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Libyen: Die Lebenden und der Tote

Das gewaltsame Ende Muammar al-Gaddafis bezeugt weder einen Sieg des modernen Rechts noch der Menschenrechte. Es weckt Zweifel an der Integrität des Übergangsrates

Von Sabine Kebir

Die Zukunft wird zeigen, dass die Naivlinge, die Gaddafi feige ermordeten, nicht mehr wert sind als er selbst", schreibt der algerische Blogger Rachid Bahri. "Sie haben die Zerstörung ihres Landes zugelassen durch diejenigen, die von den Reichtümern Libyens profitieren." Damit gibt Bahri die Stimmung wieder, mit der das Ende des libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi in den Nachbarländern wahrgenommen wird. Sie ist nicht zu vergleichen mit der Sympathie, die den aus eigener Kraft erreichten Revolutionen in Tunesien und Ägypten zuteil wird.

Eine NATO-Intervention wäre in keinem anderen nordafrikanischen Land willkommen gewesen. Zwar sind viele Bürger Algeriens empört, dass die Tochter wie auch die Ehefrau Gaddafis, die in ihrem Land Zuflucht gefunden haben, über syrische Radiosender Durchhalteparolen verbreiten. Aber ausgeliefert wird die Gaddafi-Familie wohl erst, wenn in Libyen die akute Lebensgefahr für sie gebannt ist.

Kein Gaddafi-Prozess

Wenn die Menschenrechte als unteilbar definiert werden, immer und überall und für alle Menschen, dann heißt das: Sie haben auch für die größten Menschenrechtsverletzer zu gelten, sobald sie besiegt sind. Wenn sich Sieger daran halten, können sie zeigen, dass sie eine neue Seite in der Geschichte der Menschenrechte schreiben wollen. Während es in Tunesien und Ägypten genügend verantwortungsbewusste Kräfte gab, die sich Lynch-Szenarien für die besiegten Diktatoren entgegenstellten, wurde Gaddafi vor den Augen der Welt erniedrigt. Dabei sollte es doch einem militärischen Kommando, das mit dem Auffinden des Gesuchten rechnet, möglich sein, die eigenen Truppen mit genauen Anweisungen zu versehen. Peinlich, dass solche schwerwiegenden Verfehlungen gerade dort passieren, wo der Westen militärisch eingegriffen hat. Erinnert sei an die öffentlichen Erniedrigungen Saddam Husseins im Irak von seiner Auffindung Ende 2003 bis zu seiner Hinrichtung drei Jahre später.
Im Westen selbst wird Gaddafis gewaltsamer Tod vielorts einfach als praktische Tatsache behandelt. Erspart er Libyen und der internationalen Gemeinschaft doch eine lange juristische Prozedur, die Gaddafi - ähnlich wie Slobodan Miloševic und Saddam Hussein - wohl als Tribüne in eigener Sache genutzt hätte. Darüber hätte sich aber, wer selbst reinen Herzens war, keine Sorgen machen müssen. Gaddafi verantwortete ein solches Register von Verstößen gegen internationales Recht und gegen die Menschenrechte, dass der Ausgang eines Prozesses trotz möglicher rhetorischer Kaskaden keine Risiken barg. Ein solches Verfahren hätte den Libyern eine Gelegenheit verschafft, ihr künftiges Rechtsempfinden und Rechtssystem aus dem nun abgeschlossenen Kapitel der eigenen Geschichte herauszuarbeiten. Die Soldaten, die im Namen der neuen Führung die Waffe zogen, haben das verhindert. Dass der NATO-Militäreinsatz nun unmittelbar nach Gaddafis Tod beendet wird, wirft zudem ein seltsames Licht auf die Vorgeschichte. Immer wieder wurde der Einsatz damit begründet, es habe sich laut UN-Resolution 1973 vorrangig um eine Operation zum Schutz von Menschenrechten gehandelt. Es sei nicht darum gegangen, den Machthaber zu stürzen. Hier wird eine Erosion des Völkerrechts sichtbar.

Scharia und Polygamie

Trotzdem sollte sich niemand hinreißen lassen, Gaddafi zum antiimperialistischen Helden zu verklären. Ein solcher ist er trotz seiner antiwestlichen Rhetorik nie gewesen. Er gehörte vielmehr von Anfang an in die Reihe arabischer Potentaten, die nicht nur Linke im eigenen Land klein hielten und jagten, sondern auch andere Länder dabei unterstützten. 1971 arbeitete Gaddafi dem damals panarabischen Visionen zugetanen sudanesischen Machthaber al-Numeri zu. Er zwang eine aus London kommende BOAC-Maschine beim Überfliegen Libyens zur Landung in Bengasi, um den linken Gewerkschaftsführer und Präsidentschaftsanwärter Babikir el-Nur festnehmen und ausliefern zu lassen. Mit der Hinrichtung El-Nurs und des KP-Chefs Mahdschub wurde im Sudan zugleich die Verfolgung von Gewerkschaften angeheizt, die sich seither nie mehr regenerieren konnten. Die Bewegungen, die sich fortan im Sudan formierten, waren nicht mehr sozial, sondern ethnisch und religiös begründet: muslimische Fundamentalisten im Norden, die auch die Regierungsgewalt innehaben, und christliche Sezessionisten im Süden.

Dass sich auch in den derzeit revolutionären Staaten Nordafrikas mit der Demokratisierung vor allem Islamisten einen starken Einfluss sichern, ist nach der Wahl zur Verfassung gebenden Versammlung in Tunesien endgültig klar. Dennoch ist kaum anzunehmen, dass in diesem, bereits auf eine lange laizistische Phase zurückblickenden Land gleich die Scharia zum Zuge kommt.

Genau das, inklusive der Polygamie für Männer, wurde aber in Libyen vom Chef des Nationalen Übergangsrats, Mustafa Abd el-Dschalil, auf der Siegesfeier in Bengasi in Aussicht gestellt. Er selbst trägt das für Islamisten ehrenvolle Mal derer, die das Beten mit emphatischem Aufschlagen der Stirn auf den Boden der Moschee verbinden. Übergangspremier Jibril kündigte an, dass der Rat eine Verfassung ausarbeiten wolle, die den Libyern dann vorgelegt wird. Dass es eine Magna Charta geben soll, ist sicher positiv für das Land. Aber man beachte die Nuance: Eine Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung ist etwas anderes als das Votum über eine Verfassung, die ein Übergangsrat fabriziert hat. Der Slogan "Sie wollen leben wie wir", mit dem im Westen für die notfalls auch militärische Unterstützung der arabischen Revolutionen geworben wird, kann sich also nicht so bald erfüllen.

Quelle: der FREITAG   vom 28.10.2011. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

29. Oktober 2011

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