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Grass nach dem Hype - Was bleibt?

Von Otmar Steinbicker

Wohl noch nie zuvor hat ein Gedicht so schnell so viel mediale Aufmerksamkeit erfahren wie Günter Grass Zeilen "Was gesagt werden muss".

Jetzt, wo der Hype abklingt, die Zahl der neuen Artikel abnimmt und auch die Zugriffszahlen auf die Internetseiten bisheriger Beiträge zum Thema sinken, kann eine Zwischenbilanz gezogen werden.

Ja, die von Grass gewählte Überschrift "Was gesagt werden muss" klang ziemlich großspurig, so als habe noch niemand zuvor über das Thema israelische Kriegsdrohungen gegen Iran geschrieben und das, obwohl seit Wochen die Weltpresse voll davon ist und auch in Israel und Deutschland kritische Stimmen zu Wort kommen.

Nein, Grass ist auch nicht der erste Schriftsteller, der sich dieses brisanten Themas kritisch annahm und der von einer großen deutschen Zeitung gedruckt wurde. Bereits am 13. März veröffentlichte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" ein Essay des israelischen Schriftstellers David Grossman der unter dem Titel "Bevor unsere Ohren taub werden" zur Zurückhaltung mahnt: "Greift Israel Iran an, um eine mögliche Katastrophe zu verhindern, beschwört es selbst eine sichere Katastrophe herauf". Grossman kennt nicht einkalkulierte Kriegsfolgen aus bitterer persönlicher Erfahrung. Er verlor seinen Sohn in den letzten Stunden des Libanonkrieges 2006 - in einem Krieg, den er, der Vater, anfänglich gerechtfertigt hatte.

Grossmans Gedanken zum aktuellen Konflikt sind sicherlich nicht die Einzigen, die dazu zu sagen sind, aber sie sind fundiert. Das kann man bei Grass leider nicht sagen und der Literaturnobelpreisträger hat bereits nach wenigen Tagen eingeräumt, er würde sein Gedicht heute anders schreiben.

Bei Grass fiel bereits auf den ersten Blick auf:

  • eine völlig unkritische Haltung gegenüber der iranischen Politik. Irans Präsident Ahmadinedschad wird da zum "Maulhelden" degradiert, als ob sich die Welt oder auch Israel über diesen Aspekt sorgen würde. Kein Wort zum umstrittenen iranischen Atomprogramm, den kritischen Fragen der Internationalen Atomagentur IAEA und der bisherigen Weigerung der iranischen Regierung diese Fragen lückenlos zu beantworten und Kontrollen kritischer Einrichtungen zuzulassen.
  • eine völlig überzogene Darstellung israelischer Angriffspläne, als sei gäbe es eine ernsthafte Überlegung in Israels Regierung und Militär, das iranische Volk durch einen Erstschlag atomar auszulöschen.

Es ist vor allem diese maßlose Übertreibung, die Grass unglaubwürdig macht und vermutlich Leserinnen und Leser davon abhält, über die ernsten Eskalationsgefahren eines israelischen Angriffs auf Iran für Israel und die gesamte Region nachzudenken. Da bleiben leider wohl auch Grass ernstzunehmende Hinweise auf die israelischen Atomwaffen und die deutsche Lieferung von U-Booten als Trägerwaffen für eben diese Atomwaffen auf der Strecke.

Viele Grass-Kritiker der ersten Stunden zeigten sich allerdings nicht besser als der Kritisierte. Grass einseitige Sicht konterten sie mit einer ebenso einseitigen Sicht aus entgegengesetzter Perspektive. Ein Hype baute sich auf. Israels Regierung setzte auf all das noch eins drauf und gab sich der Lächerlichkeit preis mit einem Einreiseverbot für Grass.

Von einigen bewusst und von anderen unbewusst wurde der Eindruck erweckt, Israel dürfe in Deutschland nicht ungestraft kritisiert werden. Natürlich kennen wir selbsternannte Kritiker des Antisemitismus, die genau diesen Eindruck erwecken wollen und selbstverständlich meldeten sie sich auch hier als Erste zu Wort.

Doch auch Grass selbst hatte dazu in seinen Zeilen heftigst Vorschub geleistet und dabei Töne anklingen lassen, wie wir sie ansonsten aus Versatzstücken antisemitischer Traktakte kennen.

"Ist Grass jetzt ein Antisemit?", fragte sich der israelische Historiker Moshe Zimmermann, selbst ein ausgewiesener Kritiker israelischer Regierungspolitik, in einem Beitrag für den "Spiegel" und kommt zu dem Schluss: "Das ist eine komplexe Frage, die nach noch komplexeren Antworten verlangt. Natürlich ist Grass kein rabiater Antisemit, der Juden vertreiben oder ermorden will. Antisemitismus aber ist vielschichtiger. Und Grass benutzt Bilder und Mythen, die antisemitisch angehaucht sind. Die Art und Weise, wie er Israel pauschalisiert, erinnert an die Art und Weise wie Juden pauschalisiert wurden und werden. Zu seinem Gedicht ‘Was gesagt werden muss’ hätte auch sehr gut die Überschrift gepasst: ‘Israel ist unser Unglück’. Im ‘Antisemitismusstreit’ 1879 hat der Berliner Historiker Heinrich von Treitschke den Satz ‘Die Juden sind unser Unglück’ verkündet. Dieser Satz stand später stets auf der Titelseite des ‘Stürmers’. Grass bewegt sich auf sehr gefährlichem Terrain. Das muss eben gesagt werden, aber im Rahmen einer zivilisierten Gelehrtendiskussion. Als Grund für politische Maßnahmen darf es jedoch nicht missbraucht werden."

Doch Vorsicht vor einem vorschnellen Verdikt des Antisemitismus warnt der gleiche Moshe Zimmermann in einem weiteren Beitrag für die "taz" : "Jene in Deutschland, die wie Günter Grass denken, sich jedoch nicht getrauen, ihre Gedanken zu artikulieren, nun aber erfahren müssen, dass der, der ihrem Denken Worte gegeben hat, als Antisemit gebrandmarkt wird, sie somit selbst den Dreck des wahllosen Antisemitismusvorwurfs indirekt abbekommen haben, werden sich überlegen müssen, wie sie mit dieser psychisch-politischen Unwirtlichkeit umgehen."

Uri Avnery, Träger des Alternativen Friedensnobelpreises und des Aachener Friedenspreises sieht Antisemitismus im Bestehen auf einer Sonderrolle Israels: "Es ist antisemitisch, darauf zu bestehen, dass Israel in Deutschland nicht kritisiert werden darf." Israel wolle mit denselben Maßstäben wie andere Staaten gemessen werden. "Jede Einstellung, die besagt, dass Israel eine Art Sonderbehandlung haben muss, ist antisemitisch", zitiert ihn die "Süddeutsche Zeitung" .

Und wie sollen wir damit umgehen? Wer einen Grund dafür sieht, israelische Regierungspolitik zu kritisieren, und gute Gründe gibt es sicherlich nicht nur im Konflikt Israel-Iran oder im Konflikt Israel-Palästinenser, der sollte seine Kritik klar und deutlich und fundiert formulieren! Gemessen wird er dann daran, wie fundiert die Kritik ist, so wie es ihm bei jeder Kritik geht gegenüber welcher Regierung auch immer! Wer dagegen wie Grass den Eindruck bedient, eine israelische Regierung dürfe vielleicht nicht kritisiert werden, läuft Gefahr, den Antisemitismus zu bedienen.

In Aachen hatten wir erst vor wenigen Wochen einen heftigen öffentlich in den Medien ausgetragenen Konflikt über den lapidaren Satz einer Aachener Bürgermeisterin: "Es muss aber möglich sein, auch die israelische Politik zu kritisieren, etwa eine Regierung, die dem israelischen Volk schadet". Die von interessierter Seite vorgetragenen Antisemitismus-Vorwürfe brachte schließlich Gershon Baskin, prominenter Kolumnist der "Jerusalem Post" und Vermittler bei der Freilassung des israelischen Soldaten Gilat Shalit durch die Hamas, zum Schweigen. In einem aixpaix.de-Interview erklärte er unmissverständlich: "Kritik an Israel im Hinblick auf den Umgang mit den Palästinensern hat nichts mit Antisemitismus zu tun!"

Dass die deutsche Friedensbewegung bei den Ostermärschen die tagesaktuelle Aufregung um Grass dazu nutzte, um auf ihre eigene fundierte Kritik an der friedensgefährdenden israelischen Politik gegenüber Iran und auf das Gefahrenpotential der israelischen Atomwaffen hinzuweisen, ist ihr nicht vorzuwerfen, im Gegenteil.

Mit der Erklärung aus der deutschen Friedensbewegung und der Friedensforschung "Friedens- statt Kriegspolitik im Irankonflikt" , die mittlerweile von mehr als 1700 Personen unterzeichnet und veröffentlicht wurde, hatte sie längst vor Grass eine fundierte und differenziertere Analyse des Konflikts und darauf basierende politische Handlungsoptionen vorgelegt.

Nach Abklingen des Hypes um Grass ist sie gut beraten, auf dieser Linie weiter zu arbeiten und in der wechselvollen und komplizierten tagespolitischen Auseinandersetzung kompetent - und das heißt für mich ohne Verweis auf Grass - zu argumentieren, um eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit zu ermöglichen.

Otmar Steinbicker ist Herausgeber des Aachener Friedensmagazins www.aixpaix.de .

Quelle:  www.aixpaix.de , 10.04.2012.

Veröffentlicht am

10. April 2012

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