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Analyse China: Unruhe im fernen Westen

In der chinesischen Region Xinjiang kommt es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Hintergrund sind ungelöste ethnische Konflikte.

Von Karl Grobe

In der Region Xinjiang, in Chinas fernem Westen, fühlen die meisten Chinesen sich unwohl, wenigstens in den Gegenden, die dem vollen amtlichen Namen des Gebietes entsprechen: Uigurische Autonome Region. In Städten wie Kaschgar, Jarkant oder Hotan und in zahllosen kleineren Orten sehen sie sich "von Ausländern umringt", nicht begreifend, dass sie selber dort "Ausländer" sind. Aber sie arbeiten daran, das zu ändern. Und das ist die tiefere Ursache der Ausbrüche von Gewalt wie in den letzten Wochen wieder in der groß werdenden Stadt Korla oder der kleinen, noch ganz uigurischen Gemeinde Serikbuya.

In dieser Siedlung leben nicht viele Han-Chinesen, und unter den Uiguren dort sind einige strenggläubige Muslime. "Kommunalarbeiter" - so heißen die oft in Tarnanzügen und stets zu mehreren auftretenden Wächter über die vom Gesetz vorgeschriebene Ordnung - legten sich unlängst mit einer solchen Familie an, befahlen einer Frau, den Schleier abzulegen, und rissen ihn gewaltsam herunter. Daraus entwickelte sich eine Auseinandersetzung, die - nach den Worten der regionalen Regierungssprecherin, einer Han-Chinesin - "neun Einwohner, sechs Polizisten und sechs Uiguren" das Leben kostete. Die Versionen klaffen weit auseinander. Uigurische Sprecher (meist im Ausland; in Xinjiang haben sie keine Chance) brandmarken einen paradigmatischen Überfall auf Gläubige. Staatsamtliche Sprecher verlautbaren, es habe eine terroristische Verschwörung gegeben. Messer seien gefunden worden, und in dem betreffenden Haus hätten Jugendliche heimlich den Koran studiert.

Das ist verboten. Jugendliche unter 18 dürfen nicht in die Moscheen, Imame werden staatlich geprüft und überprüft, die vor etwa dreißig Jahren verordnete relative Toleranz in Religions- und Sprachdingen ist weitgehend zurückgenommen. Sprachenprobleme geben die zweite Reibungsfläche ab, an der sich Konflikte entzünden. Nicht nur, weil die Staatsführung mit arabischen, kyrillischen und lateinischen Alphabeten für die Sprachen der Uiguren und anderer Turkvölker der Region experimentiert hat; sie übt auch einen nicht nur sanften Druck aus, die chinesische Hochsprache zur alleinigen Bildungssprache auch für alle nationalen Minderheiten zu machen.

Dafür gibt es durchaus rationale Gründe. Und ein allmählich wachsender Anteil der Uiguren - und anderer Nicht-Han-Völker - integriert sich bewusst in die chinesisch formulierte Bildungs-, Politik-, Wirtschafts- und Verwaltungsordnung. Das spaltet. Zudem sind sehr ähnliche Idiome seit dem Zerfall der Sowjetunion in den neuen Staaten Amtssprachen geworden. Die meisten Uiguren, Kasachen, Kirgisen und Tadschiken sind nicht bereit, ihre Sprache zweitrangig werden zu lassen.

Aufbegehren gegen kulturelle und ethnische Diskriminierung entwickelt sich unter solchen Voraussetzungen zwangsläufig. Es bekommt neue Argumente mit der Zuwanderung von Han-Chinesen im Zusammenhang mit dem beschleunigten Wirtschaftsaufbau des "fernen Westens". Die Verwandlung der Regionalhauptstadt Urumqi in eine verwechselbar chinesische Millionenstadt scheint da ein Vorzeichen für die Zukunft der vor zwanzig Jahren noch überwiegend uigurischen, turksprachigen, von der muslimischen Kultur geprägten Großstadt Kaschgar zu sein. Deren Altstadt, ein Musterbeispiel traditioneller Lehmarchitektur, wird seit einigen Jahren "saniert", also abgerissen. Beton- und Ziegelbauten sollen sie ersetzen. Architektonisch haben sie mit dem früheren Kaschgar nicht viel zu tun.

Seit Kaschgar Bahnverbindung hat - nach Osten, mit dem chinesischen Kernland -, ist es ausersehen, Entwicklungsschwerpunkt zu werden. Es wird neue Industrien, neue Hochschulen, eine moderne Infrastruktur und eine dynamische han-chinesische Bevölkerungsmehrheit bekommen. Zur Überwindung der eigenen Fremdheit in dieser Stadt bemühen sich die Han-Zuwanderer, ihre neue Umwelt so chinesisch wie möglich zu machen, und zwar so rasch wie möglich. Eben dieser Fortschritt erbittert die Einheimischen - außer jenen, die aus Einsicht ins Unvermeidliche oder aus schlichtem Opportunismus sich für das größere China entscheiden.

Dieser Entwicklungstrend hat begonnen, als die Volksrepublik China sofort nach ihrer Gründung den damals dominierenden sowjetischen Einfluss zurückdrängte. Die Konkurrenz mit der UdSSR erzwang zuerst eine vorsichtige Taktik. Aber nach den Anschlägen vom 11. September 2001 nutzte die Pekinger Führung die Gelegenheit, ihrerseits jeden Widerstand als Terrorismus zu brandmarken. Besonders Parteichef Wang Lequan befleißigte sich dieser Taktik. Er musste 2010 nach 16 Amtsjahren viel zu spät seinen Posten räumen. In seinem letzten Jahr hatten sich die Gewaltakte gehäuft. Wangs Versuch, terroristische, vom Ausland eingeschleuste Agitatoren verantwortlich zu machen, ging in jedem einzelnen Fall fehl. Die Widersprüche, die sich gewaltsam entluden, waren hausgemacht. Wie jetzt wieder.

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 09.05.2013. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Karl Grobe.

Veröffentlicht am

14. Mai 2013

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