Post veröffentlicht wurde, kommt zu dem Schluss, dass besonders ein Terroranschlag mit konventionellen Waffen auf ein Chemiewerk in den Vereinigten Staaten katastrophale Folgen haben würde. Eine schreckliche Vorahnung dessen, was geschehen kann, besitzen wir seit dem Anblick der etwa 4.000 Leichen, die am Morgen des 3. Dezember 1984 den Boden der indischen Stadt Bhopal bedeckten. 20 Jahre nach der Tankexplosion in der Pestizidfabrik des US-Konzerns Union Carbide Corporation ist die Gesamtzahl der Todesopfer zwischenzeitlich auf über 15.000 gestiegen, mehr als 550.000 Menschen leiden seit jenem Dezembertag an chronischen Erkrankungen.

Fachleute warnen, dass heute bei einer Attacke auf eines der weltweit 6.000 Chemiewerke durch frei werdende Giftstoffe unter Umständen bis zu zwei Millionen Menschen getötet oder verletzt werden könnten. In den USA gibt es nach Angaben des Nationalen Umweltamtes über 120 Produktionsstätten für chemische Erzeugnisse, die sich in unmittelbarer Nähe von Wohnsiedlungen befinden und ein enormes Risikopotenzial darstellen. Umweltverbände haben die Unternehmen wiederholt vor möglichen Katastrophenszenarien gewarnt, weitgehend ohne Erfolg. Es sei nur fehlenden technischen Mitteln zu verdanken, dass potenzielle Tätergruppen vorerst noch auf den Einsatz chemischer Waffen verzichten müssten, konstatiert ein UN-Bericht.

Im vergangenen Jahr ließ die Financial Times wissen, islamistische Terroristen hätten in London einen Giftanschlag geplant, der Tausende von Menschenleben kosten sollte. Als von den mutmaßlichen Attentätern eine halbe Tonne der giftigen Chemikalie Saponin bestellt wurde, hatte der Lieferant Verdacht geschöpft und die Polizei eingeschaltet. Fachleute analysierten später, womöglich sollte das Saponin mit dem Gift Rizin gemischt werden. Londons Polizeichef meinte, die Frage laute nicht ob, sondern wann es zu einem derart furchtbaren Anschlag komme, der auf nichts anderes als Massenmord hinauslaufe. Und die Zeitungen sekundierten alarmiert, der Flughafen Heathrow und der Finanzbezirk Canary Wharf kämen am ehesten als Zielobjekte in Betracht.

Neue Jobs im Hidalgo County

Es fällt auf, dass in letzter Zeit die Maßnahmen zu einer entsprechenden Anti-Terror-Prävention deutlich zugenommen haben. Erst Ende November probten in einer sogenannten Stabsübung acht Bundesministerien und die Behörden mehrerer Länder gemeinsam mit rund 100 Wirtschaftsunternehmen das reibungslose Zusammenspiel bei einer angenommenen terroristischen Bedrohung in Deutschland.

Im September eröffnete das Pentagon ein neues Hauptquartier zum Schutz Washingtons. “Die Hauptstadt ist verwundbar”, begründete Generalmajor Galen Jackman die Notwendigkeit dieser neuen Zentrale, die vom Militärstützpunkt Fort McNair aus Überraschungsangriffe mit ABC-Waffen verhindern und die Zusammenarbeit mit den zivilen Behörden suchen soll. Auch in London und Paris probten Sicherheitskräfte die Reaktionen auf denkbare Giftgasüberfälle, die gegen U-Bahn-Trassen und - stationen gerichtet sein könnten. Die Grenze zum Makabren überschritt allerdings ein Manöver des US-Heimatschutzministeriums, das für fünf Millionen Dollar eine ganze Kleinstadt als Exerzierfeld für den Antiterror-Kampf aufkaufen ließ. Das nahezu verlassene 250-Häuser-Örtchen Playas im Hidalgo County nahe der Grenze zu Mexiko dient künftig als ständiges Testgelände, um realitätsnah Angriffe mit Milzbrand-Erregern und Chemiewaffen zu simulieren, Wasservergiftungen vorzutäuschen und das Zünden radiologischer Bomben zu imitieren. Die rund 50 verbliebenen Einwohner sollen bei den Übungen die Statisten geben. Sie zählen angeblich - der Zeitung Washington Times zufolge - die Tage bis sie “bombardiert” und “vergiftet” werden, erst dann würde der neue Job auch Geld bringen.

Peter Croll, der Direktor des Internationalen Konversionszentrums in Bonn, beklagt: “Eng begrenzte Vorstellungen von nationaler Sicherheit und das Setzen auf militärische Optionen - wofür auch der Irak-Krieg ein Ausdruck war - drängen ein umfassenderes Verständnis der existenziellen Nöte der Menschheit weltweit ins Abseits.” Sicher sind nachrichtendienstliche, polizeiliche und notfalls auch militärische Mittel notwendig. Doch eine erfolgverheißende Prävention gegen Angriffe mit chemischen Waffen sollte auf ein weitaus komplexeres Vorgehen vertrauen. Nachdrücklich fordert deshalb UN-Generalsekretär Kofi Annan: “Wir dürfen Fragen wie Terrorismus, Bürgerkriege oder extreme Armut nicht isoliert betrachten. Die Verknüpftheit dieser Probleme hat tiefgreifende Implikationen. Umfassende Strategien sind gefragt.” Gleichzeitig müssen die multilateralen Bemühungen für das Verbot von atomaren, biologischen und chemischen Waffen vorangebracht werden. Denn: Den sichersten Schutz vor Massenvernichtungsmitteln bietet deren vollständige Vernichtung.

Chemiewaffenbestände weltweit

Quelle: OPCW, Den Haag

Land / Menge (in Tonnen)

Russland: 40.000

USA: 31.000

Indien: genaue Menge nicht bekannt

Südkorea: genaue Menge nicht bekannt

Libyen: 23

Albanien: 15

Gesamt: 71.400 (geschätzt)

Chemische Gifte

Quelle: OPCW, Den Haag

Bezeichnung / Eigenschaften / relative Giftigkeit

Chlor: gasförmiges Atemgift; muss aus Druckflaschen versprüht werden - 1

Phosgen: leicht verdampfende Flüssigkeit; mit Granaten zu verschießen - 6

Senfgas: langsam verdampfende Flüssigkeit; wirkt über die Atemwege und durch die Haut - 13

Sarin: farb- und geruchloser Nervengift-Kampfstoff - 300

Bereits erschienen:

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 52 vom 17.12.2004. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Veröffentlicht am

04. Januar 2005

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