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Rumsfelds Krieg

Der amerikanische Reporter Seymour Hersh spannt den Bogen vom 11. September bis Abu Ghraib

Von Karl Grobe

“Nestbeschmutzer” hätte ihn vor einem halben Jahrhundert Adenauer-Deutschland geschimpft. Richard Perle, der erzkonservative Strippenzieher Bush’scher Außenpolitik, mag es drastischer. Seymour Hersh ist für ihn “das Element im amerikanischen Journalismus, das einem Terroristen am nächsten kommt”. Hersh hatte in der Intellektuellenzeitschrift The New Yorker aufgedeckt, dass Perle mit Firmen verbunden war, die an jenem Irak-Krieg gut verdienen konnten, den Perle wollte und den die Bush-Regierung seit anderthalb Jahren führt.

Diesem Krieg und der Besatzungspolitik ist Seymour Hersh als Reporter nachgegangen. Über die Folterskandale von Abu Ghraib berichtete er zuerst. Was vor einem Jahr im New Yorker stand und folglich jenem Teil des US-Publikums entging, der weder intellektuell noch ostküstenorientiert ist, ist in seinem Buch Die Befehlskette nun auch auf deutsch nachzulesen. Vertieft, erweitert und dokumentiert. Der Abu-Ghraib-Skandal übrigens wurde in den USA erst wirklich einer, als einige Fernsehsender den Hersh-Enthüllungen nachgingen und sie bestätigten. Für den Autor eine vielleicht nicht überraschend neue Erfahrung - so ist seine ernüchternde Reportage über einen Massenmord an irakischen Soldaten im ersten Golfkrieg (1991) ziemlich unbeachtet geblieben. Hersh hatte in einer anderen New Yorker Zeitschrift (Review of Books) gezeigt, wie US-Militärs kapitulationsbereite und verängstigte irakische Wehrpflichtige auf der Flucht aus Kuwait kalt planend abgeschossen hatten. Dem Bericht widersprach niemand; aber kein Gericht griff den Skandal auf. Nach Abu Ghraib hat sich wenigstens das geändert.

Vom Versagen der Geheimdienste

Hersh spannt den Bogen weit. So weit, wie ihn die Spin Doctors der Washingtoner Regierung gern hätten - vom 11. September bis zum Irak-Krieg -, aber er zielt und trifft die Herrschenden und die Lügenbolde. Vom Versagen der Geheimdienste vor dem 11. September und ihrer strukturellen Unfähigkeit, die Zusammenhänge des Terrorismus zu erfassen, haben mittlerweile auch andere recht offen gesprochen. Dass sie dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten nach dem Munde geredet hätten, behauptet er nicht; aber wenn Geheimdienstler berichteten, standen die Ohren auf Durchzug. So kam es, dass “die Regierung nicht wusste, was sie wusste”, obwohl sie am 6. August 2001 detailliert gewarnt worden war, übrigens auf ihre eigene Anforderung hin.

In den USA hält sich bei knapp der Hälfte der demoskopisch Befragten die Vorstellung, hinter den Anschlägen habe Saddam Hussein gesteckt. Das hatte das offizielle Washington zeitweilig auch behauptet und als einen Kriegsgrund angeführt. Inzwischen dementierte Regierungsmitglied Donald Rumsfeld das; Donald Rumsfeld, der 1998 zu den Unterzeichnern eines Memorandums an den damaligen US-Präsidenten Bill Clinton gehörte, das in drastischen Worten vor den Massenvernichtungswaffen (WMD) des irakischen Diktators warnte.

Die gab es nicht, weder 1998 noch 2003 noch irgendwann seit Anfang der neunziger Jahre. Das wussten die UN-Inspekteure, das wusste auch Außenminister Colin Powell, obwohl er der UN-Vollversammlung anderes erzählte, um sie zum Krieg zu bewegen. Inzwischen hat Charles Duelfer, ausgesandt, um die UN zu blamieren und die WMD dann doch zu finden, den UN-Befund bestätigt und einen weiteren Kriegsgrund als Schimäre erscheinen lassen.

Hersh ist einigen Einzelproblemen nachgegangen. So der Behauptung, Irak habe in Niger Uran kaufen wollen. Der Fall und sein Ergebnis ist bekannt: Es gab diesen Versuch nicht. Ein US-Diplomat hat das bewiesen; zur Strafe wurde seine Frau als CIA-Mitarbeiterin in getarnter Mission enttarnt - mittels einer Regierungs-Indiskretion und eines bushfreundlichen Kolumnisten - und als Agentin “verbrannt”; wobei Dutzende ihrer vielleicht ahnungslosen Kontaktpersonen in hohe Gefahr gerieten. Hersh fragt: “Belog die Regierung sich selbst? Oder fütterte sie … den Kongress und die Öffentlichkeit mit Informationen, von denen sie wusste, dass sie unzutreffend waren?”

Er untersucht weitere Einzelheiten und kommt jedes Mal der Einschätzung näher, die er im Epilog so zusammenfasst: “Der Eindruck bleibt bestehen, dass dies Rumsfelds Krieg war. … aber auch der Präsident und der Vizepräsident waren in die Angelegenheit einbezogen und ständig über alles im Bilde. Rumsfeld erledigte die Dreckarbeit und hütete die Geheimnisse, doch er und die beiden Führer des Weißen Hauses bildeten ein gut eingespieltes Team.”

Lügen oder selbst daran glauben

Hersh schließt mit den Sätzen: “Viele halten George W. Bush für einen Lügner, für einen Präsidenten, der bewusst Tatsachen verdreht, wenn es ihm politisch nützt. Doch Lügen setzt voraus, dass man weiß, was man will, was möglich ist und wie man es am besten erreichen kann. Plausibler erscheint mir die Erklärung, dass Worte für unseren Präsidenten über den unmittelbaren Augenblick hinaus keine Bedeutung haben. Daher glaubt er, dass seine Phrasen allein schon durch das Aussprechen zur Realität werden. Eine erschreckende Vorstellung.”

Seymour Hersh schreibt solches nicht eilig hin. Er ist, wie seit seinen Enthüllungen über das US-Massaker in My Lai (Vietnam 1972) bekannt, ein methodischer und daher nicht auf den journalistischen Erstschlag fixierter Reporter. Er recherchiert gründlich, über lange Zeit, dokumentiert seine Quellen exakt und schützt seine Informanten, wo immer es nötig ist. Er ist das Gegenbeispiel zu den “Eingebetteten” und auch das Gegenteil derjenigen, denen eine Kamera, ein Mikrofon und ein damit eingefangenes Statement genügen, um zu glauben und den Zuschauern weismachen zu können, sie hätten die ganze Geschichte.

Das Buch

Seymour Hersh: Die Befehlskette. Vom 11. September bis Abu Ghraib. Deutsch von Hans Freundl, Norbert Juraschitz, Reiner Pfleiderer und Thomas Pfeiffer. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004, 400 Seiten, 14,90 Euro.

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 25.10.2004. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Veröffentlicht am

27. Oktober 2004

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